Die letzte Zuflucht
Wird US-Präsident Bush nach dem Putsch in Pakistan, einem weiteren Misserfolg seiner Politik, der Versuchung widerstehen, den Iran anzugreifen?
Israel ist wie eine Insel im globalen Meer. Wir leben in einer Seifenblase. In der vergangenen Woche ist mir dies wieder sehr klar geworden. Ich kam aus Deutschland zurück. Am Vorabend des Rückfluges berichteten alle Fernsehnetzwerke von CNN und BBC bis zu den deutschen Kanälen über das Geschehen in Pakistan. Im Flugzeug öffnete ich Israels größte Boulevardzeitung, Yedioth Aharonot, um etwas über den pakistanischen Putsch zu lesen. Auf Seite 1 fand ich nicht die geringste Erwähnung. Auch nicht auf Seite 2. Auf Seite 27 fand ich einen kleinen Artikel. Die ersten Seiten waren einem viel wichtigeren Vorfall gewidmet: den Protestschreien der rechten Fußball-Hooligans, als sie aufgefordert worden waren, zum Gedenken an Yitzhak Rabin aufzustehen.
Am nächsten Tag fand Yedioth einen israelischen Standpunkt, der es der Zeitung ermöglichte, Pakistan auf die erste Seite zu setzen: die Angst, die pakistanische Atombombe könne in die Hände von Osama Bin Laden fallen, der sie auf Israel zielen könnte. Halleluja, da gibt es wieder etwas, vor dem man Angst haben muss.
Aber der Putsch von Pervez Musharraf muss ernst genommen werden. Er könnte weit reichende Folgen für die Welt im allgemeinen haben – und besonders für Israel.
Das Hauptopfer ist - abgesehen von Hunderten politischer Aktivisten, die ins Gefängnis geworfen worden sind – George W. Bush.
Machiavelli sagte, für den Fürsten sei es besser, gefürchtet als geliebt zu werden. Es könnte auch gesagt werden, für den Präsidenten sei es besser, gehasst als verspottet zu werden. Und es ist Hohn und Spott, den George W. auf sich zieht. In der Vergangenheit behauptete er, es sei sein Hauptziel, der muslimischen Welt die Demokratie zu bringen, und versicherte uns, dass die Erfüllung dieses Ziels schon auf dem Wege sei. Das ist eine lächerliche Behauptung.
Was geschah tatsächlich?
- Im Irak ist ein Tyrann gestürzt worden – und Dutzende von kleinen lokalen Tyrannen haben die Macht übernommen. Das Land blutet und fällt auseinander. Die „demokratischen Wahlen“ brachten eine Regierung an die Macht, die kaum die Grüne Zone in Bagdad beherrscht, die von amerikanischen Soldaten abgesichert werden muss.
- In Afghanistan beherrscht ein „gewählter“ Präsident kaum die Hauptstadt Kabul. Im Rest des Landes haben lokale Clanführer die Kontrolle. Und die Taliban erobern langsam, aber stetig das Land zurück.
- Im Iran haben demokratische Wahlen einen hemmungslosen Politiker mit einer großen Klappe und kleinen Taten an die Macht gebracht; dessen Lieblingsbeschäftigung es ist, die amerikanischen Kreuzfahrer und das „zionistische Regime“ zu verfluchen.
- In Syrien herrscht eine stabile Diktatur, die nur deshalb weitermachen kann, weil die Syrer glauben, jede Alternative würde schlimmer sein.
- Die Türkei wird von einem religiös-islamischen Regime regiert – die Frau des Präsidenten trägt ein Kopftuch. Mehr als 10 Millionen kurdische Bürger werden unterdrückt und diskriminiert. Nicht wenige Kurden kämpfen einen Guerillakrieg. Im Rahmen dieser Kampagne gegen sie ist die türkische Armee dabei, in den benachbarten Irak einzufallen, dankbar für die Gelegenheit, das praktisch unabhängige kurdische Regime dort zu zerstören.
- Der Libanon ist von einer Demokratie so weit entfernt wie eh und je. Wirkliche demokratische Wahlen, in denen jeder Bürger - ohne konfessionelle Schranken - direkt das Parlament wählen kann, stehen nicht zur Debatte. Ein neuer Präsident müsste gewählt werden, aber das ist nahezu unmöglich. Die konfessionelle Kluft zwischen den Gruppierungen ist zu tief. In der letzten Woche führte die Hisbollah weiträumige Manöver nahe der israelischen Grenze durch. Sogar die israelische Armee war davon beeindruckt.
- In Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, den drei „moderaten“ (lies: diktatorisch und pro-amerikanischen) Ländern, gibt es eine sehr originelle Art einer Demokratie. Die politische Opposition schmachtet im Gefängnis.
- In Palästina waren unter internationaler Aufsicht untadelige Wahlen abgehalten worden, die einzigen demokratischen Wahlen in der ganzen arabischen Welt. George Bush wäre stolz auf sie gewesen sein, wenn sie - seiner Ansicht nach - nicht leider von den „Falschen“, der Hamas, gewonnen worden wären. Jetzt prophezeit der israelische Militär-Nachrichtendienst, Präsident Mahmoud Abbas, Bushs Liebling, werde unmittelbar nach der Annapolis-Konferenz stürzen, wenn diese - wie erwartet - scheitern wird.
- Und jetzt Pakistan. Es schien, als würde Bush wenigstens dort Erfolge erringen. Er hat Benazir Bhutto, einen anderen Liebling, zurück gebracht, und alles sah gut aus: ein demokratisches Regime war dabei, errichtet zu werden, der Präsident war dabei, seine Militäruniform auszuziehen und eine Koalition mit Bhutto zu bilden. Aber dann explodierte in der Nähe ihres gepanzerten Wagens eine Bombe und Dutzende wurden getötet. Der Präsidentengeneral, der nur auf solch eine Gelegenheit gelauert hatte, führte einen Staatsstreich gegen sich selbst durch, und anstelle einer moderaten Diktatur wurde eine viel härtere Diktatur eingesetzt, eine pakistanische Version des seligen Saddam Hussein.
Wie in einer Hollywoodkomödie steht George Bush da – mit einer ihm ins Gesicht geklatschten Sahnetorte. Er sieht lächerlich aus.
Kein Präsident möchte lächerlich aussehen. Gruselig – ja, dumm – ja, aber niemals lächerlich. Das mag einen direkten Einfluss auf eine Frage haben, die die ganze Welt bewegt, mich auch: Wird er den Iran angreifen?
Die Versuchung ist fast unwiderstehlich. In einem Jahr wird seine Amtsperiode zu Ende gehen. Nach acht Jahren hat er nichts vorzuweisen – außer einer ununterbrochenen Reihe von Fehlschlägen. Aber ein Mann, der (wie er selber sagt) täglich Gespräche mit Gott hält, kann nicht in dieser Weise von der Geschichtsbühne abtreten.
Er wünscht sich einigen Erfolg in Annapolis. Dort wird es aber höchstens eine nichts sagende Erklärung geben, die von den Verantwortlichen Israels und der palästinensischen Behörde unterschrieben werden wird. Es wird einige gute Fototermine geben – aber das wird die Löwen nicht befriedigen. Es ist etwas Größeres nötig, etwas, das in den Geschichtsannalen deutliche Spuren hinterlassen wird.
Was kann es Besseres geben, als die Menschheit vor der iranischen Atombombe zu retten?
In der deutschen Sprache gibt es einen Ausdruck „Flucht nach vorne“ – was soviel heißt wie: Wenn man nicht mehr weiter weiß, greife man seinen nächsten Feind an! So fiel Napoleon in Russland ein, und viele Jahre später folgte Hitler aus ähnlichen Gründen. Bush könnte den Iran angreifen.
Ich habe den Verdacht, dass die Entscheidung längst gefallen ist und dass die Vorbereitungen in vollem Gange sind. Dafür gibt es keinen Beweis, aber Bush benimmt sich so, als hätte er sich für den Krieg entschieden.
Washingtons große Propagandamaschine arbeitet rund um die Uhr, um die Grundlagen vorzubereiten. Jeder, der dagegen ist, wird überrollt. Nach den Umfragen wächst die Unterstützung der amerikanischen Öffentlichkeit von Tag zu Tag. Die Mehrheit ist jetzt schon dafür. Der neue französische Präsident benimmt sich wie ein hyperaktiver Junge, er ist schon auf den fahrenden Zug aufgesprungen und hat Tony Blair als Bushs Pudel verdrängt.
Israel soll bei diesem Spiel eine zentrale Rolle spielen
Auch hier läuft eine große Gehirnwaschmaschine auf vollen Touren. Das Außenministerium hat sich den Bemühungen angeschlossen und begann eine weltweite Kampagne, um Mohammed El-Baradei, den hoch geachteten Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, zu beschuldigen. Jeden Tag verbreiten gehorsame Medien Berichte von Korrespondenten und Kommentatoren, die nur schlecht getarnte Sprecher der Armee und der Regierung sind. Sie erzählen uns, dass schon innerhalb von anderthalb Jahren der Iran eine Atombombe haben wird. Und dies wird das Ende der Welt und Israels bedeuten. Nach einer hebräischen Redeweise muss die Medizin vor der Krankheit vorhanden sein. Deshalb: bombt, bombt, bombt!
Eine der möglichen Szenarien: Israel wird mit dem Bombardement beginnen. Die Iraner werden mit dem Abfeuern von Raketen auf Israel reagieren. Die USA werden die Aktion „Rettet Israel!“ beginnen. Welcher amerikanische Politiker wird es wagen, dem zu widerstehen? Wer ? Hillary Clinton?
Bush träumt schon wieder von einem Krieg ohne amerikanische Opfer. Ein „chirurgischer Schlag“. Ein Schauer von „intelligenten Bomben“ wird auf Tausende von iranischen Zielen hinabregnen – auf atomare, Regierungs-, militärische und zivile Ziele. Was für ein süßer Traum: Iran wird sich ergeben. Das Regime der Ajatollas wird zusammenbrechen. Der Sohn des verstorbenen Schah wird auf dem Thron des Vaters sitzen, der selbst auch einmal mit Hilfe amerikanischer Bajonette auf den Thron zurück kam.
Wie ich schon einmal sagte: Ich bin von diesem Szenarium nicht überzeugt. Was sich tatsächlich ereignen wird, ist die Sperrung der Meerenge von Hormuz. Durch diese Meerenge, die nach einer antiken persischen Gottheit benannt wurde, fließen 20% der Öllieferungen der Welt. Sie ist 270 km lang und an ihrer schmalsten Stelle nur 35 km breit. Ein paar Raketen und Minen genügen, um sie zu schließen. Dies wäre erträglich, wenn der Krieg einige Tage dauern würde. Doch wenn er sich über Wochen und Monate hinziehen würde, dürfte er eine ungeheure, weltweite Krise verursachen.
Und der Krieg wird tatsächlich andauern. Dann gibt es keinen anderen Ausweg, als dass große Bodentruppen zunächst die Regionen an der Meerenge erobern und dann das ganze große Land. Die USA haben aber keine verfügbaren Bodentruppen – selbst bevor amerikanische Truppen im Irak den Raketenangriffen aus dem Iran und Guerillaaktionen der Schiiten ausgesetzt sein werden, die im Irak die Mehrheit darstellen.
Das wird kein kleiner und leichter Krieg sein. Der Iran ist nicht der Irak. Der Iran ist nicht wie der Irak aus verschiedenen Völkern und Religionen zusammengesetzt; der Iran ist im Vergleich dazu beinahe homogen. Dieser Krieg wird ein Irakkrieg sein - doch 10 oder 100 Mal schlimmer.
Und wir? Wie werden wir mit diesem Krieg fertig werden?
Da die Regierung Israels und seine amerikanischen Verbündeten mit all ihrer Macht zu einem Angriff drängen, wird Israel nicht umhin können, sich an diesem Kampf zu beteiligen, wenn die Amerikaner es fordern. Zunächst wird unsere Luftwaffe eingesetzt werden, später können Bodentruppen benötigt werden.
Aber Israel selbst wird auch zum Schlachtfeld werden. Die kümmerlichen Raketen von Saddam Hussein haben damals in Tel Aviv Panik ausgelöst. Was werden iranische Raketen verursachen?
Die arabischen Regierungen werden sich gezwungen sehen, die USA zu unterstützen – mindestens mit Lippenbekenntnissen. Aber die Herzen und Seelen der arabischen Völker von Marokko bis zum Irak werden bei den Iranern sein, die sich selbst gegen Amerikaner und Israelis verteidigen. Besonders, wenn die Konferenz in Annapolis – wie erwartet – ohne positive Lösung für das palästinensische Volk zu Ende gehen wird.
Es gibt nur einen Weg, um aus diesem Krieg unversehrt herauszukommen – ihn erst gar nicht zu beginnen. Aber wie kann Bush nach all den trostlosen Fehlschlägen, die er im Irak, in Afghanistan und jetzt in Pakistan erlitten hat, überzeugt werden, der Versuchung zu widerstehen? Und wie kann Ehud Olmert überzeugt werden, der sich einen Weg wünscht, aus dem Sumpf heraus zu kommen, in dem auch er steckt?
Man hat gesagt, „Patriotismus sei die letzte Zuflucht eines Schurken“. Krieg scheint die letzte Zuflucht eines gescheiterten Politikers zu sein.
Uri Avnery ist Gründer der Friedensbewegung Gush Shalom. Der langjährige Knesset-Abgeordnete Avnery, 1923 in Beckum geboren und 1933 nach Palästina ausgewandert, gehört seit Jahrzehnten zu den profiliertesten Gestalten der israelischen Politik. Er ist durch seine kämpferisch-kritische Begleitung der offiziellen israelischen Regierungspolitik weit über die Grenzen seines Landes hinaus bekannt geworden. Für sein Engagement für den Frieden im Nahen Osten sind ihm zahlreiche Auszeichnungen zuerkannt worden.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz. Vom Verfasser autorisiert.