Die neue Wut
Dokumentarfilm über die Montagsdemonstrationsbewegung zeigt, dass diese womöglich mehr bewirkte, als man gemeinhin glaubte
Fast ein Jahr ist es her, als von Magdeburg aus die Montagsdemonstration gegen Hartz IV begannen. Bald zogen in fast allen ostdeutschen Städten immer zu Wochenbeginn Tausende durch die Straßen und forderten „Weg mit Hartz IV“. Die Aufmerksamkeit der Medien war ihnen im Sommerloch gewiss. Im Herbst allerdings ging die Montagsdemonstrationsbewegung schon ihrem Ende entgegen. Eine kurze Massenerregung ohne große Folge, schlussfolgerten viele. Nicht mal den Begriff soziale Bewegung wollten Bewegungsforscher den Montagsdemonstrationen zugestehen.
Für den Dokumentarfilmemacher Martin Kessler waren diese Proteste nicht so erfolglos. Im Gegenteil. „Sie haben mit zu den Neuwahlen und den Aufstieg der Linkspartei beigetragen und könnten die innenpolitische Situation nachhaltig verändern“, so seine These. Die wird demnächst in vielen Städten der Republik in den Kinos diskutiert werden. Dort ist Kesslers neuester Dokumentarfilm über die Montagsdemonstrationsbewegung Die neue Wut ab heute zu sehen.
Der Titel ist Programm. Zwar dienen die Proteste als Rahmen. Doch eigentlich zeigt der Film gut, wie unter den Bedingungen von Agenda 2010 der Alltag vieler Menschen härter und die Angst ums Überleben größer werden. Er zeigt die arbeitslose Frankfurterin Barbara Willmann, deren größter Wunsch es ist, wieder eine Vollzeitbeschäftigung mit entsprechender Bezahlung zu bekommen. Doch zur Zeit versucht sie sich mit einem Job in einem Altkleiderladen der Frankfurter Caritas über Wasser zu halten. Kessler begleitet sie zur Arbeitsagentur, wo ihr Antrag für das neue Arbeitslosengeld nach Hartz IV begutachtet wird. Tatsächlich hat die Sachbearbeiterin etwas zu beanstanden. Die Zinsen vom Sparbuch eines der Kinder von Frau Willmann sind nicht angegeben. Obwohl es sich um Centbeträge handelt, muss sie den Nachweis nachreichen.
Besser hätte man nicht darstellen können, was es leben unter Bedingungen von Hartz IV heißt. Dann kann man auch besser verstehen, warum so viele Menschen, die noch in festen Beschäftigungsverhältnissen leben, eine solche Angst haben, zu HartzIV-Empfängern zu werden. Im Film wird der Streik der Opel-Arbeiter im Ruhrgebiet gezeigt, der nur wenige Tage im Oktober 2004 andauerte, aber sehr große Beachtung fand. Es war die Angst vor den Verlust der Arbeitsplätze, die die Opelianer auf die Barrikaden trieb, bestätigte der Bochumer Vertrauensmann der IG-Metall Paul Fröhlich. Diese Angst verhinderte aber auch, dass die Arbeiter ihre Streikmaßnahmen ausweiteten oder gar mit der Anti-Hartz-Bewegung verbanden, wie im letzten Jahr manche hofften.
Der Film hat nicht den Anspruch, eine vollständige Chronologie der Anti-Hartz-Bewegung zu liefern. Auch die theoretischen Prämissen der unterschiedlichen Spektren der Bewegung kommen nur am Rande vor. So wird gezeigt, wie sich in der Endphase der Anti-Hartz-Proteste verschiedene linke Gruppen um die Führung stritten. Auch die Vorwürfe einer mangelnden Distanz zu Rechtsextremen, die gegen den Magdeburger Andreas Erholdt auf einer Konferenz der Hartzgegner erhoben wurden, wird zwar dokumentiert, aber die Filmemacher fragten nicht weiter nach.
Erholdt stand im Spätsommer 2004 als Mr. Montagsdemonstration für kurze Zeit im Rampenlicht, weil er die erste Demonstration angemeldet hatte. Der Film zeigt aber auch, wie es weiterging, als die Kameras vor Erholdts Wohnung abgezogen waren. Als Gründer einer Kleinstpartei, die sich für Marktwirtschaft und gegen Hartz IV ausspricht, wird er nur von wenigen Mitstreitern unterstützt. An Erholdts Beispiel könnte man auch Aufstieg und Fall der Anti-Hartz-Bewegung aufzeigen. Doch das ist nicht Kessler Anliegen.
Gysi und Lafontaine sind ebenfalls im Bild. Der Saarländer kehrte mit seiner vielbeachteten Rede vor einer Montagsdemonstration in Leipzig zurück in die politische Arena. Auch Gysi, der sich nach seinem politischen Debakel als kurzzeitiger Berliner Wirtschaftssenator zurück gezogen hatte, wurde während der Proteste wieder aktiv. Wurden hier die ersten Vorabsprachen für den Zusammenschluss der Parteien getroffen, denen die beiden Vollblutpolitiker jetzt vorstehen? Der Film legt es nahe. So kann man der Bewegung gegen Hartz IV nachträglich bescheinigen, dass sie zwar nicht Hartz IV verhindert, aber doch einiges bewirkt hat.
Die Angst vor dem sozialen Abstieg führt aber auch zur Abgrenzung und die Wut kann auch schnell in ein Ressentiment umschlagen. Auch dafür liefert der Film Beispiele. “Wir sind keine Sozialhilfeempfänger. Wir haben immer gearbeitet“, rufen Demonstranten. Und in Magdeburg verkündeten Demonstranten lautstark, dass „Gewerkschaftsbonzen“ hier nichts verloren hätten.
Schon die Diskussion nach der Vorführung des Filmes auf dem Erfurter Sozialforum zeigte, wie schmal die Grenze zum Ressentiment ist. Ein bekennender Jungsozialist wurde kräftig ausgebuhlt, weil er daraufhin wies, dass Lafontaine in der SPD vor 15 Jahren schon den Sozialabbau populär machen wollte.