Die rechtsradikalen 14 Prozent

Seite 2: Warum wählt ein klassisch links-sozialdemokratisches Klientel plötzlich Rechtsaußen?

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Aber - und das ist das eigentlich besorgniserregende - alle demokratischen Parteien haben zuletzt deutlich Wähler an die AfD verloren. Am meisten Federn lassen musste die Linkspartei. Ein Drittel ihrer traditionellen Zielgruppe aus Arbeitern und Arbeitslosen wählte bei Landtagswahlen die AfD. Das deckt sich mit einer von der FAZ in Auftrag gegebenen Allensbach-Studie, nach der sich 38 Prozent der AfD-Wähler zu denen zählen, "die zurückbleiben, während es vielen anderen in Deutschland immer besser geht".

Aber wie kann es sein, dass ein klassisch links-sozialdemokratisches Klientel plötzlich Rechtsaußen wählt? Dass man davon überrascht ist, könnte auch damit zu tun haben, dass man sich lange an falschen Grundannahmen orientierte. Der französische Soziologe und Philosoph Didier Eribon begab sich in seinem, in Frankreich bereits 2009 erschienenen Buch "Rückkehr nach Reims" auf eine Spurensuche, denn er stellte sich dieselbe Frage angesichts des Erstarkens des Front National.

Eribon wuchs selbst in ärmlichen Verhältnissen als Arbeiterkind auf. Er flüchtete bei erster Gelegenheit aus der empfundenen Enge, ging nach Paris, studierte, verleugnete seine Herkunft, für die er sich schämte, bei jeder Gelegenheit - und merkte aber zugleich, wie er, der sich als Linker versteht, die "Arbeiterklasse" idealisierte, den marxistischen Ideen der Klassenidentität nachhängend.

Ein krasser Widerspruch, der in akademischen Kreisen auch in Deutschland recht oft zu beobachten ist. Es wird der Fehler gemacht, anzunehmen, es gäbe in allen gesellschaftlichen Kreisen ein auf Fakten basierendes oder instinktiv richtig eingeordnetes Bewusstsein für die eigene Position und folglich eine durchdachte politische Haltung.

Didier Eribon spricht in dem Zusammenhang von einer Projektion eigener Annahmen auf andere. Aber es ist nur logisch, dass das nicht funktionieren kann, wenn es um Menschen geht, denen gänzlich der Bildungshintergrund, also das Fundament fehlt, um eine so gelagerte politische Selbstorientierung vorzunehmen. Stattdessen wird aus dem Bauch heraus gehandelt entweder in der Hoffnung, die eigene Wahlentscheidung brächte individuelle Vorteile - oder eben aus der Bestätigung und Kanalisierung eigener Ressentiments heraus, die meist von rechten Parteien bedient werden. "Die produzierte Meinung ist", so Didier, "nur die von einem Parteidiskurs eingefangene und geformte (…) Summe ihrer spontanen Vorurteile." Die Schuld für die eigene Misere auf noch Schwächere, in diesem Fall Ausländer, zu schieben, nennt er "die entfremdete Weltanschauung".

"Tiefsitzender Rassismus" ist ein Kernmerkmal der "weißen Arbeitermilieus und Unterschichten"

Im Deutschland des Jahres 2016 wird diese entfremdete Weltanschauung zusätzlich befeuert, wenn Menschen in einer Filterbubble rechtsradikaler Kreise etwa in sozialen Netzwerken und Blogs leben, die sämtliche nicht ins Weltbild passenden Fakten einfach als gezielte Propaganda von Regierung und "Lügenpresse" abtun. In dieser Bubble gibt es dann Menschen, die wirklich glauben, Deutschland sei kein Staat, sondern eine Firma, sei auch nicht souverän, sondern stehe unter Weisung der USA. Bloß weil sie eine Handvoll recht simpler juristischer Zusammenhänge nicht verstehen.

Hinzu kommt, dass chauvinistische, homophobe, sexistische, rassistische und nationalistische Tendenzen in den unteren Bildungsschichten weit verbreitet sind. Das wurde auch Eribon klar, als er sich erinnerte und als seine Mutter ihm gestand, den Front National gewählt zu haben, während die ganze Familie in Eribons Kindheit stur ihr Kreuz bei den Kommunisten gemacht hatte.

Als einen Auslöser macht Eribon das "Verschwinden des Klassenbegriffs" aus dem politischen Diskurs aus, sowie die "Aufkündigung der alten Allianz zwischen Arbeitern und anderen gesellschaftlichen Gruppen". Am Beispiel seiner Mutter führt Eribon allerdings auch aus, dass Wähler rechtsradikaler Parteien nicht zwangsläufig mit allen deren Positionen übereinstimmen, was nicht selten daran liegt, dass sie viele dieser Positionen gar nicht kennen. Überdeutlich wird das, wenn man sieht, dass gerade rechte Parteien die Lage von Arbeitern und Arbeitslosen noch verschlimmern würden, kämen sie in Regierungsverantwortung. An der problematischen Grundhaltung des Milieus ändert das nichts:

Hätte man aus dem, was tagtäglich in meiner Familie gesprochen wurde ein politisches Programm stricken wollen, es wäre, obwohl man hier links wählte, dem der Rechtsextremen wohl ziemlich nahe gekommen: Forderungen, Einwanderer wieder abzuschieben; 'nationales Vorrecht' auf Arbeitsplätze und Sozialleistungen.

Didier Eribon

Eribon sieht einen "tiefsitzenden Rassismus" als ein Kernmerkmal der "weißen Arbeitermilieus und Unterschichten". Daran hat sich bis heute wenig geändert, weder in Frankreich noch in Deutschland. Und wir sehen: Wer diese Ressentiments anspricht, der bekommt die Stimmen. Die Abwertung der anderen, beobachtete Eribon, führt zu einer "Aufwertung" des Selbstbilds besonders in jenen Schichten, "die permanent mit ihrer eigenen Unterlegenheit konfrontiert" sind.

Es mag im Kleinen bei individuellen Einstellungen beginnen, die in der Sozialisation begründet sind. Aber Rassismus, Vorurteile und Hass im Kleinen sind das Fundament all der Straf- und Gewalttaten, die wir seit zwei Jahren in Deutschland erleben. Der Witz bei alldem ist: Während die rechtsextreme Gewalt in unfassbarem Maße anwächst, fürchten einer Allensbach-Studie zufolge noch immer rund 79 Prozent der Deutschen, durch Geflüchtete würde die Kriminalität zunehmen - während sie zuletzt faktisch sogar gesunken ist (Asylsuchende: Bleibeperspektive und Kriminalstatistiken).

Nicht der Islam ist das große Problem in Deutschland, auch nicht die Geflüchteten. Nein, das Problem, vor dem wir alle stehen, ist rechtsradikal. Sämtliche belastbaren Zahlen sprechen dazu eine eindeutige Sprache. Diese Gefahr, die die Grundfesten von Verfassung, Demokratie und friedlichem Miteinander bedroht, ist es, der sich Politik, Rechtsstaat und Zivilgesellschaft jetzt widmen müssen. Und dazu gehört die Analyse, wie es passieren kann, dass sich derartige Haltungen auch im Jahr 2016 noch manifestieren können.

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