Die türkische Katastrophe
AKP erobert absolute Mehrheit zurück
Die Türkei hat gewählt. Schon wieder. Nachdem in Folge der Parlamentswahlen im Juni, bei denen die regierende AKP auf rund 40% abgestürzt war, keine Koalition zustande kam, konnte die Partei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in der zweiten Rune am 1. November ihre Mehrheit eindeutig zurückerobern. Alle anderen Parteien haben Stimmen eingebüßt. Der radikale Kurs der letzten Jahre wird sich fortsetzen, die Spannungen im Land zunehmen. Vor allem für kritische Medien brechen harte Zeiten an, wie sich schon in den letzten Tagen zeigte.
Die AKP holte mit fast 50% der Stimmen die absolute Mehrheit, um weiterhin alleine regieren zu können. Die sozialdemokratische CHP kam auf 26%, die rechtsnationalistische MHP rutschte unter 12%. Und die gerade erst im Juni erstmals ins Parlament eingezogene prokurdische HDP schaffte es nur mit knapper Not über die 10%-Hürde, ist aber weiterhin vertreten.
Seit dreizehn Jahren ist die AKP, die Partei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, in der Türkei an der Macht. Erdogan selbst hat eine steile Karriere hinter sich: Vom Sesamkringel-Verkäufer in Istanbuler Viertel Kasimpasa (wo er sich bis heute volksnah gibt und seinem Friseur die Treue hält) zum Politiker, zum Mitbegründer der AKP, zum Bürgermeister Istanbuls, zum Minister- und im vergangenen Jahr zum Staatspräsidenten. Laut türkischer Verfassung hat der Staatspräsident eine ähnliche Rolle inne wie in Deutschland. Er repräsentiert, unterzeichnet Gesetze, hat sich aus der Tages- und Parteipolitik allerdings herauszuhalten.
Erdogan schert sich darum nicht. Er macht Wahlkampf für seine Partei, greift die Opposition an, mischt in der Tagespolitik mit und lässt keinen Zweifel daran, wer in der Türkei das Sagen hat. Ministerpräsident Davutoglu bleibt eine blasse Figur, eine Marionette. Der gemäßigte Flügel der AKP konnte sich nicht durchsetzen. Selbst gut zwei Drittel der AKP-Wähler machten in Umfragen zuletzt die AKP und Erdogan für das Platzen der Koalitionsverhandlungen nach der Wahl im Juni verantwortlich - das gab Hoffnung auf ein Umdenken in der Bevölkerung. Erdogans erklärtes Ziel ist eine Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem, das alle Macht im Land in seinen Händen vereint. Und solange das nicht realisierbar ist, wird die Verfassung einfach ignoriert.
Die AKP hat den Türken Wohlstand und Stabilität gebracht, das ist nicht wegzureden. Aber das Wirtschaftswachstum geht einher mit einem immer weiter anwachsenden Staatsdefizit und zuletzt einer galoppierenden Inflation, die sich in den nächsten Monaten verschärfen wird. Zum Jahresanfang bekam man für einen Euro noch 2,70 Türkische Lira (TL). Heute sind es 3,30 TL, zwischenzeitlich waren es knapp 3,60 TL. Gerade für die unteren Einkommensklassen ist das verheerend.
Der Mindestlohn von 800 TL mag in der anatolischen Pampa funktionieren; in den großen Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir kann davon niemand leben. Und allein in Istanbul leben an die zwanzig Millionen Menschen, darunter gut 300.000 syrische Flüchtlinge, die großenteils perspektivlos auf den Straßen vegetieren. Kein Wunder, dass viele sich auf den Weg nach Deutschland machen. Fatal ist, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel unlängst das Flüchtlingsthema nicht mit Innen- oder Außenminister oder mit Ministerpräsident Davutoglu besprach - sondern mit Erdogan, der rein formell gar nicht zuständig ist. Das ist ein verheerendes Signal, das Akzeptanz gegenüber dessen radikalen und antidemokratischen Kurs demonstriert.
Die Aufbruchstimmung von Gezi ist Geschichte
Als im Sommer 2013 Millionen Menschen in der ganzen Türkei auf die Straße gingen, lag eine Atmosphäre der Veränderung in der Luft. Die brutale Niederschlagung des Gezi-Aufstands, für die Erdogan die Verantwortung übernahm, schien vielen Türken die Augen geöffnet zu haben. All die kleinen untereinander verfeindeten gesellschaftlichen Gruppen gingen Hand in Hand, begannen miteinander zu sprechen. Aus den Gezi-Aktivisten ging Oy ve Ötesi hervor, eine Aktivistengruppe, die auch am 1. November wieder rund 60.000 Wahlbeobachter im ganzen Land stellte, um zu kontrollieren, dass es nicht wie in den Vorjahren zu Manipulationen kommt.
Solche Gruppen arbeiten unter immensem Druck, sind ständigen Anfeindungen ausgesetzt. Den Konservativen gilt selbst die Vermutung, da könnte etwas nicht mit rechten Dingen zugehen, als Angriff. Vielfalt im demokratischen Diskurs ist ihnen fremd. Nicht zuletzt deshalb war ihnen der Ausgang der Juni-Wahl, der einen klaren Wählerauftrag zur Koalitionsbildung beinhaltete, zuwider. Koalitionen, der Zwang zum Konsens, funktioniere in der Türkei nicht, hatten sogar gemäßigte Akteure geäußert.
Die Aufbruchstimmung von Gezi ist Geschichte. Keiner denkt mehr an die acht Toten von 2013 im Kontrast zu den Hunderten Toten, die der neu aufgeflammte Konflikt zwischen Armee und PKK in den letzten Monaten brachte, im Kontrast zu den über hundert Toten der IS-Anschläge in Suruc und Ankara. Aber der Gezi-Park und der Taksim-Platz in Istanbul bleiben ein Symbol des Widerstands. Inzwischen hat Erdogan sich doch noch gerichtlich die Erlaubnis geholt, den Park abzureißen - von einem Gericht, das mit Parteifreunden besetzt ist. In Köln würde man das Klüngel nennen.
In der Türkei weiß jeder, dass die Regierung korrupt ist - wie auch alle Regierungen vor ihr. Man spricht schon nicht mehr groß drüber, ist nur noch froh, wenn für die Bevölkerung auch ein paar Krümel abfallen. Dieses Instrument wusste die AKP für sich zu nutzen. Die auf den Straßen Istanbuls oft geäußerte Theorie, Erdogan halte sich Gezi in der Hinterhand, um auf den Straßen die Lage vollends eskalieren zu lassen, sollte es ihm nützen, klingt schmerzhaft plausibel nach allem, was in den letzten Jahren geschehen ist.
Die AKP hat einen beispiellosen Feldzug gegen kritische Stimmen geführt, Journalisten inhaftiert, willkürlich Demonstrationen von der Polizei angreifen lassen, ganze Stadtviertel für Razzien abgeriegelt, eine allgemeine Atmosphäre der Angst geschaffen. Wenige Tage vor den Wahlen ließ sie die Redaktionsräume der zu Koza Ipek gehörenden Sender Kanaltürk und Bügün TV im laufenden Sendebetrieb stürmen, ebenso die der Tageszeitungen Bügün und Millet. Der Konzern steht Fetullah Gülen nahe, einst Erdogans Weggefährte, nun Rivale.
Neutral sind diese Medien nicht gewesen. Aber das rechtfertigt keineswegs den massiven Eingriff in Meinungs- und Pressefreiheit, die es bedeutet, Medien unter staatliche Aufsicht zu stellen, zu kontrollieren und zu zensieren. In keinem Land sind mehr Journalisten in Haft als in der Türkei, Twitter, Facebook und YouTube werden immer wieder zeitweise gesperrt, Medien wird verboten, über bestimmte Themen zu berichten. Und Whistleblower Fuat Avni, der bislang fast immer richtig lag, verkündete, nach der Wahl werde es einen Großangriff auf kritische Medien geben. Erdogan steht kurz davor, die ohnehin fragile Pressefreiheit im Land endgültig auszuschalten.
Teuer erkaufte Stabilität
Auf den Terror reagierte die AKP zuletzt mit der Aussage: Hättet ihr uns gewählt, gäbe es Stabilität. Ob das Argument bei den Wählern gezogen hat - vielleicht. Vielleicht waren auch andere Gründe maßgeblich. Die Türken sind wahlmüde. Sie wollen Ruhe und sichere Verhältnisse. Und gut die Hälfte traut es offenbar Erdogan zu, diese zu schaffen.
Aber selbst wenn es ihm gelingt - mit dem Krieg in Syrien, dem Konflikt mit der PKK und dem Terror des IS, den er selbst viel zu lange im eigenen Land geduldet und unterstützt hat -, dann ist diese Stabilität teuer erkauft. Es ist eine Stabilität, in der Pluralität und Konsens keinen Platz haben, in der Kritik und Meinungsfreiheit unerwünscht sind und Menschenrechte eine Nebenrolle spielen.
Die Türkei hätte die Chance zum Wandel gehabt, hätte die Regierung zwingen können, in einer Koalition das Miteinander zu lernen. Hätte die Chance zu einem demokratisch-zivilgesellschaftlichen Aufbruch gehabt. Sie hat die Chance nicht genutzt, sondern sich für einen neoosmanischen Despotismus entschieden, der die positiven Errungenschaften der letzten Jahre dem Allmachtsanspruch einer korrupten Clique opfern wird. Ob sich Deutschland und die EU mit ihrem demonstrativen Wegsehen einen Gefallen getan haben, darf bezweifelt werden...