Die unerhörte Macht des Bezeugens

In unserer digitalen Gegenwart kann sich kaum mehr jemand hinter die Behauptung flüchten, nichts wahrgenommen zu haben. Kein Dabeiseiender gewesen zu sein. Ganz im Unterschied zu den 30er- und 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts

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Wer heute wissen will, der kann wissen. Die ubiquitäre digitale Gleichzeitigkeit macht die gesamte Welt zu Zeugen erster Ordnung. Nicht bloß zu Empfängern von Wissen aus zweiter Hand.

Insbesondere negative Begebenheiten, die sich in unserer Gegenwart ereignen, müssen bezeugt werden. Denn der kulturgeschichtliche Wert des Bezeugens liegt in seinem Versprechen, dem ethischen Anspruch pro futuro gerecht zu werden. Zeugnis abzulegen bedeutet, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Auch in der globalen, in Realtime wahrnehmbaren Politik muss die Wahrheit stets aufs Neue in den Zeugenstand gerufen und unaufhörlich befragt werden.

Rezipienten werden zu Zeugen

Die digitale Gegenwart macht uns zu Zeugen, in der Art von Geheimnisträgern. Zeugen davon, dass etwa demokratische Errungenschaften in den USA mit Füßen getreten wurden und dass das politische System des Landes zu spät und nur mit größter Anstrengung in der Lage war, eine dysfunktionale Entwicklung aufzuhalten.

Millionen wurden Zeugen davon, dass die Republikanische Partei historische Schuld auf sich geladen hat, indem sie das Treiben der gegenwärtigen US-Administration beförderte, anstatt zu dessen frühzeitigem Ende beizutragen.

Wir werden zu Zeugen von im Mittelmeer geretteten und zu Tode gekommenen Flüchtenden, zu Zeugen permanenter verbaler Entgleisungen internationaler Spitzenpolitiker. Wir sind Zeugen des Einsatzes von vernichtenden, verheerenden Drohnen, etwa in Berg-Karabach oder anlässlich der vonseiten westlicher Demokratien staatlich angeordneten Tötungen. Wir sind Zeugen und Betroffene des politischen Umgangs mit einer weltweiten Pandemie.

Distanzlosigkeit ohne Betroffenheit

Durch das elektronische Übermitteln von Bildern wird die Distanz zwischen weit auseinanderliegenden Orten nahezu annulliert. Doch trotz dieses Verkleinerns von Abständen entsteht keine Nähe. Die Bilder der im Mittelmeer Untergegangenen und jene der Geretteten werden in eine erschreckende Distanzlosigkeit unserer unmittelbaren Realität gezogen. Dennoch bleiben hunderte Millionen Menschen in den Kernländern Europas und zahllose weitere tendenziell unbeteiligt. Statt betroffene Zeugen zu werden, bleiben viele nur Zuschauer dieses fortwährenden Schiffbruches in hoher Auflösung.

Dies seien "nur" übertragene Bilder, doch vor Ort, das sei nochmals etwas ganz anderes, berichten Augenzeugen. Gewiss, für die Psyche des Menschen. Doch nicht für die Erkenntnis, denn letztere entsteht immer nur als Ergebnis des je eigenen Denkens. Und aus hermeneutischer und phänomenologischer Sicht konfrontieren übertragene Bilder die Rezipienten stets mit demselben Gegenstand wie die Menschen vor Ort. Es ist sogar möglich, dass vom Schauplatz weit entfernte Personen aufgrund ihrer konkreten Lebenssituation weitaus höhere Betroffenheit aufweisen, als jene, die dem Geschehen physisch beiwohnen.

Zeugnisse wie Spuren und Fährten

Die Zeugenschaft ist ein altes Thema, das bis zu den kulturgeschichtlichen Ursprüngen zurückreicht, dorthin, wo Menschen begannen, den Umgang miteinander einzuüben und zu pflegen. Zeugnisse verweisen auf diese Anfänge, sie stellen gedachte Verbindungslinien in die Vergangenheit dar, wie Spuren und Fährten. Zeugnisse aus der Vergangenheit bringen die Dinge nicht unmittelbar in die Erscheinung, sondern sind Relationen, Bezugnahmen und besondere Arten des Verweisens. Und immer wieder begaben sich Zeugen in lebensbedrohliche Situationen, sobald sie bezeugten und auch jene Dinge offen aussprachen, die für die Mächtigen ihrer Zeit unangenehme Wahrheiten enthielten.

Wenn in der Antike unanfechtbares Wissen hinsichtlich konkreter Begebenheiten gewonnen werden sollte, suchte man zunächst nach Augenzeugen und auch nach Ohrenzeugen. Die unmittelbare leibliche Anwesenheit und das sensorische Wahrnehmen waren dafür entscheidend, dass Begebenheiten bewertbar wurden.

Wissen aus zweiter Hand

Vor dem Hintergrund der antiken Augen- und Ohrenzeugen stellte sich auch für Platon die Frage nach der Transformation von Zeugenaussagen zu Wissen. Er stellt in seinen Dialogen Theaítetos und Ménon etwas fest, das auch heute noch Gültigkeit besitzt: Mithilfe von Zeugenaussagen kann ein Richter oder Geschworener kaum zu Wissen im epistemischen Sinne gelangen, er gelangt immer nur zu einer "wahren Meinung".

Daher setzen die rhetorischen Anstrengungen - von den antiken Gerichtsreden bis zu den Anwaltsplädoyers der Gegenwart - vor allem bei der potenziellen Steuerbarkeit dieser Überzeugung an. Mithilfe eindrucksvoller Rhetorik soll ein erwünschtes Fürwahrhalten herbeigeführt werden.

Diktaturen und Zeugen-Beseitigungen

Doch auch aus der Sicht diktatorischer und totalitärer Regierungsformen aller Epochen waren Zeugen immer schon gefährlich, Ihre vollständige Abwesenheit daher das Ziel. In der bislang größten aller verbrecherisch herbeigeführten Menschheitskatastrophen, der singulären Shoah, wurde von Täterseite der Versuch eines Auslöschens von Wissen und Erinnerung unternommen. Wie in einer damnatio memoriae, einer Tilgung des Andenkens, zielte die Vernichtung von Menschen auch auf die Zeugen-Beseitigung durch die NS-Schergen. Doch die Überlebenden des Holocaust wurden zu nicht verstummenden Zeugen des unsäglichen Menschenmordens in den NS-Tötungsfabriken.

Selbst nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges endete das aus Machtstreben und anderen niedrigen Motiven betriebene Beseitigen von Zeugen nicht. Auch heute und in Zukunft verschwinden tagtäglich Menschen in den autoritären Regimen und Diktaturen Südamerikas, Afrikas und Asiens. Sie sind die in den Jahrzehnten nach Auschwitz Gefolterten und Ermordeten, die in Massengräbern Verscharrten.

Hunderttausende Menschen wurden und werden systematisch "beseitigt", damit keine ihrer Bezeugungen mehr Adressaten erreichen können. Auf dem sonnendurchfluteten südamerikanischen Kontinent werden sie Desaparecidos, die Verschwundenen genannt; sie wurden zu rückkehrlosen Zeugen gemacht. Zeugen, denen die Eigenschaft ihres bewiesenen Todes fehlte; dagegen wehrten und wehren sich deren Angehörige und Freunde verzweifelt, um die Spuren und Fährten zu den Bezeugungen der willkürlich und gewaltsam zum-Verschwinden-Gebrachten nicht zu verlieren.

Was soll mit Bezeugungen geschehen?

Welche der authentischen Zeugenaussagen werden fortan aufbewahrt? Wessen Zeugnisse werden erhalten, und wer entscheidet nach welchen Kriterien darüber, was gelöscht wird? Eine Frage von Macht, denn in der digitalen Welt können Spuren verwischt werden, indem jeder Anfang und jeder Ursprung millionenfach überschrieben wird, wie in einem unendlichen digitalen Palimpsest.

Zeugnis abzulegen, bedeutet Haltung zu beziehen. Bezeugungen zum Ausdruck zu bringen, bedeutet, sich zu engagieren und nicht pandemisch-ermattet zurückzulehnen. Nicht den Blick zu wenden, sondern heikle, prekäre Themen weiter zu diskutieren; sich kontinuierlich auf die Seite der Opfer zu stellen und Siegerattitüden zu minimieren.

Wenn da ein Herr sei und dort ein Knecht, müsse man aufseiten des Knechtes stehen; wenn dieser Knecht sich eines Tages jedoch zum neuen Herren entwickle, habe man aufseiten des neuen Knechtes zu stehen, schrieben, ausgehend von Hegels Phänomenologie des Geistes, u.a. Camus, Brecht und Sartre. Zeugnisse sind unersetzlich und unhintergehbar, denn jede Geschichte kann erst von ihrem Endpunkt aus in ihrer Totalität wahrgenommen werden.

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler. Sein neues Buch "Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen" erschien 2020 im Verlag Königshausen & Neumann.

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