Die vergebliche Suche nach der Impfwirksamkeit

Seit Ende April veröffentlicht das RKI keine Zahlen zur Impfeffizienz mehr. Auch im aktuellen Monatsbericht finden sich zur Wirksamkeit gegenüber symptomatischen Erkrankungen keine Angaben. Telepolis hat nachgefragt.

Im August 2022 sollte die Bedeutung der Impfwirksamkeit keiner weiteren Erklärung bedürfen. Gerade im Hinblick auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Impfpflicht im Gesundheitswesen und der Pflege und des Bundesverwaltungsgerichts zur Impfpflicht von Bundeswehr-Soldaten spielte die Frage der Impfeffektivität eine zentrale Rolle.

Das Bundesverfassungsgericht bestellte Gutachten von einer Reihe sachkundiger Dritter zur Frage ein. Im Dokument "Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022" ist die Frage an die sachkundigen Dritten wie folgt formuliert:

Inwiefern trifft die Annahme aktuell (noch) zu, dass sich geimpfte und genesene Personen seltener mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 infizieren und sie, wenn sie trotz Impfung infiziert werden, weniger bzw. für einen kürzeren Zeitraum infektiös sind?Bundesverfassungsgericht

Allerdings mussten die Gutachten spätestens bis zum 2. Februar eingereicht sein, sie basieren damit vermutlich auf Daten von Mitte Januar, als sich die Omikron-Welle gerade aufbaute.

Das Bundesverfassungsgericht basierte sein Urteil explizit auf der Aussage:

Die übrigen sachkundigen Dritten gehen jedoch übereinstimmend von einer weiterhin bestehenden, wenn auch gegenüber den Vorvarianten reduzierten, relevanten Impfstoffwirksamkeit aus.

Bundesverfassungsgericht

Daher lautet die Urteilsbegründung:

Dabei ist auch nicht erkennbar, dass die Impfwirksamkeit so sehr reduziert wäre, dass die Verwirklichung des mit dem angegriffenen Gesetz verfolgten Zwecks des Schutzes vulnerabler Menschen nur noch in einem derart geringen Maße gefördert würde, dass im Rahmen der Abwägung den widerstreitenden Interessen der von der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Nachweispflicht Betroffenen von Verfassungs wegen der Vorrang gebühren müsste.

Zwar ist nach wie vor fachwissenschaftlich nicht gesichert, in welchem Maße die Schutzwirkung der Impfung mit der Zeit und abhängig von weiteren Faktoren konkret abnimmt. Auch bestehen keine gesicherten Erkenntnisse zur genauen Höhe des reduzierten Transmissionsrisikos. Die bisherigen Annahmen des Gesetzgebers wurden aber auch nicht grundlegend erschüttert, so dass sein insoweit bestehender Einschätzungs- und Prognosespielraum fortbesteht.

Bundesverfassungsgericht

Ende der Daten

Ende April beendete das RKI die wöchentliche Veröffentlichung der Daten zur Impfwirksamkeit. Im Wochenbericht vom 5. Mai ist zu lesen:

Ab dem heutigen Donnerstag sind im Covid-19-Wochenbericht des RKI keine regelmäßigen Auswertungen zur Wirksamkeit der Covid-19-Impfung mehr vorgesehen; detailliertere Auswertungen werden künftig in einem separaten Bericht in größeren Intervallen erfolgen.

Wöchentlicher Lagebericht des RKI, 05.05.2022

Erst am 7. Juli, also mehr als zwei Monate später, erschien dann der Bericht Monitoring des Covid-19-Impfgeschehens in Deutschland. In der Tat ist der Bericht sehr detailliert, allerdings vermisst man eine Darstellung über die Impfwirksamkeit zur Verhinderung symptomatischer Erkrankungen, so wie dies bis Ende April in der "Tabelle 3: Impfstatus der symptomatischen Covid-19-Fälle" aufbereitet wurde. Daten zu dieser hochrelevanten Frage? Leider Fehlanzeige.

Auf der Suche

Telepolis wandte sich daher am 14. Juli an das RKI:

Wir haben noch eine Frage, die sich diesmal auf den Bericht Monitoring des Covid-19-Impfgeschehens in Deutschland bezieht:

Wir suchen nach einer exakten Angabe zur Impfeffizienz im Hinblick auf die Verhinderung einer Erkrankung. Wir finden die allgemeine Aussage: "Da die derzeit verfügbaren Impfstoffe mehrere Monate nach der Impfung eine asymptomatische Infektion oder milde Verlaufsform von Covid-19 inzwischen nur noch in geringem Maße verhindern können" (S. 10). Sie macht eine Andeutung über die anscheinend leider nur noch geringe Effizienz gegen eine Erkrankung. Ist dem so?

Das würden wir uns gerne anhand von Zahlen anschauen. Auf S. 13 werden zwar Angaben zu Impfdurchbrüchen gemacht, da aber keine Daten zu Erkrankungen von Nichtgeimpften vorgelegt werden, können wir keine Impfeffizienz ausrechnen. Die Abbildung 6 gibt uns leider keinen Aufschluss über die Impfeffizienz in der Verhinderung einer Erkrankung, sondern im Hinblick auf Hospitalisierung etc. Das Gleiche gilt auch für diese Daten.

Vergeblich suchen wir eine genaue Aufschlüsselung, wie sie im Wochenbericht üblich war: Die "Tabelle 3: Impfstatus der symptomatischen COVID-19-Fälle".

Daher lautet unsere Frage: Vergleicht man in den verschiedenen Altersgruppen die Anzahl der Erkrankungen bei Nichtgeimpften, Grundimmunisierten und (der Personen) mit Auffrischung, zu welchem Ergebnis der Impfeffizienz, also der "Verhinderung einer symptomatischen Erkrankung" kommt man für die verschiedenen Altersgruppen? Und – falls wir nichts überlesen haben sollten - aus welchem Grunde gibt es keine Aufschlüsselung mehr wie in der Tabelle 3 des Wochenberichts?

Das RKI antwortete am selben Tag an Telepolis:

Im Monatsbericht (Seite 9) steht:

"Die Effektivität gegenüber 'Covid-19 mit klinischer Symptomatik' wird aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit für eine Verzerrung der Ergebnisse nicht mehr mit Hilfe der IfSG-Meldedaten berechnet: In der Omikronwelle und bei geänderten Testpflichten ist davon auszugehen, dass sich das Testverhalten in der Bevölkerung vor allem bei milden Covid-19-Verläufen, die einen Großteil der übermittelten symptomatischen Covid-19-Fälle ausmachen, geändert hat. Dies kann zu einer Verzerrung bei der Berechnung der Impfeffektivität führen.

Stattdessen berichten wir in Kapitel 3.2 für diesen Endpunkt die Ergebnisse internationaler Studien aus einem "living systematic review", der inzwischen Ergebnisse zur Effektivität der Impfung gegenüber Infektionen verschiedener Schweregrade mit der Omikron-Variante liefert.

Da Patientinnen und Patienten bei Aufnahme in ein Krankenhaus in Deutschland weiterhin systematisch auf eine Sars-CoV-2-Infektion getestet werden, ist bei den schweren Verläufen weiterhin davon auszugehen, dass sowohl geimpfte als auch ungeimpfte Personen eine gleich hohe Wahrscheinlichkeit für eine Testung haben und damit keine relevanten Verzerrungen für diese Berechnungen vorliegen.

In Tabelle 1 sowie Abbildung 8 des Monatsberichts sind die Ergebnisse des "living systematic reviews" zur Wirksamkeit der COVID-19-Impfung gegen symptomatische Infektion dargestellt.

Diese Auskunft erschien uns nicht genau genug, daher fragte Telepolis am 18. Juli noch einmal nach.

Herzlichen Dank für Ihre umgehende Antwort!
Bitte erlauben Sie uns noch eine kurze Nachfrage:

Wie hoch ist die Gesamtanzahl der symptomatisch an Covid-19 Erkrankten in MW 20/2022 bis 23/2022? (falls möglich, bitte auf die Altersgruppen 5-11, 12-17, 18-59 und 60+ aufteilen)?

Wieviele sind hiervon ungeimpft (falls möglich, bitte auf die Altersgruppen 5-11, 12-17, 18-59 und 60+ aufteilen)?

Wieviele sind hiervon grundimmunisiert (falls möglich, bitte auf die Altersgruppen 5-11, 12-17, 18-59 und 60+ aufteilen)?

Wieviele hiervon haben eine Auffrischimpfung (falls möglich, bitte auf die Altersgruppen 5-11, 12-17, 18-59 und 60+ aufteilen)?

RKI

Das RKI antwortete wieder umgehend, noch am selben Tag, aber sehr lakonisch:

Danke für Ihre Anfrage. Hier können wir nur auf die veröffentlichten Daten im Impfbericht und im Wochenbericht verweisen.

RKI

In einer weiteren Mail wiederholte Telepolis den Wunsch nach den konkreten Daten, da diese im Wochenbericht nicht mehr zu finden sind. Doch die Antwort des RKI lautete schlicht:

Danke für Ihre erneute Mail. Hier können wir leider nicht weiterhelfen. Symptomatischen Fälle nach Impfstatus werden nicht mehr veröffentlicht, siehe hierzu auch die erste Antwort und ausführliche Begründungen im Bericht.

RKI

Auf die Wiederholung der Anfrage von Telepolis und der Bitte – zum vierten Mal – konkrete Zahlen zur Impfwirksamkeit gegen eine symptomatische Erkrankung zu nennen, blieb eine Antwort des RKI aus.

Auch eine Anfrage an das Bundesgesundheitsministerium mit der Bitte um Beurteilung des Verhaltens des RKI verlief ergebnislos. Das Ministerium wiederholte inhaltlich exakt dieselben Gründe wie das RKI. Im Klartext heißt dies: In Deutschland ist seit nunmehr mehr als drei Monaten die Impfwirksamkeit offenbar unbekannt?

Wird dies bis auf Weiteres so bleiben?

Zwei Gedanken

Die Begründung des RKI der Zurückhaltung der Daten zur Impfwirksamkeit mit einer möglichen Verzerrung (eine Erklärung, die trotz Nachfrage leider nicht näher erläutert wurde) erscheint dem Welt-Journalisten Tim Röhn nicht überzeugend. Er kommentiert:

Statistiker Daniel Haake sieht die RKI-Angaben kritisch. Zumindest in der aktuellen Pandemiephase hätten Ungeimpfte einen größeren Anreiz, sich mit Symptomen testen zu lassen, um in den Genuss des Genesenenstatus zu kommen. (…)

Darüber hinaus hält er die Argumentation der Behörde für widersprüchlich:

"Aktuell führt das RKI die Berechnung nicht mehr durch, da sich möglicherweise Ungeimpfte und Geimpfte unterschiedlich oft testen lassen. Als es jedoch im Herbst und Winter ganz offensichtlich einen Unterschied im Testverhalten gab, weil Ungeimpfte ohne ein negatives Testergebnis nicht an Veranstaltungen teilnehmen oder die Schule besuchen konnten, wurden die Zahlen trotzdem ausgewiesen."

Tim Röhn, Die Welt

Was bleibt? Ein Blick nach Großbritannien mag helfen. Dort wird weiterhin wöchentlich die Impfwirksamkeit – und grundsätzlich detaillierter als in Deuschland – aufgeschlüsselt. Bei einer zweimaligen Impfung liegt nach diesen Angaben der Schutz nach 15 Wochen bei 20 Prozent. Bei einer dreimaligen Impfung nach 15 Wochen bei 30 Prozent. Ab der 20 Woche bei unter 10 Prozent.

Ob mit solchen Werten in Deutschland die Aussage des Bundesverfassungsgerichts in der Urteilsbegründung noch Bestand hätte, ist eine offene Frage.

Der Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat sich selbst vor wenigen Tagen trotz vierter Impfung und seiner Mahnung – "Für viele mit hohen Risiken gilt: 4. Impfung oder Ansteckung" – infiziert.

Wann er seinen zweiten Booster erhalten hatte – und wie lange damit in seinem persönlichen Fall die Impfwirksamkeit angehalten hatte –, darüber wollte sein Ministerium gegenüber der Berliner Zeitung keine Auskunft geben. Natürlich wurde dies umgehend kommentiert:

Seit 1,5 Jahren werden die Bürger dazu verdonnert‚ "medizinische Angelegenheiten" ggü. irgendwelchen Türstehern, Kellnern und Zugkontrolleuren offenzulegen. Der Gesundheitsminister selbst hingegen mag solche Infos nicht herausgeben.

Tim Röhn, Die Welt

Nebelscheinwerfer

Obwohl ein Blick über den deutschen Tellerrand einen deutlichen Hinweis auf den begrenzten Schutz vor einer Infektion belegt, tappt Deutschland nun seit drei Monaten – und auf absehbare Zeit? – im Dunkeln, was den Impfschutz anbetrifft, wenn man genauer nachfragt. Parallel dazu hat sich das Paul-Ehrlich-Institut entschieden, die Daten zu Impfnebenwirkungen nur noch alle drei Monate zu veröffentlichen. Daher ist der aktuelle Stand weiterhin der 30. März.

Damit gibt es bisher auch keine offiziellen Zahlen zu den Impfnebenwirkungen bei der zweiten Auffrischungsimpfung, die der Gesundheitsminister möglichst breit einfordert – ab dem 1. Oktober kommt dem aber eine wichtige Rolle zu. Dann steht bei vielen Bürgerinnen und Bürger die Frage an, ob sie zur nächsten Auffrischungsimpfung gehen.

Im Frühjahr 2020 wurde in Deutschland davon gesprochen, dass man angesichts der unvorhersagbaren Situation nur auf Sicht fahren könne. Zweieinhalb Jahre später drängt sich leider der Eindruck auf, dass Deutschlands Verantwortliche für die Gesundheitspolitik – trotz der Schelte des Evaluierungsberichts – nicht wirklich alles unternehmen, um mithilfe möglichst solider Daten den Nebelscheinwerfer einzuschalten. Stattdessen wird eine ganz zentrale Frage im Dunkeln gelassen?