Die von FGM betroffenen oder bedrohten Frauen und Mädchen leben mitten unter uns

Das Land Berlin richtete eine Anlaufstelle für von Genitalverstümmelung Betroffene mit niedrigschwelligem Angebot ein

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Bereits im Mai 2020 registrierte die Berliner Gesundheitsbehörde die Zunahme von Patientinnen, die wegen Female Genital Mutilation (FGM, Genitalverstümmelung) behandelt werden mussten: Frauen und Mädchen mit eigenem oder familiärem Migrationshintergrund, die in ihren Herkunftsländern oder auch in Deutschland Opfer sogenannter "Beschneiderinnen" wurden.

Auf diese erschreckende Nachricht reagierte das Land mit der Einrichtung der vom Senat finanzierten "Berliner Koordinierungsstelle gegen FGM_C", die bereits im Mai ihre Arbeit aufnahm und jetzt mit drei Anlaufstellen einen niedrigschwelligen Kontakt für Betroffene ermöglichen kann.

Die Projektkoordination obliegt dem "Familienplanungszentrum BALANCE" (FPZ), mit im Boot sind außerdem das "Desert Flower Center Waldfriede" sowie die Frauenrechtsorganisation "Terre des Femmes" (TdF). Ziel des Projektes ist es einerseits, betroffene oder von FGM bedrohte Frauen und Mädchen zu beraten und medizinisch und psychologisch zu unterstützen, als auch auf breiter Ebene für das Thema zu sensibilisieren.

Die Tränen der "Wüstenblume"

Die "Desert Flower Foundation" wurde von Waris Dirie gegründet. In Somalia in eine muslimische Nomadenfamilie hineingeboren, erlebte die "Wüstenblume", so die Übersetzung von Waris, die Tortur der Infibulation, der schmerzlichsten und brutalsten Form von FGM. Als sie mit 13 verheiratet werden sollte, floh sie ganz allein zunächst nach Mogadischu, von dort aus kam sie später nach London. Dort wurde sie von einem Fotographen entdeckt und startete eine Weltkarriere als Model und Schauspielerin, u. a. als "Bondgirl" in dem Film "Der Hauch des Todes".

Ihre Prominenz nutzte sie zu einem ungewöhnlichen - und mutigen - Schritt: Bei einem Interview mit einer Journalistin der französischen Frauenzeitschrift Marie Claire erzählte sie statt über ihre Erfolge auf den Laufstegs in Mailand, New York und anderen bedeutenden Orten der Modewelt, über Champagner-Frühstücks mit anderen Weltstars und der Qual der Wahl jeden Morgen vor ihrem Kleiderschrank ihre Lebensgeschichte.

Vermutlich hörte die Journalistin zum ersten Mal von dieser grausamen Tradition, deren Opfer das Supermodel geworden war. Wie auch ihre Leserinnen und Leser. Durch dieses Interview wurde FGM zum Thema in der westlichen Welt, Waris Dirie vom Supermodel zur Sonderbotschafterin der UN. Ein Schritt, der ihr nicht leichtfiel, wie sie in vielen Interviews betonte, und der auch seine Schattenseiten mit sich brachte, an denen sie zu knabbern hatte:

"Plötzlich war ich nur noch 'die Beschnittene'", schreibt sie in ihrem Bestseller "Wüstenblume". Doch sie machte weiter, versuchte gelangweilte Politikerinnen und Politiker zu überzeugen, gründete die "Desert Flower Foundation" und schrieb mehrere Bücher. Darin machte sie u. a. publik, dass diese Tradition nicht nur im fernen Afrika praktiziert wird, sondern auch in bundesdeutschen Städten, beispielsweise Hamburg.

Auch in Europa sind Mädchen von FGM bedroht

"Beschneiderinnen", so die Bezeichnung für die Frauen, die dieses grausame Ritual an den Mädchen durchführen, werden entweder in den afrikanischen Communities rekrutiert, oder aus Afrika eingeflogen. Oder aber die Mädchen werden in die Heimatländer verbracht und sind dort den "Beschneiderinnen" schutzlos ausgeliefert. In Berlin gründete Waris Dirie eine Zweigstelle der "Desert Flower Foundation" mit der angeschlossenen Klinik "Waldfrieden". Dort werden Betroffene behandelt und teilweise werden die Genitalien rekonstruiert. Das ist allerdings nicht immer möglich, schon gar nicht, wenn sie wie bei der Infibulation komplett entfernt wurden.

TdF war eine der ersten deutschen Organisationen, die das Thema aufgriffen und viele Kampagnen dazu organisierten. Deshalb verwundert es auch nicht, dass für die träger- und fachübergreifende Koordination des Projekts seit August 2020 die ehemalige TdF-Referentin zu weiblicher Genitalverstümmelung, Dr. Idah Nabateregga, zuständig ist, wie die Organisation in einer Pressemitteilung betont. Ziel der Koordinationsstelle ist laut FPZ:

die bestehenden Angebote in Berlin zu verknüpfen und bedarfsgerecht auszubauen, Fachkräfte im Umgang mit dem Thema zu schulen sowie Aktivitäten zur Aufklärung in den Communities zu stärken. Im Sinne einer ganzheitlichen Unterstützung bietet die Koordinierungsstelle neben medizinischer Beratung und Behandlung auch psychologische Begleitung und psychosoziale Gruppenangebote für Betroffene an.

Durch Peer-to-Peer-Aktivitäten findet Aufklärungs- und Empowerment-Arbeit in den Communities statt. Dazu setzt die Koordinierungsstelle den Fokus auf die Sensibilisierung von Fachkräften und befähigt sie im Umgang mit Betroffenen. Eine Hotline bietet zudem die erste Anlaufstelle und Beratung für Betroffene und Fachkräfte und ermöglicht eine einfache und niedrigschwellige Vermittlung.


Mit drei Anlaufstellen in Berlin garantiert die Koordinierungsstelle einen niederschwelligen Erstkontakt und individuelle Begleitung ihrer Klientinnen. "Das Besondere an der Koordinierungsstelle ist die fachübergreifende Zusammenarbeit, die unterschiedliche Bedürfnisse von Betroffenen, Communities und Berufsgruppen im Kontext weiblicher Genitalbeschneidung wiederspiegelt und adressiert", so Frau Dr. Nabateregga. So möchte die Berliner Koordinierungsstelle gegen FGM_C als Pilotprojekt bundesweit einen nachhaltigen Wandel der Einstellungen und Werte gegenüber dem Thema auf allen Ebenen bewirken.

Die deutsche Ärzteschaft ist alarmiert

Zwei Nachrichten zum Thema Female Genital Mutilation (Genitalverstümmelung) gingen im Mai 2020 durch die Medien: Der Sudan kündigte an, diese Form der brutalen geschlechtsspezifischen Folter per Gesetz zu verbieten - und immer mehr Frauen, die Opfer dieser Praxis wurden, müssen deshalb in Berliner Krankenhäusern behandelt werden. Bereits 2006 befasste sich das Ärzteblatt mit dem Thema:

"Die weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) beschreibt nach einer Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) jede nichttherapeutische, zum Beispiel religiös oder kulturell begründete, teilweise oder vollständige Entfernung oder Verletzung der weiblichen äußeren Genitale.

In den meisten Regionen Afrikas spricht man dagegen von 'Beschneidung' oder davon, ob eine Frau 'offen' oder 'geschlossen' ist. Der Ausdruck 'Beschneidung' sollte kritisch verwendet werden, da er - analog zur männlichen Zirkumzision - nur die Entfernung der klitoralen Vorhaut betrifft.

Der Ausdruck 'weibliche Genitalverstümmelung' trifft die Irreversibilität und Schwere des Eingriffs besser und wird auch von den Vereinten Nationen in allen offiziellen Dokumenten gebraucht. Dennoch sollte betroffenen Patientinnen gegenüber von 'Beschneidung' gesprochen werden, um sie mit der Wortwahl nicht zusätzlich zu stigmatisieren. FGM betrifft weltweit circa 150 Millionen Frauen und Mädchen. Durch zunehmende Migration werden Ärztinnen und Ärzte auch in Deutschland vermehrt mit Patientinnen konfrontiert, die eine weibliche Genitalverstümmelung erlitten haben."

Am 20. Dezember 2012, dem "Tag der Menschenrechte", beriet die UNO-Vollversammlung zu dem Thema und erließ eine Resolution gegen FGM. Darin sprechen sich alle 194 Mitgliedsstaaten dafür aus, entsprechende Gesetze zu erlassen und deren Einhaltung streng zu überwachen. Trotzdem wird diese Form der geschlechtsspezifischen Folter auch fast 10 Jahre später noch in weiten Teilen der Welt praktiziert. Auch ein Verbot allein wird im Sudan nicht reichen, wie Kritiker befürchten.

Hunderte Millionen Mädchen und Frauen weltweit betroffen

Laut Unicef sind weltweit etwa 200 Millionen Mädchen und Frauen Opfer dieser Praxis, die in rund 30 Ländern in Afrika, aber auch in Ländern des Nahen Ostens und Asiens Tradition hat, jährlich etwa drei Millionen Mädchen, meist unter 15 Jahren.

Laut der von Waris Dirie gegründeten "Desert Flower Foundation" leben in Europa 500.000 Frauen und Mädchen, an denen ein solcher Eingriff bereits vollzogen wurde, oder die ihn noch vor sich haben. In Deutschland waren der Frauenrechtsorganisation "Terre des Femmes" (TdF) zufolge 2017 etwa 13.000 Mädchen von FGM bedroht, in Österreich sind etwa 8.000 Frauen betroffen, europaweit gibt es etwa eine halbe Million Opfer, die meisten davon in Frankreich.

Im Sudan sind laut TdF 87% aller Mädchen und Frauen zwischen 14 und 49 Jahren genitalverstümmelt. In Somalia sind es über 98 Prozent aller Frauen - über zwei Drittel davon wurden Opfer der sogenannten "Infibulation" (siehe unten).

Indonesien stellt mit mehr als 200 Millionen Muslimen den Staat mit der größten muslimischen Bevölkerung dar. Trotzdem ist Indonesien kein islamischer Staat, aber fundamental-islamische Vorschriften und Riten finden immer weitere Verbreitung: So tragen Frauen zunehmend Kopftücher, die nicht nur das Haupt bedecken, sondern fast das gesamte Gesicht verhüllen, und der barbarische Akt der weiblichen Genitalverstümmelung nimmt zu. Auch wenn dieser nicht originär muslimisch ist, geht diese Praxis häufig mit der Verbreitung des Islam einher.

In der Region Java zum Beispiel gehören 94% der Bevölkerung dem muslimischen Glauben an - 96% der dort ansässigen Familien lassen ihre Töchter beschneiden. Organisiert von der Assalaam Foundation finden an speziellen Tagen Massenbeschneidungen in Schulen oder Gebetssälen statt. Diese sind zwar grundsätzlich abzulehnen, finden aber unter wesentlich besseren hygienischen Standards statt als in Afrika.

Zumeist wird die Beschneidung bei Mädchen im Alter bis 15 Jahre vorgenommen. Die gesundheitlichen und psychischen Folgen sind laut Terre des Femmes dramatisch: ständige Entzündungen im Genitalbereich, Inkontinenz, starke Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, hohe Gefahr von HIV-Infektion. Bei der Menstruation kann das Blut nicht abfließen, bei einer Geburt ist das Leben von Mutter und Kind in Gefahr.