Die zweite deutsche Einheit

Integration: Nicht nur die Migranten stehen unter Erfolgsdruck - Interview mit Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung

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Viele Migranten sind aufgrund der Debatte rund um Sarrazins Buch enttäuscht. Einige Beobachter befürchten, dass die Migranten sich ausgegrenzt fühlen und sich jetzt erst recht abschotten werden.

Thomas Krüger: Ich glaube, das Problem in der Thematik ist, dass in dem öffentlichen und politischen Diskurs zu viel mit Sanktionen und Drohungen gearbeitet und zu wenig auf Teilhabe gesetzt wird. Im Grunde genommen waren wir in der Diskussion eigentlich schon viel weiter. Die Diskussion um Sarrazin, die Reaktionen darauf und auch die politischen Instrumentalisierungsversuche werfen uns immer wieder zurück, weil es natürlich auch in der Mehrheitsgesellschaft Unsicherheiten und Ängste gibt.

Für die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland besteht das Problem darin, mit dieser Thematik umzugehen und sich den Entwicklungen hin zu einer offenen Gesellschaft zu stellen. Die Prozesse laufen schon lange. Die politische Bildung ist aber noch nicht so lange unterwegs. Man muss sich immer vor Augen halten, dass die Bundeszentrale für politische Bildung bis 2000 einen Erlass hatte, sich mit den Angeboten an das „deutsche Volk“ zu wenden. Das kann man auch verstehen. Das hat zu tun mit dem Zweiten Weltkrieg und der Demokratieerziehung.

Aber im Jahr 2000 hat die damalige rot-grüne Bundesregierung diesen Erlass aufgehoben und uns gesagt, wir sollen uns an die „Bevölkerung Deutschlands“ wenden. Damit hat sie dezidiert auf die plurale Gesellschaft, die es ja schon lange gibt in Deutschland, reagiert.

Schneeballsystem und Coachen

Mit welchen Inhalten und Formaten der politischen Bildung kann man Migranten erreichen, so dass sie sich in Politik und Gesellschaft mehr engagieren?

Thomas Krüger: Wir haben seitdem mit vielfältigen Formaten und Angeboten agiert. In unserem Publikationsbereich versuchen wir die Fachdebatten, die sich in dem akademischen Bereich abspielen, aber auch empirisches Datenmaterial zugänglich zu machen. Jeder Hochschullehrer, der sich mit diesen Themen beschäftigt, weist mittlerweile als Standard auf unsere Angebote hin.

Darüber hinaus versuchen wir mit Netzwerkarbeit zu operieren. Eine unserer favorisierten Strategien in dem Bereich ist mit Peer-Education-Strategien zu arbeiten, wir versuchen einzelne Leute in solchen Prozessen zu coachen und dann nach dem Schneeballsystem diese Ideen weiter zu tragen. Das ist sehr stark gespeist von der Erkenntnis, dass politische Bildung ohne Partizipation überhaupt nicht zu machen ist. Im Grunde genommen ist die Aktivierung und Beteiligung schon der erste wesentliche Erkenntnisschritt, der dann im Kontext von Wissensaustausch und Vernetzung dazu führt, dass Integration in solchen Bildungsprozessen zumindest immer einer der Dimensionen und Zielstellungen sein kann.

Staatliche Propagandamaschinerie? - ein Marketing-Problem

Wie wird Ihre Arbeit von jungen Migranten wahrgenommen?

Thomas Krüger: Dazu muss man natürlich sagen, dass junge Migrantinnen und Migranten, die sehr gute Bildungsabschlüsse hinlegen, nach wie vor die Angebote der politischen Bildung nur bedingt zur Kenntnis nehmen, weil wir auch ein Marketingproblem haben. Wir haben eine Untersuchung gemacht, weil wir das mitgekriegt haben, dass wir mehrheitsgesellschaftsdominant sind.

Das große Problem ist, dass viele Leute die Bundeszentrale eher für eine staatliche Propagandamaschinerie halten, was sie natürlich nicht ist, weil sie es von ihrer Entwicklung in den letzten Jahrzehnten gar nicht sein kann und auch nicht sein will. Es ist eine überparteiliche Einrichtung, die Bildungsangebote nach dem Kontroversitätsprinzip herstellt, d.h. vor allem den Nutzenden die Möglichkeit einräumt, sich ein eigenes Urteil zu bilden und gar nicht Urteile vorgibt. Insofern ist sie geradezu wie gemacht für Leute, die ihren eigenen Weg, ihre eigene Position in der Gesellschaft finden wollen.

Bei unserer Befragung hat sich genau dieses Vorurteil bestätigt. Es gab eine große Skepsis gegenüber dieser Institution. In einem zweiten Schritt haben wir die Angebote vorgeführt, und diese Angebote sind mit den Bestnoten bewertet worden. Gleichzeitig kam die Beschwerde, wieso man davon bisher nichts gewusst habe. Das zeigt eigentlich, wo das Problem bei der ganzen Geschichte liegt, nämlich darin, dass wir in der Gesellschaft offenbar keine durchlässige Kultur haben, die auch Vertriebswege ermöglicht. Dass also Leute, die sich für bestimmte Sachen interessieren, diese tatsächlich auch nutzen und für sich erschließen können.

Sportvereine, Kultur, Fernsehen und Computerspiele

Innerhalb der heterogenen Gruppe der so genannten politikfernen bzw. bildungsfernen Bürger bilden Menschen mit Migrationshintergrund einen großen Anteil. Wie erreichen Sie diese Bevölkerungsteile?

Thomas Krüger: Ich glaube, das ist ein Spezifikum in Deutschland, gerade auch weil Deutschland sich lange nicht als Einwanderungsland verstanden hat, und weil die Einwanderungsströme ganz bestimmten Kriterien folgten. Das sagen alle Soziologen, dass wir in Deutschland mit einer Unterschichtung der Gesellschaft zu tun haben. Das hat auch ganz stark mit Zuwanderung von Migranten zu tun. Und führt natürlich dazu, dass viele dieser Leute dann als „Bildungsferne“ zu uns kommen. Man muss aber immer sagen, dass Bildungsferne genauso in der Mehrheitsgesellschaft zu finden sind.

Wir haben versucht, uns diesen Problemen zu stellen, und die doppelte Dimension in dem Bereich, nämlich einmal die sozialen Fragestellungen und die migrationsspezifischen Fragestellungen zu berücksichtigen, weil unsere Erfahrung ist, dass wir in der politischen Bildung absolut präzise sein müssen, was die Zielgruppen betrifft. Wenn wir nicht genau das Angebot auf die Zielgruppen zuschneiden, dann segelt das haarscharf an den Leuten vorbei. Deshalb ist es wichtig, sich kundig zu machen, die richtigen Multiplikatoren zu gewinnen und mit den Multiplikatoren vor allem Projekte zu entwickeln, die effizient sind.

Bei Bildungsfernen – ob in der Mehrheitsgesellschaft oder bei Migrantinnen und Migranten – spielt sich das in drei Bereichen ab: Erstens im sozialen Nahraum, d.h. man muss aus dem Elfenbeinturm einer Bundesbehörde ganz konkret in den sozialen Nahraum der Leute einsteigen, sich Partner suchen wie Sozialarbeiter, Sportlehrer und Leute, die im kulturellen Bereich unterwegs sind und die Jugendkulturen übersetzen. Da sind die für uns relevanten Ansprechpartner, mit denen wir versuchen, Projekte zu entwickeln.

Der zweite Punkt ist das Fernsehen. Fernsehen spielt eine wichtige Rolle, wenn man sich nur die Stundenaufteilung am Tag bei den entsprechenden Zielgruppen ansieht. Wir versuchen darauf zu reagieren, in dem wir bei der Entwicklung von Fernsehformaten mitwirken und Formate anregen, die politische Fragestellungen mit implizieren und enthalten.

Ein Beispiel: Wir haben mit dem von sehr vielen Leuten nicht ganz so toll gefundenen Sido kurz vor den Bundestagswahlen die Sendung 'Sido geht wählen' gemacht. Es war tatsächlich so, dass er mit 28 Jahren zum ersten Mal gewählt hat, und er versucht diesen Prozess nachvollziehbar zu machen. Das hat sehr viele Leute in diesem Bereich angesprochen. Genau das wollten wir erreichen. Wir wollten eine Kommunikation auf Augenhöhe, eine Kommunikation, die ehrlich ist, die nicht immer politisch korrekt ist, aber die die Leute aktiviert. Sie sollten sehen, dass auch sie eine Stimme haben, dass auch ihr Leben relevant ist und auch eine politische Bedeutung in der Gesellschaft hat.

Der dritte Bereich, der relevant ist, sind Computerspiele. Auch da versuchen wir mit verschiedenen Strategien das politisch lesbar zu machen. Die Bewertung von Spielen spielt da zum Beispiel eine Rolle. Da haben wir eine Webseite, die Usern, Pädagogen und Eltern beispielsweise anbietet, Spiele einzuordnen. Wir versuchen durch eine „Eltern-LAN“ Eltern und Lehrern zu zeigen, was in dem Bereich überhaupt abgeht. Sie verstehen ja ihre Kinder oftmals gar nicht. Da gibt es dann die Debatte um die Killerspiele, und jeder denkt sich, um Gottes Willen, was machen da meine Kinder nur.

Vorbilder

Was für eine Rolle spielen Vorbilder wie Feridun Zaimoglu oder Fatih Akin bei jungen Migranten?

Thomas Krüger: Die bildungsaffinen jungen Migrantinnen und Migranten sind eigentlich die geborenen Vorbilder. Bei Integration von Migrantinnen und Migranten geht es, eigentlich wie in den ganzen sozialen Debatten um die Bildung in den 1960er und 1970er Jahren, um Aufstiegsszenarien in der Gesellschaft. Junge Migranten, die einen erfolgreichen Bildungsabschluss gemacht haben, die gute Jobs bekommen, die ein Standing haben, die mittlerweile Netzwerke bilden und in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, sind klassische Vorbilder.

Über diese Vorbilder kann man sehr viel an Durchlässigkeit und auch eine Integration erzeugen, weil es sich dann zeigt, dass jemand, der Karriere macht und öffentlich wahrgenommen wird, zwar sein eigenes Leben lebt, aber eben nicht in der Parallelgesellschaft, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden einer pluralen Gesellschaft steht, provoziert, wahrgenommen wird und Impulse setzt. Das ist genau das, was die Gesellschaft braucht. Es geht nicht um Gleichmacherei, sondern es geht darum, mit Unterschieden zu leben.

Aussortiert

Wenn man sich aber einige Studien anschaut, wandern gerade die gut ausgebildeten Menschen mit Migrationshintergrund aus, weil sie im Ausland bessere Karrieremöglichkeiten sehen. Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu etwa sagt immer von sich, dass er ein deutscher Schriftsteller sei. Er wird aber oft nicht ernst genommen, wenn er dies sagt. Der Schriftsteller Maxim Biller hatte sich zum Beispiel jüngst in einem Interview darüber sogar lustig gemacht. Muss sich da nicht auch etwas in der Mehrheitsgesellschaft ändern?

Thomas Krüger: Ich glaube, dass viele Institutionen ihr altes Selbstverständnis in einer „voroffenen“ Gesellschaft automatisch reproduzieren. Das sehen sie in verschiedenen Belangen. Das Beispiel von Zaimoglu und Biller ist ja nur eins, was sich eher auf der Feuilleton-Ebene abspielt. Das, was ganz konkret läuft, ist, dass man bei Bewerbungen Benachteiligungen erfährt. Bei den Auswahlprozessen werden Leute, die einen Migrationshintergrund haben, oftmals aussortiert. Bei den Ausbildungsplätzen ist das bei den Prozessen sogar nachgewiesen, dass diese Benachteiligungen und Diskriminierungen erfolgen.

Die Selektionsprozesse in Schulen haben extrem mit Migrationshintergrund zu tun. Kinder mit Migrationshintergrund haben sechs Mal schlechtere Chancen, obwohl sie dieselben Leistungen bringen. Kinder mit Akademikerhintergrund kriegen eine Gymnasialempfehlung, während die Kinder mit Migrationshintergrund höchstens eine Realschule-Empfehlung bekommen. Es gibt keinen sachlichen Grund dafür, aber diese hegemonialen Selbstverständnisse, die gibt es in unserer Gesellschaft überall. Die Gesellschaft ist nicht durchlässig genug.

Das treibt natürlich die Leute automatisch dahin, wo sie bessere Chancen für sich sehen. Mittlerweile sieht man aber – und das ist höchste Zeit – den riesigen Fachkräftemangel in Deutschland. In Sachsen konnte man vor Kurzem lesen, dass ein Drittel der Ausbildungsplätze nicht besetzt werden konnte. Das ist das erste Mal seit 20 Jahren, sonst hatte man immer zu viele Bewerber.

Alle sind unter Erfolgsdruck beim Exportweltmeister

Ist die Gesellschaft dann nicht unbedingt angewiesen auf eine gelungene Integration?

Thomas Krüger: Ja, sie ist geradezu strukturell auf gelungene Integration angewiesen. Diese Gesellschaft hat durch die demographische Entwicklung ein fundamentales Problem bekommen. Ohne Integration wird das hier nicht mehr funktionieren. Das wirtschaftliche Niveau und Deutschlands Position als Exportweltmeister werden sonst sehr schnell der Geschichte angehören. Insofern sind eigentlich alle unter Erfolgsdruck. Die Institutionen selber müssen sich verändern. Der klassische öffentliche Dienst ist eine 'migrantenfreie Zone', wenn man es mal hart formulieren sollte. Behörden, die da einen Schritt weiter gehen, werden mit Argusaugen angeguckt. Normale Ausschreibungsbedingungen sind ja auch so formuliert, dass sich eigentlich nur der angesprochen fühlt, der der Mehrheitsgesellschaft angehört.

Die Bundeszentrale für politische Bildung hatte sich lange gefragt, wie gehen wir eigentlich mit Ost und West um. Als ich 2000 Präsident der Bundeszentrale wurde, habe ich die Anzahl der ostdeutschen Mitarbeiter verdoppelt. Das war damals ein Politikum, aber sehr schnell wurde das durch die Erfahrung und einen sachlichen Umgang mit der Thematik ein Thema, das man sehr schnell in den Griff bekommen hat. Das Problem hier ist jetzt sozusagen die „zweite deutsche Einheit“, nämlich eine Integration von denen, die schon seit Jahrzehnten hier leben und der Mehrheitsgesellschaft, die sich einfach nie als Einwanderungsgesellschaft, als offene Gesellschaft gesehen hat.

Mittlerweile arbeiten hier etliche Leute in den verschiedensten Bereichen, die einen Migrationshintergrund haben, und nach vier bis sechs Wochen sind die Teams völlig neu aufgestellt, weil einfach Erfahrungen, Netzwerke, Autorengewinnung ganz anders funktionieren und viel offener stattfinden. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt, nämlich, dass wir etwas gewinnen durch gelungene Integration, und nicht irgendwie uns in Gefahr begeben. Ich halte von dieser alarmistischen Diskussion relativ wenig. Das mag natürlich damit zusammenhängen, dass Leute in der ehemaligen DDR eine massive Transformationserfahrung haben.

Die Zahlen belegen es ja. 80 Prozent der Leute sind innerhalb eines Jahres 1990 arbeitslos geworden oder mussten ihren Job wechseln. Diese fundamentale Transformationserfahrung gilt es eigentlich heute zu verknüpfen mit mehr Offenheit und mehr Durchlässigkeit in der Gesellschaft, damit die Leute mehr Chancen bekommen.

Bildungsmöglichkeiten und Präventionsstrategien

Die Aufklärung der Jugendlichen über Ideologien wie dem Islamismus ist ein wichtige Angelegenheit. Niedersachsen plant, dass bereits an Grundschulen Präventionsprojekte durchgeführt werden sollen, und zwar vom Verfassungsschutz. Ist es nicht bedenklich, wenn der Verfassungsschutz politische Bildung betreibt? Anders gefragt: Gehört politische Bildung zu den Aufgaben von Nachrichtendiensten?

Thomas Krüger: Zunächst muss man ja sagen, dass in Niedersachsen die Landeszentrale für politische Bildung dem Erdboden gleich gemacht worden ist. Das ist vielleicht ein Grund dafür, dass der Bedarf durch andere Institutionen gesehen, erkannt und aufgegriffen wird. Insofern ist das ein hausgemachtes Problem. Wir haben eigentlich die Erfahrung gemacht, dass, was andere Institutionen betrifft, diese Debatte kaum auftritt, wenn Verantwortung eben wahrgenommen wird. Politische Bildung ist etwas, etwas sehr Besonderes in Deutschland. Es gibt eine sehr breite Infrastruktur und Träger, die sich gebildet haben, aber alles kommt eigentlich aus den 50er Jahren, also sprich der Aufarbeitung der eigenen brutalen Vergangenheit. Und das ist durch den Untergang der DDR sozusagen reproduziert und verdoppelt worden.

Eine Öffnung in breitere Themenfelder kann man eigentlich erst in den letzten zehn Jahren massiv beobachten. Der 11. September ist z.B. solch ein Datum, wo man sofort gesehen hat, dass das Ruder von vielen herum gerissen worden ist. Auf der anderen Seite muss man beim Thema Verfassungsschutz sagen, dass einer der Gründungsmythen der politischen Bildung diese Dimension von präventivem Verfassungsschutz ja auch war, nämlich wie kann man mit Bildungsmöglichkeiten und Präventionsstrategien eine Verfassung schützen, und Entwicklungen hin zu totalitären Ideologien verhindern. Das ist in den 50er Jahren im Zuge der ganzen Gründungsdebatten sehr gut nachzuweisen.

Man ist ja damals nicht zum Ergebnis gekommen, wir gründen eine NGO für diesen Bereich, die möglich unabhängig und staatsfern ist, sondern Konrad Adenauer kam auf die Idee, für die politische Bildung braucht man eine staatliche Behörde. Wir haben uns davon emanzipiert, nur präventiver Verfassungsschutz zu sein. Wir wollen in der politischen Bildung Strategien der Aktivierung und teilhabenden Bildung fördern. Es geht deutlich über präventiven Verfassungsschutz hinaus. Es zielt auf eine lebendige, plurale und offene Demokratie ab.

Der Autor Eren Güvercin betreibt ein Blog namens Grenzgängerbeatz