Digitale Selbstbefriedigung und andere "Sünden"

Lifelogging - Teil 7

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Zu Beginn von Vorträgen verspreche ich gerne, dass es am Ende noch ein wenig um Sex gehen wird. Ich weiß, das ist plump, aber es wirkt. Schließlich will ich ja, dass man mir zuhört.

Im Zeitalter der sexuellen Revolution wurde der erotische Ausschnitt des Zwischenmenschlichen im berühmten Love Lab vermessen. Gegründet wurde es von John Gottmann, der inzwischen seine Erfahrungen mit der Vermessung des Liebeslebens mehrerer tausend (Ehe-)Paare zu Bestsellern verarbeitet hat ("Die Vermessung der Liebe: Vertrauen und Betrug in Paarbeziehungen").

In seinem Love Lab wurden die Paare ausgiebig zu ihren Verhaltensweisen befragt und mit den damals modernsten technischen Hilfsmitteln beobachtet. Interviews wurden mit Videorekordern aufgezeichnet und nach einem standardisierten System analysiert. Aus Gesten und Gesichtsausdrücken versuchten speziell geschulte Wissenschaftler auf den Wahrheitsgehalt der gemachten Aussagen zu schließen. Keine leichte Aufgabe, gemessen an der Komplexität von (intimen) Beziehungen. Aber schließlich gelang es Gottmann wohl doch, prototypischen Verhaltensweisen auf die Spur zu kommen und daraus (normative) Regeln für Paarbeziehungen abzuleiten ("Die 7 Geheimnisse der glücklichen Ehe").

Heute lässt sich das Vertrauen in den Partner einfach per Human Tracking überprüfen, einer Form von Lifelogging, bei der (meist) unbemerkt Aufenthaltsorte von Personen festgestellt werden können. Mittels Telefonzellenortung, die von diversen Anbietern zur Verfügung gestellt werden (z.B. ehebruch24.de) kann "schnell und einfach" festgestellt werden, wo sich der eigene Partner befindet. Und was für Partner funktioniert, das kann auch auf die eigenen Kinder, Angestellten, Bekannten usf. angewandt werden. Der Markt für Human- und Objekt-Tracking wächst und wächst - man muss sich nur einmal auf der CeBit umschauen. Dass damit gerade das, was noch "Vertrauen" genannt wird, maßlos korrumpiert wird, scheint für viele der Kunden derartiger Dienstleister keine Rolle mehr zu spielen.

Doch zurück zur Vermessung der Liebe: Beziehungen bestehen ja nicht nur aus Misstrauen. Um die eigene sexuelle Anziehungskraft zu objektivieren, können sich überzeugte Lifelogger mittels der App Down einen "Bungability Score" errechnen lassen. Aus Nachrichten, "Gefällt mir"-Klicks und einigen nicht näher beschriebenen Faktoren errechnet die Software einen "Bumsbarkeitsindex". Wer also nicht bei den berüchtigten "Bunga-Bunga"-Partys von Silvio Berlusconi teilnehmen kann, hat so wenigstens die Chance, technisch aufzurüsten.

Auch hier kommt es zu einem für Lifelogging typischen Kategorienfehler. Aus einigen isolierten Daten und Messwerten wird auf ein übergreifendes und zudem komplexes Phänomen (hier: sexuelle Attraktivität) geschlossen. Es stimmt schon: Kennzahlen reduzieren Komplexität. Listen und Rankings dienen der Orientierung. Aber: Einzelwerte ohne (sozialen) Kontext oder auch die Summe der Daten dürfen aber nicht mit komplexen Phänomenen verwechselt werden. Vielmehr spiegeln sie die Realität immer nur unzureichend und entfalten eine eigene Agenda. Digitale Daten ermöglichen einfache Formen sozialer Vergleiche, aber sie erhöhen auch den sozialen Druck.

Es geht aber noch weiter: Weil zu den vermessbaren Aktivitäten auch Sex gehört, eröffnet sich mit der Kombination aus Google Glass und der App Glance eine völlig neue Spielart in der Vermessung der Liebe. Während sich im Love Lab die Partner noch in getrennten Räumen rein verbal zu ihrem Liebesleben befragen lassen mussten und dann mehrere Wissenschaftler die dabei gemachten Gesichtsausdrücke auf einem geteilten Bildschirm nebeneinander ansahen und analysierten, geht es mit der App Glance jetzt richtig zur Sache.

Beim Sex sieht man mit Google Glass nicht nur den Partner, sondern auch sich selbst. Jeder der beiden Partner nimmt mit einer in die Daten-Brille integrierten Kamera den Partner in seiner "Position" auf, sendet ihm das Bild, das dieser dann in seiner Daten-Brille angezeigt bekommt. "Both sides, in the same place. Change the way you experience moments. See the whole picture." Ob damit wirklich das "ganze Bild" gezeigt oder nur Sex zu einer technisch begleiteten Strampelei degradiert wird, kann diskutiert werden. Glance kann einen schmunzeln lassen oder auch kritische Kommentare provozieren, wie diesen: "Selbstbefriedigung 2.0 oder ein interessanter Gedanke?"

Auf jeden Fall scheint diese Form von Lifelogging die Phantasien von Entwicklern zu beflügeln. Um die Funktionsweise von Glance zu erläutern, entstand schon mal der "First-Ever Google Glass Porn", der sogleich zahlreiche kritische Kommentare nach sich zog.

Mir geht es bei diesen Beispielen nicht um die Skandalisierung schlüpfriger Themen, sondern um die Feststellung, dass sich der Wille zur Kontrolle auf so gut wie jeden Lebensbereich bezieht. Die Wirksamkeit von Listen, Rankings und ähnlichen differenzfeststellenden Verfahren findet ihren Widerhall immer in der Lenkung und Steuerung von Verhalten. Und davon wird die Nivellierung und Standardisierung der Liebe (bzw. des Sex’) keine Ausnahme machen. Daher zeigen diese Beispiele vielleicht deutlicher als andere, wie umfassend sich das Kontroll- und Vergleichsregime in unser Leben einschreiben wird.

Wenn ich am Ende von Vorträgen darauf zu sprechen komme, ist es schwierig, die Aufmerksamkeit des Publikums aufrecht zu erhalten. Mindestens die Hälfe fängt gleich an zu googeln, um die entsprechenden Apps zu suchen. Allein das "spricht schon Bände" (wie man im Zeitalter der Holzmedien noch gesagt hätte).

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