Dschihadisten unterbinden Wasserversorgung in Nordostsyrien
Mit der Türkei verbündete Milizen legen Trinkwasser-Pumpstation lahm; mehrere hunderttausend Personen sind betroffen. Darunter auch die Flüchtlingslager und das Lager al-Hol mit gefangenen IS-Anhängern
Schwere Vorwürfe gegen Verbündete der Türkei: Islamistische Milizen sollen eine wichtige Anlage für die Wasserversorgung in Ras al-Ain (kurdisch: Sere Kaniye) außer Betrieb gesetzt haben. Betroffen seien 460.000 Menschen, einschließlich der Bewohner von Flüchtlingslagern sowie die Lager von IS-Gefangenen, darunter das bekannteste: al-Hol mit knapp 70.000 Personen, berichtet al-Monitor.
Deren Journalistin Amberin Zaman, die gut vernetzt ist, stützt sich dabei auf Angaben der kurdischen Selbstverwaltung. Laut den ihr zugetragenen Berichten sollen die Milizen vor zwei Tagen in die "Alok"-Pumpstation eingedrungen sein und den Betrieb eingestellt haben. Techniker, angeblich Angestellte des syrischen Staates, seien verjagt worden. Den Vorwürfen fügt die al-Monitor-Journalistin hinzu, dass über die genaue Ursache des Stopps der Wasserversorgung wie auch für die türkische Rolle darin Unklarheit besteht.
Damaskus: 600.000 sind betroffen
Dagegen wird im englisch-sprachigen Bericht der kurdischen ANF-News eine türkische Verantwortung für die Erstürmung der Trinkwasseranlage "Elok" deutlich. Die Rede ist hier davon, dass die Wasserversorgung im Nordosten Syriens teilweise abgeschnitten ist.
Die syrische Nachrichtenagentur Sana hält ebenfalls die Türkei für den seit drei Tagen andauernden Stopp der Wasserversorgung über die Pumpstation "Alok" für verantwortlich, weil sie von "türkischen Söldnern" verursacht wird. Nach Angaben des zuständigen staatlichen syrischen Vertreters soll die Wasserversorgung von 600.000 Menschen in der Region Hasaka davon abhängen.
Laut al-Monitor soll die Stadt al-Hasaka wie auch Tell Tamar und der Rest der Region von der Wasserversorgung abgeschnitten sein. Namentlich genannt werden das Lager für syrische Binnenflüchtlinge Washokani, das Lager al-Arisha und al-Hol als von dieser "Sabotage" betroffen.
Alarmierende Meldungen von Störungen der Wasserversorgung über die Alok-Pumpstation gab es schon im vergangenen November, als der völkerrechtswidrige Angriff der Türkei in Nordsyrien unter dem Namen "Friedensquelle" international stark beachtet wurde. Die Türkei begann ihre Invasion Anfang Oktober 2019.
Gegenwärtig ist die Aufmerksamkeit der Berichterstattung auf andere Schwerpunkte ausgerichtet. Das Vorgehen der türkischen Besatzungsmacht im Gebiet zwischen den beiden Orten Tall Abyad (kurdisch: Gire Sipi) und Ras al-Ain (Sere Kaniye) findet derzeit sehr viel weniger öffentliche Beachtung als die Vorgänge in Idlib. Es berichten im Grunde nur kurdische Medien über das, was in den letzten drei Monaten passiert ist.
Doch gibt es freilich Zusammenhänge zwischen Idlib und der türkischen Besatzungszone weiter östlich.
Idlib: Verhandlungen zwischen Russland und der Türkei
Die werden in den Spekulationen über eine Lösung des Konflikts in Idlib zwischen den Verhandlungspartnern Russland und der Türkei deutlich. Trotz der Ultimatums-Drohungen Erdogans und den kriegerischen Auseinandersetzungen, die türkische Militärs und deren dschihadistische Verbündete in Idlib mit der syrischen Armee führten, gilt ein militärischer Konflikt, in dem sich die Türkei und Russland in Idlib gegenüberstehen, als wenig wahrscheinlich. Weil keines der beiden Länder ein starkes Interesse daran haben kann.
Letztendlich wird sich eine Lösung am Verhandlungstisch finden, so die überwiegende Einschätzung von Beobachter. Warum sollte die Türkei eine solche Auseinandersetzung mit Russland riskieren und dabei verlieren, was Erdogan die letzten Jahre in diese Beziehung investiert hat. Militärisch wäre das außerdem hochriskant. Und warum sollte Russland ein Interesse daran haben, die Türkei wieder auf die Seite der USA und der Nato zu treiben?
Mehr spricht dafür, dass die Türkei versucht, ihre syrische "Einflusszone" auszuweiten. Zum Beispiel in Kobane, wie es auch der al-Monitor-Artikel erwähnt. Für Erdogan wäre ein "Deal", der Kobane einer türkischen Aufsicht unterstellt, ein bedeutender Schritt. Es wäre ein signalstarker Etappensieg für sein zigfach angekündigtes Vorhaben, einen anti-demokratischen, anti-kurdischen Korridor - in Verstellung der Wirklichkeit als "Sicherheits- oder Pufferzone" propagiert -, entlang der türkisch-syrischen Grenze zu errichten.
Dass Erdogan damit sein angeschlagenes Image in der Türkei wieder aufmöbeln kann, ist ganz und gar nicht nebensächlich. Denn der Preis für einen entsprechenden Deal über die Ausweitung der türkischen "Sicherheitszone" ist hoch. De-facto-Verbündeter der Türkei in Idlib ist Hayat Tahrir asch-Scham, die militärisch stärkste Miliz.
Der al-Qaida-Abkömmling kann der Türkei einigen Schaden zufügen. Das ist die Kehrseite der Bilder (siehe Propagandamaterial der HTS-"Medienagentur" ebaa) dieser Tage, die HTS-Milizen beim Besteigen gepanzerter türkischer Truppentransportfahrzeuge zeigen, und der Berichte über türkische Feuerunterstützung der HTS bei Kämpfen gegen die syrische Armee oder deren Verbündeten: Wie sieht ein Deal mit Russland aus, der die Möglichkeit miteinkalkuliert, dass die Waffenbrüder der Türkei auch zu deren Gegnern werden könnten?
Welchen Spielraum hat die Türkei gegenüber Russland, das für die syrische Regierung mitverhandelt, und welchen Spielraum hat die Türkei gegenüber der Miliz, die alle anderen Milizen in Idlib dominiert, einschließlich der mit der Türkei verbündeten Milizenallianzen?
Verhandlungen zwischen der syrischen Regierung und Kurden
Parallel dazu gibt es auch Spekulationen über eine mögliche Vereinbarung, die Vertreter der kurdischen Selbstverwaltung - der große Feind Erdogans - mit der syrischen Regierung aushandeln könnten. Auch hier spielt Russland eine Vermittlerrolle. Russische Vertreter haben im Dezember Verhandlungen angestoßen, die aber, wie es heißt, stocken, weil Damaskus die Forderungen der SDF zu weit gehen.
Ob sich die Bereitschaft zu Verhandlungen durch die aktuelle Fortsetzung des türkischen Wasserkriegs ändert?
Jüngste Äußerungen von Präsident Assad haben nochmals bekräftigt, dass er kein Freund der türkischen Regierung ist. Die Gefechte der syrischen Armee in Idlib gegen Milizen, die von der Türkei unterstützt werden, sind ohnehin Beweis genug dafür, dass die syrisch-türkischen Gespräche keine Versöhnung gebracht haben.
Die Erfolge der dschihadistischen Milizen im Verbund mit dem türkischen Militär der letzten Tage, wie z.B. in Nayrab in der Nähe der Schnellstraße M4, zeigen, dass das türkische Militär ein starkes Gegenüber für die syrische Armee ist. Auch wenn der Spielraum für die Türkei gering ist - ein militärischer Sieg in Idlib ist jenseits der Spekulationen -, so wird sie doch einiges auf den Verhandlungstisch legen können. Das geht vermutlich gegen die Kurden.
Sollte die Wasserversorgung weiter nicht funktionieren, so bahnen sich größte Schwierigkeiten für die Region um Hasaka und die Lager an - und dies in einer Zeit, in der auch Ängste angesichts der Ausbreitung des Corona-Virus die Lage weiter verschärfen.