Dünne Linie zwischen Chaos und Zivilisation

Bild: Sean Lee/Unsplash

Rassistische Polizeigewalt in den USA: Was verändert Joe Bidens Präsidentschaft?

Es war von einer Art kollektiven Aufatmens die Rede, als am vergangenen Dienstag, den 20. April, der Polizist Michael Chauvin in allen drei Punkten der Anklage schuldig gesprochen und in Handschellen abgeführt wurde. Chauvin hatte sich am 25. Mai letzten Jahres mindestens sieben Minuten lang auf den Hals von George Floyd gekniet und ihn damit ermordet.

Die ausgesprochene Erleichterung der Familie von Floyd zeigt, wie tief das Misstrauen gegenüber dem amerikanischen Rechtsstaat sitzt - und das nicht zu Unrecht - blieb doch der Mord an Eric Garner, der 2014 unter ähnlichen Umständen starb, nicht nur ungesühnt, er schaffte es nicht einmal vor ein Gericht. Es ist daher verständlich, dass Eric Garner's Mutter und viele andere ein gewisses Maß an Genugtuung verspürten, als endlich ein Polizist für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wurde.

Auch Präsident Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris sprachen von Erleichterung, nicht aber von Umstrukturierung oder Änderung des Polizeiapparates. Gibt es also überhaupt einen Grund für Hoffnung auf einen Wandel im Umgang mit Polizeigewalt?

Es ist schwer, daran zu glauben, da noch während des Prozesses gegen Chauvin, nur einige Kilometer vom Gericht entfernt, der Afroamerikaner Daunte Wright während einer Verkehrskontrolle von einer Polizistin "aus Versehen" erschossen wurde, ganz zu schweigen von dem tödlichen Polizeischuss auf eine 15-jährige Afroamerikanerin, in Columbus, Ohio, nur 30 Minuten vor der Urteilsverkündung im Mordfall George Floyd.

In beiden Fällen kam es zu massiven spontanen Protesten der Bevölkerung, doch die massive systematische Polizeigewalt gegen Minderheiten, insbesondere Afroamerikanern, in den Vereinigten Staaten, hält an, auch unter der Regentschaft des demokratischen Präsidenten Joe Biden.

Seit Beginn 2015 wurden laut Washington Post mehr als 6.222 Menschen von der Polizei getötet, die meisten der so Getöteten sind weiß; im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung jedoch sind die Anteile getöteter Afroamerikaner zweimal und Amerikaner indigener Herkunft siebenmal so hoch.

Bei solch einer Regelmäßigkeit stellt sich immer wieder neu die Frage, warum die US-amerikanische Polizei eigentlich so oft exzessive Gewalt anwendet? Die Antworten darauf sind sowohl vielfältig als auch - dem Prinzip nach - wohlbekannt.

"War on Cops"

Eine gängige Erklärung lautet: Die Polizei habe einen verdammt gefährlichen Job zu machen, und ihnen sollte daher jedes Mittel erlaubt sein, sich selbst zu schützen. Jede Kritik an der Polizei wird zum "War on Cops" erklärt und ist damit indirekt für die steigende Anzahl von Gewaltverbrechen verantwortlich. Bei dieser Argumentationslinie scheint es unerheblich, ob die Polizisten am Ende Pistole oder Taser ziehen, hierbei werden sie von den Republikanern normalerweise unterstützt.

Zu einer Ausnahme von dieser Regel kam es nur während des Sturms auf das Kapitol im Januar, bei dem ein Polizist durch eine Attacke von Trump-Anhängern starb. Damals blieben die "Blue Lifes Matter"-Anhänger unter den Republikanern überraschend stumm. Der Fall ist allerdings bis heute nicht ganz geklärt. Brian Sicknick starb laut einem medizinischen Gutachten "natürlichen Todes" infolge mehrerer Schlaganfälle, inwieweit dies mit Angriffen auf ihn durch die Kapitol-Stürmer zu tun hat, ist Teil einer politischen und juristischen Auseinandersetzung.

Demokraten mehrheitlich gegen Abrüstung der Polizei

Die "Zentristen" der Demokratischen Partei wie Joe Biden reagieren auf Vorfälle meist verlässlich mit den beruhigenden Worten, es gebe auch gute Cops, und nur einige wenige Demokraten drängen auf eine Polizeireform, die ein "defunding" der Polizei fordert.

Damit sind die Demokraten auf Linie mit einem Großteil der amerikanischen Bevölkerung, die der Polizei wieder mehr Vertrauen schenkt und weniger auf einer Polizeireform beharrt. Dies gilt freilich nicht für den afroamerikanischen Teil der Partei.

Der Eindruck entsteht, als wäre vielen Amerikanern die teilweise rassistische Natur der Polizeigewalt zwar irgendwie peinlich, genau wie ihnen der letzte Präsident irgendwie peinlich war, aber im Grunde wollen sie wenig an den Voraussetzungen für solche Zwischenfälle verändern. So sind die meisten Amerikaner der Meinung, dass mehr soziale Programme in Nachbarschaften mit "hoher Gewalt" nicht durch Abrüstung der Polizei finanziert werden sollten.

Das würde immerhin die ewig wiederkehrenden Stellvertreterdebatten erklären, in denen die einen von guten und schlechten Cops sprechen, also auf menschliches Können und Versagen abstellen, während die anderen darauf beharren, die rassistische Polizeigewalt weise auf ein fehlerhaftes Polizei-System hin. Aber die Wahrheit ist, es handelt sich hier weder um Einzeltäter, die falsch handeln, noch um einen Fehler im System.

Zweck: Kontrolle der unteren sozialen Schichten

Die zwingende Antwortet lautet: Das System "Polizei" in den USA funktioniert genauso wie es soll, und erfüllt den Zweck, zu dem es geschaffen wurde: Es geht darum, die unteren sozialen Schichten durch Gewalt zu kontrollieren und an diesen Schichten haben Afroamerikaner eben einen großen Anteil.

Rassismus spielt bei dieser Funktion der Polizei eine wichtige Rolle, der Begriff reicht aber nicht aus, um das grassierende Polizeiproblem ausreichend zu beschreiben. Denn Rassismus ist nicht der Grund für die Ausbeutung und Unterdrückung marginalisierter Menschen, sondern eine Ideologie, um diese Form der Machtausübung zu begründen.

Dass in der Debatte um Polizeigewalt und die darauffolgenden Proteste vor allem Klassenfragen diskutiert werden sollten, darauf pochen sowohl afroamerikanische Akademikerinnen, wie Karen und Barbara Fields als auch die namhafte Autorin Kimberly Jones.

Denn der eigentliche Grund für die Behandlung sozial Schwächerer ist der zutiefst amerikanisch-neoliberalen Auffassung von ökonomischer Selbstverantwortung geschuldet, dem stillen Bewusstsein, dass der ökonomisch erfolgreiche amerikanische Traum nie für alle greifbar war und ist.

Dazu passt, dass die amerikanische Polizei sich selbst als, "Thin Blue Line" sieht, also als dünne Linie zwischen "Chaos und Zivilisation". Sie wird in diesem Selbstbild von einer Mehrheit der Amerikaner und beiden Parteien stillschweigend unterstützt.

Solange die meisten Amerikaner daran glauben, dass alle Freiheiten an ökonomischen Erfolg geknüpft sind, und es daher in Ordnung ist, denjenigen die Freiheit zu nehmen, denen kein solcher Erfolg vergönnt ist, werden sie auch weiterhin dabei zusehen, wie diese Teile der Bevölkerung durch Ihre Sicherheitsbehörden im Zaum gehalten werden - und gegebenenfalls sogar getötet.