Durch wilde Kurvenlandschaften "zurück zur Neuen Normalität"
Chancen und Risiken bei der angestrebten Rückkehr zur Normalität
Unstrittig ist: Die Coronakrise hat die "Normalität" zerstört, und es geht darum, sie zurückzubekommen. Vermutlich die meisten wollen ihre alte Normalität zurück, aber man sagt ihnen, sie sollten sich auf eine neue einstellen. Woran aber erkennt man eigentlich "Normalität"? Wer wird wann bestimmen: Jetzt ist alles wieder normal? Und wer wird das glauben und wer nicht?
Es scheint bei der Entwicklung der Coronakrise um Vertrauen zu gehen: vorhandenes oder fehlendes Vertrauen in die offiziellen Einschätzungen des Virus und in die Wirksamkeit der angeordneten disziplinarischen Maßnahmen. Diese Kontroverse wird sich beim Impfstoff wiederholen. Impfstoff = Normalität wieder da? Die Mehrheit vertraut, eine Minderheit nicht: Trau schau wem?
Ist es die Regierung bzw. "die Politik"? Sind es die Leitmedien? Und wem vertrauen die? Dem RKI, als Person dem Professor Drosten, allgemeiner "der" Wissenschaft. Da sind schon drei Instanzen: Wissenschaft, Medien, Politik. Offenbar beruht das Vertrauen (oder das Misstrauen) also auf einer Kopplung zwischen verschiedenen Instanzen - und es kommen weitere Instanzen dazu: "die Wirtschaft" natürlich, und die Kultur samt Bildung, nicht zu vergessen die Ökologie. Das scheint unübersichtlich, aber es läuft auf ein ganz einfaches Instrument hinaus: auf statistische Daten-Kurven.
Die Kurve als Indikator von Wahrheit
Es ist ganz einfach: Mögen die Instanzen noch so verschieden sein wie Krankenhausbetten und Skipisten - die Medien zeigen uns ein Kurve, und diese Kurve weckt Vertrauen, weil sie von wissenschaftlichen Experten aufgrund erhobener Daten fabriziert worden ist. Also blicken wir täglich auf epidemiologische Kurven: Neuinfektionen, Inzidenzen, Erkrankungen, Todesfälle. Gestritten wird über die Korrektheit der Daten und der Kurvenverläufe, nicht aber über Kurven überhaupt als Indikatoren von Wahrheit.
Und das Wichtigste: Verlust und Rückgewinn von Normalität ist an Kurven ablesbar: Übersterblichkeitsbuckel in der Kurve weg - Normalität erreicht? Da setzt die Kopplung ein. Denn mag die Impfung die Epidemiekurven auf Null fahren, längst geht es um die Kurven der Wirtschaft, und die sind noch viel wichtiger. Am 1. September 2020 zeigte Minister Altmaier uns in der Tagesschau eine Pappe mit einer Kurve: die berühmte V-Kurve eines schnellen Konjunkturaufschwungs nach einem Crash. Diese V-Kurve war noch teils eine Prognose, während aber die Aktienkurven tatsächlich schon ein V "hingelegt" hatten. Wir haben es also über die Kopplungen mit einer ausgedehnten "Kurvenlandschaft" zu tun - und diese Kurvenlandschaft insgesamt signalisiert uns Verlust der Normalität (Denormalisierung) und womöglich künftig eine "Rückkehr zur Normalität" (Normalisierung).
Da ist der Komplex der Kollektivsymbolik: Die Kurvenlandschaft wird medial symbolisch heruntergebrochen, zum Beispiel durch ein "Ampelsystem" der Risikograde. Die Maske ist zwar (hoffentlich) ein Schutzinstrument gegen das Virus, gleichzeitig aber ein Kollektivsymbol des Normalitätsverlusts, des Notstands und der Disziplin - auch des Vertrauens.
Paradox war die V-Kurve des Autos in der Krise: Der Pkw wurde zur "Maske auf Rädern". Da ist ferner der Aspekt der Atomisierung, als Grundlage einer statistisch verdateten Gesellschaft. Um Massen verdaten zu können, müssen sie in ihre einzelnen individuellen Elemente ("Atome") zerteilt werden. Auf dieser Atomisierung beruhen Normalverteilung und Normalwachstum als fundamentale Kurven in der Gesamtlandschaft. Und diese Struktur hat die Coronakrise mit extremer Radikalität verstärkt. Maske und Abstand legen die Struktur offen. In den Auto-Raves verbindet sich die Maske auf Rädern mit der Atomisierung. In den Ratgebern zum Gebrauch der masturbatorischen Lüste in der Pandemie radikalisiert sich sexuelle Atomisierung.
Grenzen des Normalen
Schließlich (am wichtigsten) erlaubt die normalismusbezogene Betrachtung der Krise auch einige belastbare Prognosen über Postcorona und "neue Normalität". Dazu dient ein Blick auf die Geschichte des statistischen Normalismus seit 1800. Die normalistischen Klaviaturen der gesellschaftlichen Regulierung der chaotischen Tendenzen des "Fortschritts", besonders der Technik und des Kapitalismus, schwanken strukturell zwischen zwei Polen.
Diese Pole kann man gut am Beispiel der Normalverteilung verdeutlichen: Diese bekannte Gaußsche Glockenkurve zeigt in ihrer "Mitte" und auf deren beiden Seiten ein mittleres "normales Spektrum". Wir kennen das von der Kurve des Einkommens bzw. Lebensstandards oder auch aus der Politik. Der Grad an Normalität nimmt in Richtung beider Extreme (oben/unten, rechts/links) ab. Mathematisch ist die Kurve stetig - plausiblerweise aber hört die Normalität in einem bestimmten Abstand von der Mitte auf. Dort liegen die Normalitätsgrenzen (die bei uns politisch der Verfassungsschutz festlegt).
Es gibt nun zwei entgegengesetzte Pole bei der Festlegung der Normalitätsgrenzen: Entweder ist die Normalzone eng - dann ist die (zweigeteilte) Anormalzone breit - oder umgekehrt ist die Normalzone breit und die Anormalzone entsprechend eng. Wir nennen diese beiden polaren normalistischen Regime Protonormalismus und flexiblen Normalismus. Die offizielle Empfehlung ausgiebiger Masturbation in der Coronakrise ist ein Beispiel für flexiblen Normalismus, wie er in den "reichen" westlichen Ländern seit etwa 1945 vorherrscht.
Hier wird es nun bezüglich der "neuen Normalität" äußerst spannend. Verlust der Normalität heißt de facto Notstand, und Notstände sind bisher immer nur protonormalistisch gemanagt worden (am extremsten in jedem Krieg und in totalitären oder autokratischen Regimen). Auch in früheren Pandemien. Ebenso haben die Ermächtigungen unter Corona (typisch die Spahnschen Anordnungen auf der Basis des mehrfach verschärften Infektionsschutzgesetzes) deutlich protonormalistischen Charakter: dominant "Verbote" - von Versammlungs- und Demonstrationsverboten bis zu Beherbergungs-, Reise-, Böller- und jüngst Ski-Verboten.
Dabei geht es nicht um eine Totalermächtigung ohne inhaltliche und zeitliche Beschränkung wie 1933, wohl aber durchaus um inhaltlich und zeitlich beschränkte Teilermächtigungen ganz wie die Brüningschen Notverordnungen 1930-1932. Nicht Hitler ist die Analogie, wohl aber Brüning. Und Brüning hat gezeigt, dass die Büchse der protonormalistischen Pandora schwer wieder zu schließen ist, wenn sie einmal auf längere Zeit geöffnet wurde.
Aktuell stehen dabei die wirtschaftlichen Kurven im Zentrum. Sie werden bislang flexibel-normalistisch gemanagt, indem die Löcher in den Kurven mit "Staatsknete" aufgefüllt werden. Damit ist aber die Schuldenkurve exponentiell wieder hochgefahren, und mehr und mehr Ökonomen und Politiker fordern Schluss damit. Dazu kommt nun eine weitere äußerst fundamentale Kurvenkopplung: die zwischen Ökonomie und Ökologie.
Es zeichnet sich in den Entscheidungseliten eine Spaltung ab: zwischen "Disruptoren" und Vertretern eines Muddling-through. "Disruption" nimmt das radikale Herunterfahren einiger Kurven (z.B. des fossilen Autos) in Kauf, um ganz auf ein neues exponentielles Wachstum um die Digitalisierung und die erneuerbare Elektroenergie zu setzen. Damit würde aber die "alte Normalität" gespalten und großenteils abgewickelt. Die Disruptoren wollen das nicht auf Dauer auf Schuldenbasis kompensieren, was die soziale Normalverteilung extrem verschiefen und tendentiell zerstören würde.
Eine solche gespaltene "Neue Normalität" könnte sich zwar symbolisch "grün" anstreichen, aber vermutlich nicht mehr flexibel-normalistisch gemanagt werden - sondern nur protonormalistisch. In diese Richtung gehen alle Tendenzen, welche die brüningartigen Notstandsregelungen der Coronakrise präventiv auf Dauer stellen möchten. Dafür mehren sich die Symptome: Obwohl alle vor "chinesischen" Zuständen warnen, ist die heimliche Sympathie für eine digitale Totalüberwachung, auf deren Basis man bestimmte Verhaltensweisen und Bevölkerungsgruppen für "anormal" erklären und sanktionieren kann, bei den "Disruptoren" unübersehbar - und das nicht nur bei der Schufa und den Krankenkassen.
So wichtig die Kritik an einzelnen Kurven ist - es geht um die gesamte normalistische Kurvenlandschaft und angesichts einer "neuen Normalität" um die Tendenzen, dass der flexible Normalismus auf die Kippe gerät und in einen neuartigen Protonormalismus umkippt. Wer das verhindern will, sollte sich normalismustheoretisch schlau machen.
Im gerade erschienenen Heft 79 "Jenseits von Corona: Welche neue Normalität?" der Zeitschrift kultuRRevolution - für angewandte Diskurstheorie wird der "Normalismus" unserer Kultur samt ihren gekoppelten Kurvenlandschaften am Beispiel der Coronakrise unter die Lupe genommen. Beiträge von Clemens Knobloch und anderen zum Problem der Experten und der Wissenschaft, von Ton Nijhuis/Anna Seidl und anderen zur medialen Darstellung, von Jürgen Link zum Normalismus.
Siehe auch Jürgen Link, Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne. Krise, New Normal, Populismus, Göttingen 2018.
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