Durchmarsch der Einverstandenen
Nach dem Sieg von Putins Partei "Geeintes Russland" bei den gestrigen Parlamentswahlen kritisieren Beobachter den Wahlverlauf
Hinter Lilia Schibanowa liegt ein anstrengender Wahltag. Den gestrigen Sonntag verbrachte die Chefin der Nichtregierungsorganisation „Golos“ in einem kleinen Versammlungsraum im Moskauer Stadtzentrum. Im „Unabhängigen Pressezentrum“ liefen die Fäden der wohl größten unabhängigen Beobachtermission zur gestrigen Parlamentswahl in Russland zusammen. „Unsere Aufgabe ist es, möglichst alle Verstöße gegen das Wahlrecht öffentlich zu machen“, sagte die 55 Jahre alte ehemalige Lehrerin zu Telepolis.
Rund 2500 ausgebildete Wahlbeobachter waren gestern für „Golos“ unterwegs. Ein jeder überwachte zehn Wahllokale. Darüber hinaus unterhielt die NGO eine kostenlose Telefon-Hotline. In einem Callcenter außerhalb Moskaus nahmen 200 Mitarbeiter den ganzen Tag Anrufe von Bürgern entgegen, die über Unregelmäßigkeiten in den Wahllokalen klagten. Insgesamt notierten die „Golos“-Aktivisten weit über 3500 Beschwerden. „Ich fühle mich schlecht, wenn so viele Leute anrufen und bitten, Rechtsverletzungen zu verhindern“, sagte Lilia Schibanowa.
Doch für solche Gefühle war am gestrigen Wahltag kein Platz. Denn an Russlands Urnen ging es um die politische Zukunft des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Weil Putin sich im kommenden März nicht noch einmal zum Staatsoberhaupt wählen lassen kann, führt er die Liste der größten kremlnahen Partei „Geeintes Russland“ an. Noch zwei Tage vor der Wahl sagte Putin in einer Fernsehansprache: „Ich bitte Sie, zur Wahl zu gehen und für ‚Geeintes Russland’ zu stimmen.“
Ein überlegener Sieg der Partei, so das Kalkül, sichert dem Noch-Präsidenten politischen Einfluss über das Ende seiner Amtszeit hinaus. Das „Geeinte Russland“ profitiert dabei von der Popularität ihres Spitzenkandidaten. Nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstitutes WZIOM unterstützen vier von fünf Russen die Politik ihres Staatschefs.
Putins Rechnung ging auf
Nach der Auszählung von über 90 Prozent der Stimmen steht fest, was politische Beobachter seit Wochen vorhersagen: Putins Rechnung ging auf. Die Partei „Geeintes Russland“ holte über 64 Prozent der Wählerstimmen, meldete die Zentrale Wahlkommission am heutigen Vormittag. Platz zwei belegen die Kommunisten unter ihrem Parteichef Gennadi Sjuganow. Sie kamen auf knapp 12 Prozent.
Darüber hinaus wird die rechtsnationalistische Partei des Politclowns Wladimir Schirinowski in der nächsten Duma sitzen. Auf sie entfielen reichlich acht Prozent der Stimmen. Ein ähnliches Ergebnis schaffte das „Gerechte Russland“ von Parteichef Sergej Mironow. Die Wahlbeteilung lag bei über 60 Prozent und war damit höher als zur letzten Dumawahl.
Der Spitzenkandidat von „Geeintes Russland“, Präsident Wladimir Putin, äußerte sich am Wahlabend nur indirekt zum Sieg seiner Partei. Er schickte den Parteichef Boris Gryslow vor. „Wir haben miteinander gesprochen“, sagte Gryslow am Wahlabend dem Fernsehsender „Westi-24“. Putin habe dem „Geeintes Russland“ zum Wahlsieg gratuliert. „Gott sei Dank, dass der Wahlkampf vorbei ist“ sagte Putin gestern, nachdem er seine Stimme abgegeben hatte. Die Moskauer Tageszeitung „Iswestija“ bezeichnete die Wahl als einen „Marsch der Einverstandenen“.
Unfairer Wahlkampf
Die Putin-Partei hat ihren Sieg indes nicht übernatürlichen Kräften zu verdanken. Der Wahlkampf der letzten Wochen verlief alles andere als fair. Die Präsidenten-Partei hatte eine ungleich bessere Ausgangsposition im Vergleich zu ihren Konkurrenten. „Der häufigste Verstoß gegen das Wahlrecht war die Nutzung von staatlichen Ressourcen zugunsten von ‚Geeintes Russland’“, heißt es in einem „Golos“-Bericht. Moskauer Tageszeitungen berichteten, Behördenleiter hätten ihre Mitarbeiter vor den Wahlen mit Disziplinarmaßnahmen gedroht, falls diese nicht für die Kremlpartei stimmten.
Nach Kräften haben auch die staatlichen und privaten Medien die Wahlkampagne von Putin und „Geeintes Russland“ unterstützt. „Die Mehrzahl der beobachteten Medien zeigte eine klare Neigung, zugunsten des Präsidenten und der regierenden Partei zu berichten“, schrieb das Moskauer „Zentrum für Journalismus in Extremsituationen“ in einem Memorandum über die Wahlberichterstattung im Fernsehen. So habe der staatliche Sender „Erster Kanal“ seine Vorwahlberichte zu knapp 60 Prozent dem Staatschef und seiner Partei gewidmet. Im Gegensatz dazu erhielten die Oppositionsparteien „Union der Rechten Kräfte“ und Jabloko zusammen nicht einmal zwei Prozent der Sendezeit.
"Das gesamte Wahlsystem vergewaltigt"
Zum Verlauf des gestrigen Wahltages gehen die Meinungen auseinander. Der Leiter der Zentralen Wahlkommission, Wladimir Tschurow, sprach von einem ruhigen Wahlverlauf und einem „Minimum an Vorfällen“. Doch Vertreter der Opposition und von „Golos“ sahen das gänzlich anders.
Die Partei „Jabloko“ meldete auf ihrer Internetseite 70 Verstöße gegen das Wahlgesetz. Auch der russische Oppositionspolitiker Garri Kasparow sprach von massiven Verstößen gegen das Wahlrecht. In einem Krankenhaus sei den Patienten für den Fall, dass sie nicht für „Geeintes Russland“ stimmten mit Abbruch der Behandlung gedroht worden. „Sie haben nicht nur die Wahl manipuliert, sondern das gesamte Wahlsystem vergewaltigt“, sagte Kasparow mit Blick auf die Staatsmacht. Kommunistenführer Gennadi Sjuganow sagte vor Journalisten: „Wir rufen dem Kreml zu: Hört auf damit, ihr Macht diese Wahlen kaputt.“
„Golos“-Chefin Lilia Schibanowa zeigte sich besorgt über den hohen Anteil an Briefwählern. „Wir glauben, dass das eine Technik ist, die Wahlbeteiligung zu erhöhen und eine bestimmte Partei zu bevorteilen“, sagte sie. Ein „Golos“-Mitarbeiter sagte, die kremlnahen Jugendorganisationen „Naschi“ und „Junge Garde“ würden ihre Mitglieder dazu anhalten, mehrere Wahllokale aufzusuchen und mehrfach für „Geeintes Russland“ zu stimmen.
Zu den Unregelmäßigkeiten, die an „Golos“ gemeldet wurden, gehörten außerdem mangelhafte Wahllisten, fehlende Wahlkabinen sowie unerlaubte Parteipropaganda. In einigen Wahllokalen wurden „Golos“-Mitarbeiter beschimpft. „Unsere Beobachter wurden als vom Westen bezahlte Spione bezeichnet“, sagte Schibanowa.
Doch die resolute Frau zeigte sich von diesem Vorwurf unbeeindruckt. „Golos“ finanziert sich zum großen Teil durch Spenden aus Europa und den USA. Aber das sei eine Abhängigkeit, gegen die sie nichts habe, sagte Schibanowa.
Im Gegenteil: Russlands Zukunft ist sehr abhängig von den demokratischen Standards Europas.