EM 2024: Das quasi eingeforderte Sommermärchen

Ball in Deutschlandfarben im Mittelkreis eines Fußballfelds

Bild: MaHa1 /Shutterstock

Zurück in die Zukunft: Wie Deutschland den Fußball instrumentalisiert, um sich neu zu erfinden. Vor dem Auftaktspiel der Nationalmannschaft: Der Beginn einer neuen Ära?

Fußball ist ein Spiel der Freiheit, der Visionen und Gefühle. Fußball macht mich glücklich.

Caesar Louis Minotti

Ungeduld, Eile, Gedrängtes, Risse, Flug: Ungeduld. Die Ungeduld drängt zur Eile, ins Gedrängte, Risse entstehen, Flug, aber auch punktuelle Extension. Es ist der natürliche Weg in die Moderne...."

Rainald Goetz, wrong

Es war einmal: Gründlich durchgecheckt steht sie da und wartet auf den Start, alles klar. Experten streiten sich um ein paar Daten, die Mannschaft hat noch ein paar Fragen.

Doch der Countdown läuft. Effektivität bestimmt das Handeln, man verlässt sich blind auf den andern. Jeder im Team weiß genau, was von ihm abhängt, jeder ist im Stress. Doch Julian Nagelsmann macht einen Scherz ...

Julian Nagelsmann, der erste sogenannte Bundestrainer des neuen Jahrtausends, dessen öffentlicher Name nicht wie Rudi, Klinsi, Jogi und Hansi und alle Wellensittiche der Republik mit Klein-i endet, und der wohl erst Europameister werden muss, um von der Bild-Zeitung auf "Bundes-Juli" umgetauft zu werden, dieser Julian Nagelsmann ist der Major Tom unserer Zeit.

Fußball als Fluxkompensator

Und ja: Es sagt sehr viel, dass ausgerechnet Peter Schillings über 40 Jahre alter Hit "Völlig losgelöst (Major Tom)" ganz offiziell zum neuen Jubelsong der deutschen Fußballnationalmannschaft erklärt wurde.

Denn genau genommen verrät sich hier schon alles: Die Sehnsucht endlich abzuheben, endlich völlig schwerelos, also undeutsch die Erdanziehungskraft zu überwinden, Blut und Boden zu überwinden und mit ihm ihnen die schnöde graue Wirklichkeit der Schafskälte im Juni 2024.

Es ist die Sehnsucht der 1980er-Jahre, die Sehnsucht, die Grenzen des Wachstums wieder hinter sich zu lassen und zurückzureisen in den Optimismus. Es ist die Sehnsucht nach einem Zurück in die Zukunft.

Natürlich auch die Sehnsucht nach einer Geschichte, die wieder in Bewegung kommt, die den starren Stillstand, die bleierne Zeit, die nicht etwa die der späten Siebziger war, sondern die der Jetztzeit ist, zu überwinden. Fußball als Zeitmaschine, Fußball als Fluxkompensator, als genau das, was wir auch in der Energiekrise brauchen: ein Booster, ein "Doppelwumms" (Olaf Scholz, Kinderpsychologe).

Fußball verkörpert die Hoffnung auf das Nicht-Nachhaltige, die Verschwendung, die Lösung aller Energiekrisen per Blitzschlag, eine Veränderung und eine Zeitverschiebung, einen Eintritt in die Ungleichzeitigkeit.

Fußball also als Epiphanie und Religion. Wie es schon vor langer Zeit Dirk Schümer in seinem nach wie vor nicht überbotenen Fußballbuch: "Gott ist rund" beschrieben hat.

Schubumkehr mit Schwererziehbaren

Ziemlich viel verlangt von dieser Nationalmannschaft, die ja mehr einem Sommercamp von Messdienern ähnelt, aufgefüllt durch ein paar Schwererziehbare, als einem Hochleistungsteam, das eine nationale Schubumkehr einleiten soll.

Sie sind gut drauf, sie freuen sich auf das Turnier, sagten sie brav und frisch geduscht bei den Pressekonferenzen dieser Woche. Aber was sollen sie denn sonst sagen!

Es bleibt das, was dem Fußball gerade alles aufgebürdet wird: Nachhaltig soll er sein, grün und klimaneutral, antirassistisch, regenbogenfarbig divers, ein Sommermärchen, die Gesellschaft zusammenführen ... Eigentlich müsste es aber vor allem darum gehen, dass die Mannschaft gut spielt.

Der Rest ist fußballfremder Diskursballast.

In jenen Tagen als das Wünschen noch geholfen hat

Wird sie das? Wird es der deutschen Nationalmannschaft gelingen, das von außen an sie herangelaberte, quasi eingeforderte, schon vorab verkündete "Sommermärchen 2.0" auch in die Tat umzusetzen?

Deutschland instrumentalisiert gerade den Fußball, um sich neu zu erfinden, um wieder zurückzukehren auf die vermeintliche Erfolgsspur, Aufbau, Aufbruch, Wirtschaftswunder. Aber wieder einmal geht es falsch herum in Deutschland. Das Ergebnis wird verkündet, bevor die Arbeit getan ist. Das Ende steht vor dem Anfang. Man zäumt den Esel vom Schwanz auf, und wundert sich dann, dass er schnell davon trabt.

In jenen Tagen, als das Wünschen noch geholfen hat, als Wirtschaft in Wunder war, mag das funktioniert haben. Aber genau genommen funktioniert bei der deutschen Fußballnationalmannschaft bereits seit gut 30 Jahren, seit dem WM-Titel von 1990 nicht mehr viel.

Zwei gute Freundschaftsspiele haben gereicht zur emotionalen Tendenzwende, um das ach so Ersehnte scheinbar schon zur Erfüllung zu bringen. Aber warten wir mal ab. Heute sind da die spezifisch deutschen Probleme dieser Nationalmannschaft immer noch komplett ungelöst.

Nehmen wir nur die Aufstellung und die Torwartfrage. "Leistungsprinzip", sagt Major Tom Nagelsmann. Aber die Statistiken für Marc-André ter Stegen sind besser, hat der Kicker vorgerechnet. Manuel Neuer patzt in Serie, Nagelsmann sagt "wir haben keine Häufung von Fehlern", um dann in der Pressekonferenz drei Fehler aufzuzählen.

"Wir haben eine Häufung von Fehlern, die für Neuer untypisch ist", sagt Marcel Reif, und "Er hat zwei, drei Mal die falsche Entscheidung getroffen."

Heute darf das nicht sein.

Es kann mit der Nagelsmann-Herrlichkeit ziemlich schnell vorbei sein

Fußball ist ein hartes und kurzfristiges Geschäft und die Lorbeeren von gestern sind am nächsten Morgen schon verwelkt. Das konnte man erst gestern erfahren, als ganz abseits vom Quartier der Nationalmannschaft eine andere Nachricht Fußballdeutschland erschütterte, selbst wenn man nicht für den BVB hält.

Den jenseits der im Augenblick täglich hereinprasselnden Transfer-Nachrichten welchen Spieler die Konkurrenz der FC Bayern sich gerade zusammengekauft – vorgestern einen aus Leverkusen, gestern einen aus Stuttgart, Hauptsache, es ist schlecht für diejenigen, die vor einem standen in der letzten Tabelle, man kennt das Rezept – jenseits davon kam gestern das Rezept vom aktuellen Dortmundbeben.

Der Trainer, der Borussia Dortmund in drei Jahren seiner Amtszeit zweimal in ein Finale geführt hatte, einmal zum DFB-Pokalsieg und einmal immerhin ins Champions-League-Finale, wohin es zuletzt der selige Jürgen Klopp vor mehr als 10 Jahren geschafft hatte und überhaupt erst zum dritten Mal in der Vereinsgeschichte, dieser Mann, der im Vorjahr bis zum letzten Tag um die Meisterschaft kämpfte und dann zwar am Schluss auch dafür verantwortlich war, dass die Mannschaft alles doch noch vergeigte, aber eben doch so nah dran war, wie auch wieder keiner außer Jürgen Klopp, dieser Mann war für den aktuellen Bundesliga-Fünften nicht mehr gut genug.

Was damit gesagt sein soll: Es kann mit der Nagelsmann-Herrlichkeit bei der deutschen Nationalmannschaft auch ziemlich schnell vorbei sein, viel schneller, als mancher sich gerade vorstellt: "'Grüßt mir meine Frau', und er verstummt, unten trauern noch die Egoisten. Major Tom denkt sich: 'Wenn die wüssten mich führt hier ein Licht durch das All. Das kennt ihr noch nicht, ich komme bald. Mir wird kalt'".

"Völlig losgelöst" ist ein Song von Tod und Sterben.

Favoriten?

Kurz mal zum Fußballerischen: Wird der ewige Geheimfavorit Belgien es doch einmal schaffen, den Erwartungen gerecht zu werden? Kaum zu glauben! Der Autor dieses Textes tut sich schwer, Favoriten zu nennen. Es geht ja nicht um das, was man sich wünscht. Anzunehmen ist, dass Frankreich gewinnt, aber das wäre zu einfach. Oder dass England gewinnt. Ein Finale von diesen beiden oder mit ukrainischer Beteiligung wäre der Worst Case.

Best Case wäre Spanien gegen Holland. Oder Italien. Oder der ewige Geheimfavorit.

Die Deutschen müssen ja nicht gleich Europameister werden, um nicht zu enttäuschen. Gute Spiele und ein Viertelfinale wäre ein guter Weg und Halbfinale wäre super.

Die Vorstellungen nicht zerstören

"Welt ist ein Synonym für Erkenntnisbedarf", schreibt Rainald Goetz. Genau das ist nicht nur der Auftrag der Literatur, sondern auch der Auftrag des Fußballs: Die scheinbar unbekannte Welt so zu erforschen, dass erst beim Hinschauen durch die vom Spiel im Zuschauer ausgelöste Vorstellung sichtbar wird.

Das erklärte 1974 das Fußballgenie Johan Cruyff nach der WM-Finalniederlage seiner Mannschaft gegen Deutschland in München: "Sie haben nicht gewonnen, wir haben verloren, aber wir waren die bessere Mannschaft. Wir haben der Welt gezeigt, dass man Spaß haben konnte."

Deshalb geht es beim Fußball gar nicht so sehr darum, wie weit eine Mannschaft kommt, und ob sie gewinnt, sondern um die von ihr erzeugte Vorstellungswelt, etwas viel Abstrakteres, auch Allgemeineres, und tatsächlich über der Sprache und der Ergebnismathematik stehendes. Das Spiel soll im Fußball vor allem eines: Nicht stören. Die Vorstellungen nicht zerstören. "Fotbal totaal"

Fußball als Befreiung

Worum es eigentlich gehen müsste, ist eine Befreiung des Fußballs. Eine Befreiung von allen Zwängen, die ihm gerade von außen aufgebürdet werden. Eine Befreiung selbst von der Pflicht, uns zu befreien.

Zu befreien vom Ukraine-Krieg, von der Klimakrise und von all den anderen schlechten Nachrichten. Fußball darf kein Moralspektakel werden, er muss das bleiben, was er immer war: ein hedonistisches Spiel. Völlig losgelöstes Spektakel, Ekstase pur, das wäre linker Fußball.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann siegen sie noch heute.