EU-Beitritt der Türkei kein Thema mehr?
Ablehnung, Resignation und Desinteresse bei Bevölkerung und Politik
Gerade erst wurde die nächste Runde der Beitrittsverhandlungen zwischen Türkei und EU von April auf Juni verschoben. Dabei haben offenbar sowohl die EU als auch die türkische Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan längst jedes Interesse verloren - und auch in der türkischen Bevölkerung ist ein EU-Beitritt alles andere als populär. Dass das Thema gerade in Deutschland noch immer die Gemüter erhitzt, entbehrt jeder Grundlage, denn tatsächlich ist es weitestgehend vom Tisch, die weiterlaufenden Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt bloße Scheinveranstaltungen.
Dabei laufen die Verhandlungen nun bereits über neun Jahre und liefern den Unionsparteien in Deutschland immer wieder zuverlässig Stoff für reflexhafte Abwehrreaktionen, um die Ressentiments ihrer Stammklientel zu bedienen - als wären es CDU und CSU, die allein über einen Beitritt zu entscheiden hätten. Dabei basiert die Ablehnung auf Gegenseitigkeit. Es ist nicht nur die AKP-Regierung, die keine ernsthaften Mühen mehr erkennen lässt, die Forderungen und Wünsche der EU-Kommission zu erfüllen, auch in der türkischen Bevölkerung ist die Beitrittsfrage wenig populär.
Dabei hatte es zuerst gut ausgesehen: im Vorfeld der Verhandlungen, die im Oktober 2005 begannen, hatte die AKP Reformen auf den Weg gebracht, die der EU entgegenkommen sollten. So sollten Menschen- und Minderheitenrechte gestärkt werden ebenso wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Tatsächlich wurde an vielen Stellschrauben gedreht, und die Lage verbesserte sich insgesamt, aber an vielen Ecken und Enden haperte es immer wieder an der konkreten Umsetzung.
So gibt es heute zwar keine systematische staatliche Folter mehr in der Türkei, gänzlich abgeschafft ist sie aber nicht. Die Schuld wird dann auf Einzelakteure bei Polizei und Geheimdiensten geschoben. Aufgrund immer wieder vorgebrachter Kritikpunkte beschloss die türkische Regierung im Jahr 2007 die Umsetzung sämtlicher Forderungen bis 2013. 2008, kurz nachdem die AKP ein erneutes Verbotsverfahren knapp überstanden hatte, wurden die Rechte religiöser Minderheiten gestärkt, auch die Rechte von Gewerkschaften sollten künftig ernster genommen werden. Mit einem aufsehenerregenden Referendum wurde im September 2010 die Verfassung geändert und das Militär faktisch entmachtet - damit erfüllte die AKP eine der Kernforderungen der EU. Das allerdings war kein erzwungenermaßen geleistetes Zugeständnis an die EU, sondern durchaus auf Erdogans Linie, denn er räumte damit die Gefahr eines verfassungsgemäßen Militärputsches gegen seine Regierung aus, die durchaus bestanden hatte.
Wenige Monate zuvor, im März 2010, hatte allerdings Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Staatsbesuch in der Türkei ihre Ablehnung gegenüber der Vollmitgliedschaft bekräftigt und die "privilegierte Partnerschaft" wieder auf den Tisch gebracht, die Österreich bereits vor Beginn der Verhandlungen schon 2004 gefordert hatte. Die türkische Regierung hatte das abgelehnt und auf dem Ziel einer Vollmitgliedschaft bestanden. Die Retourkutsche kam, als die AKP im Jahr 2011 die Verhandlungen zeitweise aussetzte, da Zypern die Ratspräsidentschaft innehatte. Zypern wird von der Türkei nicht anerkannt - ein weiterer langjähriger Zankapfel.
Aus mehreren Ländern wurde der Ruf nach einem Ende der Verhandlungen laut, und der nächste Statusbericht der EU-Kommission lieferte eine Kaskade der Kritik an den bestehenden Verhältnissen in der Türkei und listete zahlreiche noch immer nicht umgesetzte Forderungen auf.
Vielleicht war hier der Punkt erreicht, an dem die türkische Regierung ihre Bemühungen, auf den Verhandlungspartner zuzugehen, begrub. Zwar hat die AKP immer mal wieder kleinere Reformen auf den Weg gebracht und mit den zuletzt sehr konkret gewordenen Friedensverhandlungen mit den Kurden einen großen Schritt gewagt, der mit MHP und CHP kaum gangbar gewesen wäre, aber viele andere wichtige Punkte wurden nicht mehr angetastet. Im Gegenteil. Die Presse- und Meinungsfreiheit im Land befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Die Türkei ist weltweiter Spitzenreiter bei der Inhaftierung von Journalisten, weite Teile der Massenmedien werden staatlich kontrolliert. Wie im Zuge der Korruptionsaffäre publik wurde, intervenierte Ministerpräsident Erdogan mehrfach sogar persönlich bei Redaktionen und Sendern, wenn ihm die Berichterstattung nicht in den Kram passte.
Was die AKP von der Versammlungsfreiheit und dem Demonstrationsrecht hielt, zeigte sie während der Gezi-Proteste überdeutlich: Proteste wurde immer wieder gewaltsam niedergeschlagen, Tote und Schwerverletzte in Kauf genommen. Zuletzt wurde vor den Kommunalwahlen die Internetzensur verschärft, YouTube und Twitter gesperrt (Willkommen in Erdoganistan). Twitter ist inzwischen wieder zugänglich, nachdem das Verfassungsgericht eingegriffen hatte. Erdogan zeigte noch am selben Tag seine Verachtung, indem er sagte, seine Regierung müsse das Urteil zwar umsetzen, aber nicht respektieren.
Für die meisten Türken ist die EU kein wichtiges Thema
Erdogan will sich im August zum Staatspräsidenten wählen lassen, ein Blick auf die Ergebnisse der Kommunalwahl lässt befürchten, dass er damit höchstwahrscheinlich Erfolg haben wird. Klar ist: eine von Erdogan geführte Türkei wird keine Chance auf einen EU-Beitritt haben. Aber so oder so wäre die - nun utopische - Umsetzung aller Beitrittskriterien noch nicht die Garantie auf einen Beitritt gewesen.
Am Ende der Verhandlungen will die EU-Kommission, so der aktuelle Stand, noch prüfen, ob die EU in ihrer aktuellen Situation die Aufnahme eines so großen Landes überhaupt bewältigen könnte. Und dass dem weder jetzt noch in absehbarer Zukunft so ist, liegt auf der Hand. Schon allein aus ökonomischen Gründen. Mehrere EU-Mitglieder sind faktisch pleite, es kriselt an allen Ecken und Enden, und der wirtschaftliche Erfolg der Türkei bricht gerade in sich zusammen, weil ausländische Investoren reihenweise ihr Kapital abziehen und Förderungen auslaufen.
Dementsprechend mau ist auch die Unterstützung in der türkischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt. Während die Zustimmung vor rund zehn Jahren noch bei gut 73% lag, ist sie zuletzt drastisch gesunken. Laut einer Transatlantic-Trends-Studie befürworteten im Jahr 2013 nur noch 44% der Türken einen Beitritt, 34% sahen ihn sogar als negativ für die Türkei an.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen sieht man die kriselnde EU-Wirtschaft, nicht aber die eigenen Probleme. Noch immer gilt die Türkei im Land selbst als wirtschaftlich stark, auch trotz des zuletzt beträchtlichen Einbruchs der Türkischen Lira. Zum anderen haben breite Bevölkerungsschichten Probleme mit den EU-Vorgaben bzw. Angst vor Eingriffen in nationalstaatliche Angelegenheiten durch die EU. Das korrespondiert mit der großen Zustimmung zu Erdogans Ablehnungshaltung gegenüber den von ihm immer wieder beschworenen "ausländischen Mächten", die versuchen würden, "die Türkei zu schwächen". Traditionell groß ist die Zustimmung einerseits unter Kurden, andererseits in der gebildeten Mittelschicht.
"Die Türkei ist kulturell auch für Europa bedeutend", sagt die Istanbuler Lektorin und Übersetzerin Nazli Berivan Ak. "Ich persönlich glaube, dass die EU-Mitgliedschaft ein großer Schritt vorwärts wäre bei der Lösung der Probleme mit den Kurden als auch bezüglich der Beziehungen zu Zypern oder den Armeniern. Insbesondere für die Verbesserung der Menschenrechtslage könnte ein Beitritt viel bedeuten, weshalb er auch von Intellektuellen und Kulturschaffenden befürwortet wird. Aber für die meisten Menschen", wendet sie ein, "ist die EU kein wichtiges Thema, besonders heutzutage."
Und so kommt es, dass auch unter jenen, die dem Beitritt noch positiv gegenüberstehen, niemand mehr so recht daran glaubt, dass es in absehbarer Zeit so weit sein könnte. Die Stimmung schwankt zwischen Ablehnung, Resignation und Desinteresse.
Wohin orientiert sich die Türkei stattdessen?
Am 9. April stellte Erdogans Berater Yigit Bulut auch ganz offen klar, dass die türkische Regierung kein weiteres Interesse an der EU hat. Er hält Amerika für tonangebend im Westen und sieht die EU nicht mehr in einer bedeutenden Rolle, eher sei sie "eine Belastung".
Die AKP zielt offenbar auf eine komplexe Doppelstrategie, mit der sie ihre Beziehungen sowohl in westlicher als auch in östlicher Richtung ausbaut. Zum einen hält sie sich strikt an die NATO-Linie. Im Zuge des arabischen Frühlings kehrte Erdogan mehreren Despoten, zu denen er zuvor teils enge Beziehungen gepflegt hatte, den Rücken, zuletzt Assad in Syrien. Auch die Türkei unterstützt radikalislamische Gruppierungen wie die Nusra-Front und zementiert damit den Status Syriens als Failed State, im syrisch-türkischen Grenzgebiet sollen die Islamisten immer wieder Schutz finden. Zugleich gibt es aber auch Kämpfe mit radikalen Gruppen, die der Türkei jüngst mit Angriffen auf den Suleiman Shah Schrein drohten
Dass Erdogan hier zündelt und gar False-Flag-Operationen in Erwägung zieht, um die militärischen Auseinandersetzungen zu befeuern (Deutsche Politiker uneins über Konsequenzen aus False-Flag-Leak), hat erstaunlicherweise kaum Widerstand aus NATO-Kreisen erzeugt. Es steht also die Frage im Raum, ob das Vorgehen nur stillschweigend geduldet oder sogar aktiv unterstützt wird. Letzteres wäre besonders brisant für Deutschland, denn auch Soldaten der Bundeswehr sind an der türkisch-syrischen Grenze stationiert. Wie der invstigative Journalist Seymour Hersh behauptet, könnte gar der türkische Geheimdienst hinter dem Giftgaseinsatz in Syrien gestanden haben (False-Flag-Operation mit zahlreichen Toten?).
Hinzu kommt, dass die Türkei in der Ukraine-Krise zumindest scheinbar auf der Linie von NATO und EU arbeitet. Erdogan hatte sich ebenso wie Kanzlerin Merkel gegen das Krim-Referendum positioniert. Heißt das, dass Erdogan auf Konfrontationskurs zu Putin geht?
Nein, die bilateralen Beziehungen beider Länder werden vertieft, ein wirkliches Zerwürfnis beider Staaten über die Krim scheint es also keineswegs zu geben. Zugleich ist die Türkei auf ein gutes Verhältnis zu Iran bedacht und versucht immer wieder, im Atomstreit zu vermitteln. Das hat sicher einerseits damit zu tun, dass man es sich mit einem der einflussreichsten Staaten in der Region nicht verderben will, andererseits ist Iran der wichtigste Lieferant für Öl und Gas in die Türkei.
Das macht den Syrien-Konflikt besonders brisant, denn während Iran die Assad-Regierung mit Geld, Waffen und Spezialeinheiten unterstützt, um ein Erstarken von Al-Qaida im Land zu verhindern, setzt sich die Türkei für das Gegenteil ein. Nicht nur auf dieser Ebene stehen die türkisch-persischen Beziehungen auf wackeligen Füßen. Sehr gut hingegen stehen sich Ankara und Tel Aviv gegenüber, und das, obwohl Erdogan Israel mehrmals heftig aufgrund des Vorgehens in Gaza kritisierte. Beide Staaten unterhalten enge Beziehungen und militärische Kooperationen und ziehen in Syrien an einem Strang.
Was hieraus deutlich wird, ist die kühl-berechnende Machtpolitik, die auch außenpolitische Entscheidungen beeinflusst. Die AKP versucht vor allem dort zu punkten, wo sie einen militärischen, wirtschaftlichen oder geostrategischen Vorteil erwartet. Und all das kann die EU immer weniger bieten - stattdessen redet sie Erdogan in seinen Autokratismus hinein. Die Abkehr ist die logische Folge daraus. Was diese Situation gefährlich macht, ist die geografische Brückenlage der Türkei angesichts der Unsicherheit, in welche Richtung das Pendel im Laufe der nächsten Jahre ausschlagen wird.