EU-Einreisestopp für alle Russen?
Eine Initiative mehrerer EU-Staaten will die Vergabe von Schengen-Visa an Russen generell stoppen. Das trifft in der Praxis vor allem mit dem Westen verbundene Reisende und deren Privatkontakte.
Reisen zwischen Deutschland und Russland sind für Privatpersonen aktuell schon ohne Visumprobleme nicht einfach. Durch die Streichung aller direkter Flugverbindungen zwischen der EU und Russland muss man per Flugzeug Umwege über die Türkei oder Dubai in Kauf nehmen - oder man versucht den Landweg mit aktuell bis zu zwölf Stunden Wartezeit an der EU-Außengrenze. Grund sind vor allem westliche Boykotte, Sanktionen und Bummelabfertigungen auf dem Landweg.
Dementsprechend ging der einstmals üppige Touristenstrom von Russen nach Westeuropa stark zurück. Von mehreren Millionen russischen Touristen im letzten vor-Corona-Jahr 2019, die aus Russland die EU besuchten, blieben laut der russischen Onlinezeitung Lenta 2022 nur einige zehntausend übrig.
Finnland als Einreisetor soll sich schließen
Seit dem Ende der dortigen Corona-Beschränkungen ist unter diesen vor allem Finnland bei der Einreise sehr beliebt. Finnische Schengen-Visa gelten für Russen traditionell als leicht erhältlich - die Ablehnungsquote lag vor der Pandemie laut der örtlichen Presse bei gerade drei Prozent. Die finnischen Visa-Zentren sind aktuell überlastet mit langen Wartezeiten, obwohl inzwischen 50 Prozent der Visumanträge von den Finnen abgelehnt werden.
Das reicht der finnischen Politik nicht aus. Vertreter der drei wichtigsten finnischen Parlamentsparteien starteten nun eine Initiative, die Visavergabe an Russen bis zu einem Ende des Ukraine-Krieges ganz einzustellen. Diese wird aktuell von der Regierung geprüft. Für den Fall ihrer Umsetzung hat Kremlsprecher Peskow bereits umfassende Vergeltungsmaßnahmen von Seiten Russlands angekündigt. Die wahrscheinlichste ist ein Reisestopp für Finnen in Russland.
Visastopp für Russen soll EU-weit kommen
Bei einem kompletten Visastopp wären die Finnen mit dieser Maßnahme nicht allein. Von Lettland, Litauen, Estland, Tschechien und Polen erhalten russische Staatsbürger bereits keine Schengen-Visa mehr. Außerhalb Europas fasste auch Japan einen solchen Beschluss.
Estland geht noch weiter. Der dort neu ernannte Außenminister Urmas Reinsalu kündigte nahezu zeitgleich mit den Diskussionen in Finnland eine Initiative an, EU-weit die Visavergabe an Russen einzustellen. Hierfür habe er schon mit seinem lettischen und seinem finnischen Kollegen Kontakt aufgenommen. Die offizielle Begründung warum man keine Russen mehr in die EU reisen lassen will, ist recht repräsentativ für Befürworter solcher Maßnahmen:
Es ist wirklich merkwürdig, dass russische Bürger jetzt in Massen über die Westgrenzen Russlands reisen - durch Finnland, Lettland, Litauen - um im Sommer den Louvre zu besuchen, während in der Ukraine Kinder getötet werden. Das ist sicherlich moralisch falsch.
Urmas Reinsalu, Außenminister von Estland nach Angaben des dortigen öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders ERR vom 26. Juli 2022
Restriktive Politik mit Scheinargumenten
Schon der oben beschriebene deutliche Rückgang der russischen Reisebewegungen zeigt, dass die Darstellung des estnischen Chefdiplomaten ebenso sachlich falsch wie plakativ ist. Denn der typische Massentourist aus Russland, der bis 2019 auch Trips nach Paris oder Berlin unternahm, tut das schon längst nicht mehr und ist dort auch kaum noch anzutreffen. Schon gar nicht, wenn er die russische Invasion der Ukraine unterstützt, wodurch für ihn die EU automatisch zum "unfreundlichen" Ausland zählt.
Es reisen dagegen nur noch Menschen mit tieferem Interesse, engeren Freunden oder Verwandten in den Westen, für die es sich lohnt, die große Mühe auf sich zu nehmen. Solche Russen, die die Verbindung nach Westen erhalten wollen, sind weit mehrheitlich Gegner des "eigenen" Kriegseinsatzes im Nachbarland. Und bald vielleicht erneut dessen sekundäre Opfer, wenn es nach dem Willen der EU-Politiker geht.
Ausnahme ohne praktische Wirkung
Vom Visaverbot ausgenommen sollen nach den estnischen Plänen nur diejenigen werden, die als aktive Oppositionelle – als Beispiel werden Mitarbeiter von Alexej Nawalny genannt – aus Russland flüchten wollen. Das ist weniger großzügig als es klingt. Denn Oppositionelle, die derart im Rampenlicht standen, sind nun, fünf Monate nach Kriegsbeginn, entweder bereits aus Russland geflüchtet oder dort inhaftiert.
Russlands Außenministerium rechnet derweil mit einem kompletten Visastopp für den Schengener Raum.
Im Falle einer radikalen Verschlechterung der konsularischen Beziehungen zu den übrigen Mitgliedern des Schengener Abkommens können selbst scheinbar unwahrscheinliche Szenarien nicht ausgeschlossen werden.
Iwan Wolynkin vom Russischen Außenministerium gegenüber der Nachrichtenagentur Tass am 26. Juli 2022
Wolynkin fügte hinzu, er hoffe auf den Pragmatismus und gesunden Menschenverstand der EU in dieser Sache. Aber weder in Russland noch in der EU scheint aktuell in der Spitzenpolitik die Stunde der Pragmatiker zu schlagen. Es herrscht Krieg, auch auf Kosten gegenseitiger Privatkontakte. So können Reisen für Russen in den Westen ebenso wie westliche Reisen nach Russland bald der Vergangenheit angehören.