Ein Funksignal vom untergegangenen Planeten Bildungsradio
Tote Philosophen treffen sich in leicht verstaubten Sitzecken des Internets zum gepflegten Gespräch
Wenn man die sagenhafte Eigenschaft des Internets als kulturelles Gedächtnis der Menschheit pflegen will, macht man so was wie das UbuWeb. Benannt nach König Ubu, der Lieblingsfigur des Proto-Dadaisten Alfred Jarry, bewahrt das UbuWeb auf, was nicht verloren gehen soll.
Zum Beispiel einige der Radiogespräche von Theodor W. Adorno. Man kann sich schon fragen, was Adorno, der bedeutendste Kopf der Frankfurter Schule, mit diesen Radiogesprächen eigentlich wollte. Denn obwohl es in den Fünfzigern und Sechzigern durchaus ein Publikum für anspruchsvolle Diskurse im Radio gab - man denke nur an die große Zahl der ambitionierten Hörspielproduktionen damals -, muss Adorno als einer der profiliertesten Kritiker der Massenmedien seiner Zeit gewusst haben, dass er a) für einen winzig kleinen Prozentsatz der Hörerschaft arbeitete, dass b) in der Adenauer- und Wirtschaftswunderrepublik für ihn höchstens als Paradiesvogel vom Dienst ein Platz im Radio war, c) dass ein erheblicher Anteil der potentiellen Hörer, die ihm überhaupt intellektuell folgen konnten, seinen Standpunkten feindselig gegenüber stand, und dass er d) aller Vorsicht zum Trotz Gefahr lief, durch Radioarbeit Teil der Kulturindustrie zu werden, die er selbst so verabscheute.
Aber, so Michael Schwarz vom Frankfurter Adorno-Archiv: "Er wollte wirken."
So kommt es, dass von Adorno die erstaunliche Anzahl von 400 Radioaufnahmen erhalten ist. Michael Schwarz: "Man kann sagen, dass Adorno in den fünfziger und sechziger Jahren viel mehr Hörer als Leser hatte."
Adorno mochte Bertolt Brecht nicht, aber unter dem Aspekt des Exils kann seine Haltung zur Kulturindustrie von der Brechts nicht völlig verschieden gewesen sein: Brecht versuchte im amerikanischen Exil politisch engagiertes, linkes Theater zu machen und hatte daher 1947 vor dem berüchtigten "House Committee on Un-American Activities" erscheinen müssen.
Adorno hatte im amerikanischen Exil den New Yorker Stadtsender dazu benutzt, im Rahmen einer musikpädagogischen Sendereihe allzu moderne Musik zur Aufführung zu bringen, was die Absetzung der Sendereihe zur Folge hatte. Man kann durchaus sagen, dass sowohl Adorno als auch Brecht trotz ihrer Rückkehr nach Deutschland immer Exilanten blieben, Fremde im jeweils eigenen Land, ganz unabhängig - auch darin gleichen sie einander - vom Erfolg in den jeweiligen Sitzecken, die zu benutzen man ihnen gestattete.
Und jetzt finden sich also einige von Adornos Sitzeckengesprächen im UbuWeb. Sie sind dort im Exil, wie ihr Autor in der Wirklichkeit seiner Tage. Beispielhaft lässt sich das herausarbeiten an dem Radiogespräch von Adorno mit Hans Mayer über den Dichter Stefan George.
Es trägt den Titel "Die veruntreute Gegenwart" - allem Anschein nach die Idee Hans Mayers - und wurde 1967 vom NDR produziert und ausgestrahlt. Im Grunde handelt es sich dabei um die klugen Bekenntnisse zweier enttäuschter George-Anhänger, die schon lange nicht mehr blind genug sind, die dunklen Flecken auf dem Bildnis Georges zu übersehen. Dabei geht es nicht nur, aber auch, um die trüben Beziehungen des Georgeschen Sendungsbewusstseins zum aufgedonnerten Firlefanz der "konservativen Revolutionäre" jener Zeit, die dann in den Nationalsozialismus mündete. Es geht um Anerkennung und Skepsis, um die kritische Würdigung eines Geistes, der die beiden Gesprächspartner immer noch fasziniert und inspiriert, aber dessen Abgründe und Lächerlichkeiten sie schon lange nicht mehr beschweigen wollen. Wie diese Untersuchung im Gespräch, dieser Diskurs vonstatten geht, ist für alle ein Genuss, die sich je gefragt haben, ob dem oft gehörten Gerede vom "Differenzieren" überhaupt je eine Praxis zuzuordnen war.
Funksignal vom untergegangenen Planeten Bildungsradio
Hört man sich das Gespräch heute ganz an, ergibt sich ein seltsamer Effekt. Für den Kundigen, für den, der sich mit der Begriffswelt der Kritischen Theorie und mit ihren Standpunkten auskennt, ist das Gespräch ein Spaziergang durch eine bekannte Gegend, von einigen milden Überraschungen abgesehen. Er kann beim Bügeln Adorno und Mayer zuhören. Für alle anderen muss es nicht so sehr wie ein Dokument aus einer anderen Zeit, sondern aus einer anderen Welt, ein Funksignal vom untergegangenen Planeten Bildungsradio wirken, auf dem es wohl einmal intelligentes Leben gegeben hat.
Wenn Sie sich dennoch darauf einlassen, können Sie Erstaunliches über die beiden toten Philosophen und den toten Dichter erfahren. Wer sich sogar in eine kleine Internetrecherche zu George hineinlocken lässt, erfährt zum Beispiel, dass sich dieser, von der Rechten immer als einer der ihren betrachtete Dichter zu Beginn des Ersten Weltkriegs deutlich von dem allgemeinen Jubelgeschrei distanzierte.
Man kann etwas erfahren durch das Anhören dieses Gesprächs und man kann zu weiteren Erfahrungen verführt werden. Vom UbuWeb aufbewahrt erhält es genau den Flaschenpostcharakter, den Adorno Anfang der Vierziger für die Philosophie überhaupt reklamierte:
Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.
Was Adorno, Mayer und erst recht George vom Internet gehalten hätten, kann man sich lebhaft vorstellen. Dass das UbuWweb einen Aufbewahrungsort für die von ihnen gesendete Flaschenpost findet, ist dennoch ein Verdienst, das man nicht zu gering schätzen sollte.