"Ein Hörspiel auf allen Sendern"
Überlegungen zur Medienkompetenz und zum Verhältnis von medialer und "wirklicher" Wirklichkeit im Anschluss an Well(e)s, Kottan, Duck und Brussig
Wenn man wissen möchte, was sich hinter dem unscharfen Begriff "Medienkompetenz" verbirgt oder wie es um das Verhältnis von medialer und "wirklicher" Wirklichkeit bestellt ist, dann kann man z.B. in den gelehrten Schriften der Medienpädagogen nachschlagen. Doch dort werden in der Regel keine begrifflichen Unklarheiten beseitigt, sondern semantische Nebelbomben gezündet, so dass der Hilfe, Rat und Handreichungen suchende Leser Gefahr läuft, sich im Dickicht der intellektuellen Hochwertbegriffe zu verfangen. Im Folgenden soll daher ganz bewusst die Sphäre der hehren Wissenschaft zumindest teilweise verlassen werden, damit einige Beispiele in den Blick geraten können, mit deren Hilfe demonstriert werden kann, worin Medienkompetenz besteht, welch drastische Konsequenzen ein Mangel derselben haben kann und wie sich mediale und "wirkliche" Wirklichkeit zueinander verhalten.
I. Well(e)s
Dass Radiohören Medienkompetenz erfordert, wird fast immer mit dem Hinweis auf ein Hörspiel erläutert, das am 30.10.1938 ganz harmlos und mit eindeutig fiktionaler Rahmung anhob:
The Columbia Broadcasting System and its affiliated stations present Orson Welles and the Mercury Theatre on the Air in 'The War of the Worlds' by H. G. Wells.
Damals genügte ein Hörspiel auf einem Sender, um reale panische Reaktionen auf die bloß fiktive Invasion der bösen Marsianer auszulösen.
Und als Orson Welles den Hörern am Ende des Stückes noch einmal einflüsterte, "that 'The War of The Worlds' has no further significance than as the holiday offering it was intended to be", da war es längst zu spät . Doch während Well(e)s' Weltenkrieg längst zum kollektiven medialen Bewusstsein gehört, wird die Erinnerung an ein ähnliches Ereignis in Deutschland nur noch auf wenigen Websites wach gehalten.
Auftritt Kottan.
II. Kottan
Am 4.12.1982 um 20.30 Uhr war während der Krimiserie "Kottan ermittelt", deren Vorspann schon einmal mit dem Hinweis "Der folgende Film ist nur ein Film" aufwartete, plötzlich eine Meldung im Stile eines Nachrichtentickers zu lesen: "Unbekannte Flugobjekte bei Duisburg gelandet. Sondersendung nach diesem Beitrag." Als um 21 Uhr Entwarnung gegeben wurde ("UFOs sind nicht gelandet... Keine Sondersendung.") hatten bereits Hunderte panischer Zuschauer die Leitungen des ZDF und der Polizei blockiert.
Ein medienkompetenter Rezipient hätte hingegen schon am Landeort erkennen können, dass es sich um einen Spaß handeln muss, denn - so fragt man sich - warum sollten Außerirdische ausgerechnet in Duisburg landen? Mit dem paratextuellen Hinweis "Dieser Film ist Duisburg und allen anderen von UFOs vernachlässigten Städten gewidmet" gedachte die Kottan-Crew schließlich auch solcher urbaner Randgruppen. Im irdischen Kottan-Forum wird darauf hingewiesen, dass während der Einblendung der UFO-Meldung der Song "The village green preservation society" von den "Kinks" zu hören war. Dieses Lied beginnt mit folgenden Zeilen:
We are the village green preservation society.
God save Donald Duck, vaudeville and variety.
Und diese Verse erlauben den eleganten Schwenk von Duisburg nach Entenhausen und von der namenlosen Masse panischer Fern-Seher zu einem wohlbekannten, jedoch nicht minder panischen Radio-Hörer.
Auftritt Dagobert Duck.
III. Duck
Bereits 1976 erschien im Stuttgarter Ehapa-Verlag das Werk "Donald hier - Donald da..." (Lustiges Taschenbuch Nr. 38), in dem die Comic-Geschichte "Wie zerronnen, so gewonnen" (S. 85-114) von zentraler medienpädagogischer Bedeutung ist, weil sie (nicht zufällig) den kompetenten Umgang mit dem Radio thematisiert: Dagobert Duck hat sich bei Donald und den Neffen selbst zum Essen eingeladen und hört plötzlich im Rundfunk die Meldung, dass Entenhausen im Meer versinken wird.
Entsetzt verlässt er das Haus ("Meine Bergwerke, meine Fabriken, meine Erdölfelder - all das soll im Ozean versinken?"), beschließt zu handeln ("Ich muss sofort was unternehmen!") und veräußert hektisch und telefonisch all seine Besitztümer, die sich Dagoberts Erzfeind Klaas Klever sämtlichst und freudigst einverleibt.
Durchflutet Dagobert zunächst eine Woge der Zufriedenheit ob des gelungenen Coups ("Hihihi! Der Schwachkopf hat alles aufgekauft..."), so lähmt ihn kurz darauf das schiere Entsetzen, als er von Tick, Trick und Track über den wahren Inhalt der Rundfunkmeldung aufgeklärt wird: Nicht in wenigen Stunden oder Tagen, so erfährt er, sondern erst in einigen Jahrtausenden sei Entenhausen von Sintflut und Vernichtung bedroht. Der Coup wird plötzlich zum GAU, denn ohne seine Fabriken, Bergwerke und Ölfelder kann Dagobert selbstredend gegen Klaas Klever geschäftlich niemals bestehen.
Die überhastete, naive und vollkommen übertriebene Reaktion auf eine Radiosendung haben ihn in eine fast ausweglose Lage gebracht. Mangelnde Medienkompetenz macht aus einem erfolgreichen Geschäftserpel einen trübsinnigen Selbstmordkandidaten.
Natürlich ist es müßig, darüber zu sinnieren, ob Dagobert wohl skeptischer und weniger naiv auf die vermeintlich schockierende Rundfunksendung reagiert hätte, wenn ihm Orson Welles' Hörspiel bekannt gewesen wäre. Die Frage, wie Radiohörer Sensationelles aufnehmen, wenn sie "The War of the Worlds" kennen, wird jedoch in einer anderen fiktiven Welt mit wünschenswerter Deutlichkeit beantwortet.
Auftritt Thomas Brussig.
IV. Brussig
Thomas Brussig beginnt seinen Wenderoman "Wie es leuchtet" (Ffm.: Fischer 2004) mit einem eindeutigen Signal an den Leser:
Dies ist ein Roman. Er ist bevölkert mit Romanfiguren. Deren Handlungen beruhen auf Erfindungen des Autors.
Gattungstheoretisch eingenordet betritt der Leser alsdann Brussigs fiktive Welt, in der sich kurz vor dem Fall der Mauer eine bürgerrechtliche Schar junger Menschen in Barbaras Berliner Wohnung trifft, um ausgerechnet über die Reform des Bildungswesens zu debattieren. Um elf geht einer der Diskutierenden in die Küche, eine Kleinigkeit essen. Was dann geschieht, liest sich bei Brussig folgendermaßen:
Er stellte das Radio an, um Nachrichten zu hören, doch es kamen keine. Als er aufgegessen hatte, ging er ins Wohnzimmer und sagte: "Die Mauer ist auf." Barbara schaltete das Radio ein: Jubel an den Grenzübergängen, Trabis auf dem Ku'damm, Glücksgesänge am Brandenburger Tor.
Wir wissen: Dagobert Duck pflegt auf derlei Radiomeldungen überstürzt zu reagieren. Brussigs Protagonisten hingegen handeln vor dem Hintergrund medienhistorischen Wissens reflektierter und besonnener. So erklärt Wortführer Ralf gelassen,
daß man sich wohl nicht getroffen habe, um ein Hörspiel zu hören, jawohl, ein Hörspiel. Es habe schon früher Hörspiele gegeben, welche die Fiktion wie ein reales Ereignis behandelten, und subalterne Hörer, die darauf reingefallen sind. Schon Orson Welles Krieg-der-Welten-Hörspiel klang plausibel.
Und so einigt man sich darauf, tatsächlich ein Hörspiel zu hören, und setzt die Diskussion zunächst ungerührt fort. Lediglich Lenas großer Bruder stiehlt sich mit seiner Leica gen Grenze davon. Doch auch Barbara wird unruhig, geht in die Küche und schaltet heimlich das Radio wieder ein:
Als sie nach zwei Minuten in ihr verrauchtes Wohnzimmer zurückkehrte, war ihr etwas anzumerken. Die bürgerrechtliche Schar unterbrach die Diskussion über die Reform des Bildungswesens und fragte: "Was ist?" "Nichts", sagte Barbara. "Aber das Hörspiel läuft jetzt auf allen Sendern." (Kursivsetzung im Original)
Erst jetzt zweifelt niemand mehr daran, dass die Mauer tatsächlich gefallen ist. Wirklichkeit wird bei Brussig als ein "Hörspiel auf allen Sendern" dekuvriert und man fühlt sich an die Scholastik erinnert, auf deren gespanntes Verhältnis zur Empirie und zur unmittelbaren Beobachtung in jeder Philosophiegeschichte verwiesen wird: Wenn mittelalterliche Gelehrte im frostigsten Winter über die Frage disputierten, ob das Öl, das vor ihnen auf dem Tisch stand, des Nachts gefrieren würde, wenn man es nach draußen stellte, dann stellten sie es selbstverständlich nicht nach draußen, sondern gingen in die Bibliothek und suchten in den Schriften des Aristoteles und der Kirchenväter, d.h. im mittelalterlichen Medienverbund, nach einer Antwort. Und Brussigs bürgerrechtliche Schar verhält sich ganz ähnlich: Anstatt einfach nach draußen zu gehen und nachzusehen, ob die Mauer tatsächlich gefallen ist, vertraut sie auf den neuzeitlichen Medienverbund und lässt sich erst dann ein X für eine Wirklichkeit vormachen, wenn es auf allen Sendern läuft.
Dass der direkte Vergleich zwischen medialer und "wirklicher" Wirklichkeit in einem System, das Realität als "Hörspiel auf allen Sendern" begreift, nicht mehr vorgesehen ist, hat Wolfgang Becker in "Good Bye, Lenin" (D 2003) höchst eindrucksvoll vorgeführt: Hier kommt es bereits fast zur Katastrophe, als Alex' bettlägerige Mutter den Blick nicht mehr auf die inszeniert-sozialistische Fernsehwirklichkeit, sondern auf die wirklich-kapitalistische Cola-Werbung draußen vor dem Fenster richtet.
Und in Peter Weirs "Truman Show" (USA 1998) wird das "Hörspiel auf allen Sendern" derart perfektioniert, dass nicht nur jeder Einbruch der Wirklichkeit in das Reich des medial Inszenierten (z.B. der herabfallende Scheinwerfer), sondern auch der Ausbruch Trumans aus der Welt des Fernsehspiels (Kollision des Schiffes mit der Außenwand des Studios) folgerichtig als Unfälle dargestellt werden.
Stand bislang der Rezipient und seine (mangelnde) Medienkompetenz im Vordergrund, so verdeutlicht vor allem die Figur des gottgleich-omnipotenten Christof aus der "Truman Show", dass Medienkompetenz unzweifelhaft auch eine handelnd-produktive Dimension besitzt. Und dieser Umstand erlaubt nicht nur einen finalen Schwenk zurück zu Orson Welles, sondern auch eine Ehrenrettung Dagobert Ducks.
Auftritt Dagobert Duck und Orson Welles.
V. Duck und Welles
Hatte sich Dagobert in der Rolle des naiv-inkompetenten Medienrezipienten gerade noch blamiert, ruiniert und an den Rand des Suizids radiogehört, so findet er (mit Donalds Unterstützung) in der Rolle des schöpferisch-rachsüchtigen Medienproduzenten doch noch zu gewohnter Stärke und Finesse zurück.
Mithilfe einer Raumschiff-Attrappe ("Nanu? Was ist denn das für ein komisches Flugzeug!") und etwas Betäubungsgas wird Kontrahent Klaas Klever zunächst verschleppt und in eine Zelle mit Liege, Lüftungsgitter und Lautsprecher gepfercht. Alsdann greift Dagobert in bester Orson-Welles-Manier höchstselbst zum Mikrofon und gaukelt seinem panisch-ängstlichen Widersacher in einer grandiosen Live-Performance ("Ich zeig mich dir nicht, um dich nicht zu erschrecken!") akustisch vor, dass er sich in der Hand gieriger Aliens vom Planeten Tubex befindet, die von ihm verlangen, dass er die eben erst erstandenen Bergwerke, Fabriken und Erdölfelder wieder verkauft ("Du erhältst erst dann Essen und Trinken, wenn du unsere Bedingungen erfüllt hast!"). Der Plan gelingt, Klaas Klever gehorcht den Tubexianern, die er für eine reale Gefahr hält, und Dagobert kann seine alten Schätze wieder in Besitz nehmen.
Zwei medienkompetent und produktiv Handelnde mit großer Geste am Mikrofon, zwei Hörspiele, die eine außerirdische Wirklichkeit (hie Tubex, dort der Mars) fingieren, ihr Publikum irreführen und zu panisch-unüberlegten Reaktionen veranlassen: Diese Parallelen sind schlagend, verblüffend und überzeugend. Fortan wird niemand, der sich Orson Welles und dem "Krieg der Welten" in medienpädagogischer Absicht nähert, so tun können, als gäbe es Dagobert Duck nicht.
Damit gelangt die assoziative Gedankenbewegung zu Fragen der Medienkompetenz, die von Well(e)s über Kottan, Duck, Brussig und erneut Duck zurück zu Well(e)s führte, an ihr Ende. Sie haben genug gelesen. Schalten Sie doch mal das Radio ein.