Ein Lied vom Tod

Blutige Odyssee: Quentin Tarantino kehrt mit seiner derben, wunderbar inszenierten Augenweide "Kill Bill Vol. 1" zurück ins Kino

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Keine Frage: Quentin Tarantino's KILL BILL VOL. 1 ist eine Augenweide; virtuos inszeniert, voller brillanter Einfälle, anspielungsreich und klug - ausgezeichnetes Kino, mit dem der Regisseur einmal mehr beweist, dass er zu den wichtigsten und besten seiner Generation gehört. Ebenfalls keine Frage: KILL BILL VOL. 1 ist in vieler Hinsicht eine Zumutung, ein blutiger Film voller traumatisierter Charaktere, mit teilweise hohler Story, und an einigen Stellen unverhohlen sadistischen Zügen. Zur entscheidenden Frage wird daher, was davon wie schwer wiegt, und was der Film, diese merkwürdige, einmalige, genialische Kreuzung aus Truffauts "Die Braut trug schwarz" und einem Bruce-Lee-Movie, eigentlich sonst noch ist.

Hässliche Dinge können trotzdem sehr schön sein. Wer diesen Satz nicht akzeptiert, dürfte mit Tarantinos erstem Film nach fast sechsjähriger, von ständigem Wechsel aus Erwartungsdruck und neuer Enttäuschung geprägter Schaffenspause nicht viel Freude haben. Der Regisseur, nach seinem Überraschungserfolg mit PULP FICTION vielleicht über Gebühr zu "dem" Wunderkind der 90er stilisiert, erzählt in KILL BILL VOL. 1, seinem ersten Film nach JACKIE BROWN (1997), eine bittere und derbe Rachegeschichte, eine blutsudelnde Odyssee. Besser als PULP FICTION, schlechter als JACKIE BROWN ist auch dies ein weiterer Beitrag zu Tarantinos Thema des "philosophical killing" - was immer das eigentlich heißt.

Eine Antwort findet Tarantino auch diesmal offensichtlich nicht: Als seine Variation eines Sergio-Leone-Märchens ist KILL BILL über weite Strecken ein langsamer, ruhiger, fast starrer Film, der sich immer wieder zu rasanten Kampfsequenzen bündelt. Bekanntlich wurde das über Jahre vorbereitete, ursprünglich als ein einziger Film angelegte Werk, nach zahlreichen Problemen in der Post-Produktion vor allem auf Betreiben von Miramax-Boss Harvey Weinstein in zwei Teile geteilt, deren jeder etwa 100 Minuten lang ist. "Volume 2." soll im Februar ins Kino kommen. Weinstein selbst beruft sich bei diesem problematischen Schritt auf die "künstlerische Vision" seines Regisseurs, dabei von Tarantino eifrig sekundiert. Andere vermuten hinter allem rein ökonomische Motive. Die Überleitung und somit das Ende des ersten Teils bildet nun ein klassischer Cliffhanger, die Story von KILL BILL ist also einstweilen keineswegs fertig erzählt, manche zentrale Charaktere treten gar nicht, oder nur für Sekunden auf, und auch diejenigen, die man länger sieht, sind nicht immer gut entwickelt. Der Verzicht auf tiefere psychologische Motivation hat bei Tarantino allerdings Methode. Und der jetzt vorgelegte erste Teil ist durchaus ein Film aus eigenem Recht: Trotzdem eine Menge Fragen offen bleiben, kann man ihn mit viel Vergnügen für sich genießen - Cinema interruptus ist nicht zu befürchten.

Ein Lied vom Tod, das keine Unschuld kennt und in dessen Mittelpunkt - warum eigentlich so oft bei Tarantino? - diesmal sämtlich traumatisierte Charaktere stehen: Die Handlung kreist um die "Braut" und "Gelbe Kriegerin", eine junge Frau, von der man nur ihren "Codenamen" kennt. Offenbar war sie Mitglied eines mehrköpfigen Bundes von Profikillern, am Tag ihrer Hochzeit wurden Bräutigam und der gesamte Rest der Hochzeitsgesellschaft von ihren Kollegen aus einstweilen nicht weiter bekannten, noch nicht einmal angedeuteten Gründen ermordet - die Braut selbst blieb mit einer Kugel im Kopf und einem ungeborenen Kind im Leib zurück. Zunächst für tot gehalten, lag sie vier Jahre im Koma. Aufgewacht und körperlich wiederhergestellt, schwört sie den Mördern Rache, und bringt einen nach dem Anderen in Zweikämpfen um, die durchaus nach gewissem Ehrenkodex ausgefochten werden - auch wenn es im konkreten Fall damit nicht immer weit her ist.

Es sind aber diese Pole "Ehre" und "Rache", um die sich der Kern der Story dreht. Erzählt wird im ersten Teil diese Vorgeschichte und die Duelle mit zwei Kontrahenten - anfangs in sprunghaftem Hin und Her zwischen mehreren Rückblicksebenen, einem Vorausgriff und parallelen Handlungssträngen, zunehmend dann linear. Trotzdem handelt der Film von wenig außer dem Können seines Regisseurs, dessen Wissen und Passionen in der Filmgeschichte. Inhaltlich ist alles ein bisschen hohl und ein bisschen leer, in seinen Einzelheiten regelrecht absurd, in der Ausführung aber atemberaubend. Die größte Schwäche des Films dürfte darin liegen, dass dessen Figuren durchweg auf ihren Zeichencharakter reduziert bleiben. Sie sind reine Ikonen, darin perfekt zwar, aber ohne "Leben". Daher fällt es in dem blutigen Wechsel aus Kämpfen und Vorbereitungen zum Kampf schwer, sich mit irgendeinem Charakter, selbst dem der von Uma Thurman mit Einsatz, aber ohne Charisma gespielten "Braut" zu identifizieren. Diese ist eine Figur ohne Liebe und Humor, ihr einziges Gefühl ist Hass. Nun mag Rache mitunter verständlich sein, ist aber selbst dann selten sympathisch, wenn man sich über die Reinheit der Motive der Hauptfigur klarer ist, als in diesem Fall - wo die ganze Vorgeschichte der "Braut" und ihres Verhältnisses zum Oberschurken Bill einstweilen im Dunkeln liegt.

So kann es dem Zuschauer durchaus passieren, dass er moralisch oder emotional mehr Anteil an den beiden Gegnern der "Braut" nimmt. Denn "Copperhead" (Vivicia A. Fox), die ihr in der ersten Filmviertelstunde zum Opfer fällt, bemüht sich immerhin zuvor um eine (ernstgemeinte?) Versöhnung und schützt überdies ihre kleine Tochter. Und die "Braut" und ihre zweite Gegnerin O-Ren Ishii (Lucy Liu) ähneln sich verdächtig. Im Rückblick wird das Schicksal dieser Figur als eines traumatisierten Kindes erzählt, eine der wunderbarsten Sequenzen des Films, die komplett im japanischen Anime-Stil gefasst ist. Die Macher dieser visuell atemberaubenden Passage sind Mitsusha Ishikawa und Takayuki Goto und ihre Firma Production I.G., - wer deren Debüt JIN-ROH (1998) gesehen hat, weiß um ihr exzellentes Können.

In Form und Stil ist der episodisch in Kapitelform erzählte, auch mit anderen Brechtschen Verfremdungstechniken aufwartende Film auch sonst über weite Strecken eine Augenweide. Eleganz und Comic, die grelle, dabei auch manchmal verquaste Direktheit von Oliver Stones NATURAL BORN KILLERS trifft auf die gelassene Klassizität von Martin Scorseses CASINO. Robert Richardson, Kameramann von Stone und Scorsese, gelingen in einer seiner besten Arbeiten viele grandiose Momente, flüssige, geschmeidige, grelle Bilder, deren Wirkung durch die hervorragende Musikauswahl Tarantinos noch verstärkt wird. Langsame, ruhige Sequenzen wechseln sich mit rasanten Kämpfen ab, fast nie ist das langweilig, oft hervorragend inszeniert und immer schön anzusehen. Für die zahlreichen Kämpfe griff Tarantino auf den Martial-Arts-Experten Yuen Wo-Ping zurück, der schon bei MATRIX und TIGER + DRAGON Phänomenales leistete. Hier sind die Kämpfe bodenständiger und härter, "japanischer" - auf Seiltechnik wurde weitgehend verzichtet. Trotzdem hat vieles großen Charme.

Nur zwei, drei Szenen verstören in ihrer Brutalität; während die Gewalt sonst nie Selbstzweck und überdies stilisiert ist, überwiegt hier auch bei den Machern Zynismus. Es geht nicht um die Menge der Toten, um die Blutfontänen, die sich hier über die Leinwand ergießen. Sondern um die Perspektive: Auch Steven Spielberg's SAVING PRIVATE RYAN besaß Szenen selten gesehener Brutalität. Aber die Haltung des Regisseurs zu ihnen, auch wo er die Gewalt rechtfertigt, war immer klar. Tarantino dagegen bleibt kalt, voyeuristisch, seine Haltung ähnelt manchmal den Nerds, die ihn bewundern, und alles "einfach cool" finden, auch wenn es in krudeste Phantasien über abgehackte Gliedmaßen, Folter, Vergewaltigung und Rache mündet. Tarantino fehlt hier an einigen Stellen die Distanz, etwa wenn er das Erwachen der "Braut" nach dem Koma schildert. Ihre erste Rache gilt einem Pfleger, der sie jahrelang vergewaltigte. Tarantino scheint hier wirklich zu glauben, dass Kriminelle hässlicher sind als andere Menschen, und schlimme Verbrechen jede Vergeltung rechtfertigen.

Wiederum treibt Tarantino aber in erster Linie ein Spiel mit der Filmgeschichte. KILL BILL ist Hommage, Zitatenwirbel und Genre-Analyse zugleich. Dem scharfen dekonstruierenden Blick des Regisseurs unterworfen ist diesmal vor allem Japan, wo die zweite, bessere Hälfte dieses ersten Teils spielt. Japanische Mode und Musik, Fetische und Tradition, vor allem Gangsterkino der 60er und 70er, und klassische Samurai-Filme werden ausgeschlachtet, daneben sind Anspielungen auf Kurosawa und sogar Ozu zu entdecken. Freilich ist Tarantino klug genug zu wissen, dass er die japanische Kultur nur von Außen wahrnehmen kann, der Falle des "Orientalismus" in einem Film wie diesem gar nicht entgehen kann. Die Haltung dieses Films ist daher: Wenn sich Exotismen schon nicht vermeiden lassen, dann sollte man sie wenigstens darstellen. So besteht sein Japan bei aller Differenziertheit in erster Linie aus Oberfläche: Yakuza, Samurais, Schulmädchen in Uniform, Manga und Kirschblütenkitsch - und ähnelt in dieser bewussten Klischeelastigkeit etwa dem Russland in Joseph von Sternbergs SCARLETT EMPRESS.

Wie der Produktionsprozess (große Teile wurden in China gedreht, weitere in Japan und Mexiko) ist auch der fertige Film eine hybride Verschmelzung kultureller Einflüsse. Neben Japan spielen Italo-Western und chinesisches Martial-Arts-Kino die wichtigste Rolle. Fast alle dominierenden Figuren sind Frauen, und KILL BILL ist zweifellos ein wichtigerer Beitrag zum Thema "Girl Power", als die vier CHARLIES ENGEL und LARA CROFT-Filme zusammen. Tarantinos stilistische Aneignung des "Anderen" stößt allerdings in der Story auf klare Grenzen. Die Heldin ist eben eine weiße blonde "Caucasian", wie sie im Film auch explizit bezeichnet wird, ihre Opfer sind fast ausschließlich Asiaten und Schwarze.

Trotzdem: Falls es überhaupt Sinn macht, heute von "postmodernem Film" zu sprechen, dann hier: In brillanter Weise verwirklicht Tarantino die Idee eines unhierarchischen Kinos, das Grenzen überschreitet und einebnet, mit ironischen Brechungen und Relativierungen der vordergründigen Handlung gespickt ist, die aber nicht auf deren Kosten geht. Neben die lineare Erzählweise tritt ein Tableau aus Zeichen, Verweisen und Zitaten, das als Ganzes ein eigenes Erzählnetz bildet, das sich über die Story legt. Auch wer den Film mehrmals sieht, wird immer noch Neues entdecken. Wie Robert Rodriguez (im Nachspann vom Regisseur als "Brother" gefeiert) weiß Tarantino, dass Bilder im Kino stärker sind als Worte, intensiver und emotionaler in ihrer Wirkung. So bedient sein neuer Film gleichzeitig trivialste wie differenzierteste ästhetische Bedürfnisse. Man muss ihn gesehen haben. Das Hässliche kann eben schön sein - man könnte das alles auch einfach Pop nennen.