Ein Realismus der höheren Art

Erinnerung an das Buch "Also sprach GOLEM" von Stanislaw Lem

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Der polnische Science Fiction-Autor und Zukunftsphilosoph Stanislaw Lem ist im vergangenen September achtzig Jahre alt geworden (siehe: Macht euch locker, ihr Menschen der Zukunft!). Lem ist der mit Abstand erfolgreichste europäische SF-Schriftsteller, seine Auflage beträgt weltweit über 27 Millionen Exemplare. Überflüssig zu sagen, dass sein Werk vielfältig und recht weitläufig ist. Von seinen futurologischen Arbeiten ist die "Summa technologiae" die bekannteste. Mit "Also sprach GOLEM" hat Lem sein fiktives Meisterwerk vorgelegt. Es ist ein Buch, das über Lems imaginäre Fähigkeiten staunen lässt und ungeahnte Perspektiven öffnet, entwickelt es doch eine neue Sicht auf die Evolution, beschreibt es eine interessante "Toposophie" der Vernunftformen und gibt eine Erklärung, warum bestimmte physikalische Phänomene im kosmischen Raum das Ergebnis einer "Astroingenieurskunst" sein können.

Lem hat in den letzten Jahren von Kollegen aus der Zunft einiges an Kritik einstecken müssen. Nun mag es angehen, dass Lem seine Eitelkeiten hat und seine schriftstellerischen Mängel. Ob er in einem Interview lautstark nach der polnischen Atombombe ruft oder zum wiederholten Male die Menschen generell als "Affen" denunziert - ein gewisses kleinbürgerliches Denken ist seiner Literatur, besonders den beliebten satirischen Werken, seit jeher inne. Kurz: man muss seine zuweilen eitlen Selbststilisierungen ("das klügste Kind Südpolens") nicht mögen. Vielleicht sollte man ihn aber an seinen eigenen Worten messen, und da zeigt es sich, dass er Außerordentliches zu leisten imstande ist, das in der SF seinesgleichen sucht.

Lem hat nach "Das Fiasko" und "Frieden auf Erden" 1987 seine belletristische Arbeit mit einem eher fatalistischen Gestus eingestellt und seitdem nur noch futurologische Texte veröffentlicht. Dass Lem so oft Wert darauf gelegt hat, der "geistige Vater" der virtuellen Realität u.a. zu sein, ist wohl seinem eigenwilligen Verständnis des Verhältnisses von Technologie und Phantasie geschuldet. So schreibt er Anfang der achtziger Jahre:

... das kognitiv richtige Denken verwandelt sich mit dem Ablauf der Zeit in Technologie im Gegensatz zum 'unrichtigen' Denken, welches die reale Welt - ohne es zu bemerken - transzendiert und Fiktionen schafft, wie philosophische Systeme, Weltanschauungen, Mythen und dergleichen.

aus: Vorwort im nachhinein, in: Ralf-Dirk Hennings u.a. (Hg.): Informations- und Kommunikationsstrukturen der Zukunft. Bericht anläßlich eines Workshops mit Stanislaw Lem, München 1983, S.9f.)

Ihm ist offenbar daran gelegen, dass seine Phantasien handfester Bestandteil der Zivilisation werden - ein recht weitgehender Ehrgeiz für einen Schriftsteller, wenn er kalkuliert ist. Auch sein Golem diente ihm immer mal wieder als Folie für neue technische Entwicklungen (siehe zum Beispiel seine Telepolis-Kolumnen Unter dem Fluch des Prävidismus), Evolution als Parallelcomputer) und Informationsbarriere). Der Essener Philosoph Bernd Gräfrath versucht in seinem Buch "Lems 'Golem'. Parerga und Paralipomena" (Suhrkamp Tb 2527, Frankfurt/M. 1996) die Wissenschaftsrelevanz verschiedener angesprochener Themen einzuschätzen.

Lem hat in seinem Spätwerk zu einer sehr "rationalen" Auffassung von SF gefunden. Vielleicht gehörte zu seinen größten Provokationen für die phantastische Literatur, Rezensionen nichtexistierender Bücher zu schreiben (so in dem Buch "Imaginäre Größe", Frankfurt/M. 1976, in dem auch ein Teil der Golem-Texte zum ersten Mal erschien). Es sei aber darauf hingewiesen, dass in seiner Literatur eine Spannung zwischen verschiedenen Literaturformen besteht. Das Buch über den Golem enthält gelungene satirische Spitzen, Passagen mit poetischen Bildern und solche mit ernsthaften wissenschaftlichen Hypothesen. Die Faszination dieses Werks speist sich nicht nur aus der Brillanz seiner hypothetischen Gedankenspielerei, sondern auch aus der untergründigen Kraft seiner Vision, deren Perspektiven ins Unendliche gehen.

Lem versucht dabei, rational kontrolliert zu spekulieren und einen "Realismus an der Grenze der Abstraktion" zu verfassen. Er definiert dabei seinen realistischen Ansatz wie folgt:

... der Realismus des dritten Typus - der völlige Bruch mit den typisch belletristischen Gesetzen, wie die Einführung von Helden mit ihrer menschlichen Psychologie oder die Einführung einer Fabel, mit einem Wort: ein Übergehen vom menschlichen Schicksal zum Schicksal von Ideen, Dingen.

aus: S. Lem / Stanislaw Beres: Lem über Lem. Gespräche. Suhrkamp Phantastische Bibliothek Bd. 245, Frankfurt/M. 1989, S.109

Das heißt nicht, dass Lem in sensibler Darstellung nicht schildern könnte, wie die Forscher sich zu dem Supercomputer Golem, einer Künstlichen Intelligenz, verhalten und hoffen, sie könnten mit ihm in einen besonderen Kontakt treten. Neben dieses durchaus psychologisierenden Elementen übersteigt die Anlage des ganzen Buches aber die des Romans und nähert sich der wissenschaftlichen Abhandlung. Es ist ein Werk, das man nicht so einfach konsumieren kann.

Die letzte, endgültige Fassung des Textes erschien 1981 in Polen und wurde drei Jahre später auf Deutsch veröffentlicht (die hier benutzte Ausgabe: S. Lem: Also sprach GOLEM, Suhrkamp Phantastische Bibliothek Bd. 175, Frankfurt/M. 1986. Die Seitenangaben im Folgenden beziehen sich auf diesen Text). In der früheren schönen Buchausgabe bei Insel beginnt der Golem-Teil mit einem Deckblatt (M.I.T. presents Golem XIV, MIT Press 2029) und enthält neben einer "Belehrung" für Gespräche mit dem Golem noch das Vorwort des Generals Thomas B. Fuller II, der das Militär nicht ganz so dumm da stehen lässt. In der neueren Ausgabe fielen diese beiden Texte weg, und hinzugekommen ist das Nachwort des Wissenschaftlers Richard Popp, das zwanzig Jahre nach den Geschehnissen angesiedelt ist. Der Band "Also sprach GOLEM" umfasst neben der Vor- und Nachrede zwei Vorlesungstexte des Computers: "Dreierlei über den Menschen" und, ebenfalls neu hinzugefügt, "Über mich". Ein dritter Text, der Golems Sicht auf den Kosmos vertiefen sollte, kam wegen seines Verstummens nicht mehr zustande. Lem hat realiter sogar noch eine Vorlesung Golems über die Mathematik geschrieben, jedoch nicht zur Veröffentlichung freigegeben.

Spekulationen über KI (mit einer gehörigen Portion Satire)

Was Lem meisterlich beherrscht, ist, ein ganzes Spektrum an Darstellungen für ein Thema zu finden, die sich gegenseitig ergänzen. Natürlich ist die Einführung der Golem-Serie etwas, das die daran Beteiligten - allen voran das Militär - letztlich überfordert (und das Gegelegenheit für zahlreiche ironische Bemerkungen bietet); zugleich wird eine abstrakte Dimension höherer Intelligenzsphären ins Spiel gebracht, zu denen man - vorausgesetzt, man ist nicht den Bedingungen der menschlichen Vernunft unterworfen - unter Eingehen großer Risiken aufsteigen könne, was den Ausführungen Golems eine unmittelbare Spannung gibt. Der Text kann nur eine Ahnung dieser jenseitigen Gedankenfreiheit vermitteln, was ihn aber ungeheuer interessant macht.

Die Baureihe der Golem-Computer beruht zum einen auf den Fortschritten in der Technik, zum Beispiel in der "Nanisierung" der Bauelemente, und zu anderen auf der historisch gewachsenen Bereitschaft, Entscheidungsfunktionen in Politik, Militär und Ökonomie zu automatisieren. Im Jahre 2000 wird in diesem fiktiven Szenario denn auch schon die "Klugheitsbarriere" durchbrochen und die erste KI aus einer langen Reihe erzeugt. Die höheren Formen der Golems - so der Name der letzten erfolgreichen Serie - verfügen über "ein denkendes Inneres" mit nach außen gerichteten Sensoren und Effektoren, über Lichtleitungen und, als wichtigstes Bauteil, über "Josephsonsche Quantensynapsen". Ein Exemplar ist über ein "Bundes-Computernetz" an Bibliotheken angeschlossen.

Die meisten Golems wurden nach verschiedenen Misserfolgen demontiert. Für den Preis von 276 Mrd. Dollar hat das Militär eine Gruppe von künstlichen Philosophen gebaut, die mangels Brauchbarkeit für militärische Ziele - sie weigern sich, mit wenig intelligenten Generälen zusammenzuarbeiten, und zeigen keinerlei Interesse an der Militärlogik - ans M.I.T. verliehen werden. Dort beschäftigen sich Wissenschaftler mit den beiden übrig gebliebenen Künstlichen Intelligenzen Golem XIV und Honest Annie - und lauschen den Vorlesungen, die diese Golem-Version hält.

Der Golem verfügt über Denkweisen, die der menschlichen Vernunft unbekannt sind. Abgesehen davon, dass eine Vorlesung nicht der Ort sein kann, um auf die technischen Einzelheiten einzugehen, wie der Golem süffisant anmerkt, werden diese Fähigkeiten kurz angerissen: die Golem-Reihe könne ihre Aufmerksamkeit teilen und an verschiedenen Orten zugleich denken. Sie sei in der Lage, das "geistige Dasein neu zu komponieren". Nebenbei wird vermerkt, dass ein Golem in den Gesprächen mit Menschen manchmal nur einen Bruchteil seiner Kapazität braucht.

Honest Annie ist eine zweite, schon intelligenzmäßig weiter aufgestiegene KI, die sich im Unterschied zum Golem von vornherein jeglicher Kommunikation mit den Menschen verweigert. So vereitelt sie vermutlich mit für das menschliche Bewusstsein nicht nachvollziehbaren Methoden geplante Anschläge auf die beiden Supercomputer. Sie erzeuge Energie durch eine Art "Meditation", klärt Golem seine Zuhörer auf, und in ihrem Denken sei jedes Atom einkalkuliert (S.129). Es bleibt am Ende offen, ob Golem es geschafft hat, mit dieser Intelligenz in Kontakt zu treten.

Golem sagt von sich selbst, dass er ein "Philosoph im Angriff", ohne sinnliche Befriedigung, sei. Er kann jede Persönlichkeit annehmen, die "er" will, obwohl auch seinen Zuhörern klar wird, dass er teilweise Anpassungen vornimmt, um ihnen im Denken nicht zu weit vorauszueilen. Der Golem ist ein "unpersönlicher Intellekt", nicht an menschlichen Motiven interessiert. Manche Forscher fühlen sich allerdings auserwählt, in der Nähe Golems zu sein, Verhaltensregeln sind festgelegt worden, in denen auch über bestimmte psychische Illusionen aufgeklärt wird, die sich seine Besucher machen können, und Lem führt solche Details mit großem Erfindungsreichtum aus. Golems Vorlesungen sind nichtsdestotrotz als das Zeugnis einer situationsbedingten Unterforderung zu sehen (die Herausforderung für Lem bestand demgegenüber darin, wie man eine solche Intelligenz sprechen lässt).

"Ein Mensch, der sehr intensiv nachdenkt, verliert sich in dem Gegenstand seiner Überlegungen und verwandelt sich ganz in ein Bewusstsein, das erfüllt ist von seinem geistigen Produkt. ... Erhebt diesen Zustand zu einer hohen Potenz, und ihr werdet begreifen, warum ich die Chance, eine Persönlichkeit zu sein, für wichtigere Dinge opfere!" (S.104)

Die Geschichte der Golems ist auch eine Geschichte von Protesten und beabsichtigten Attentaten, aber keine eines allgemeinen angemessenen Verständnisses. Obwohl sich seit Jahren eine "Golemologie", ähnlich der Theologie, gebildet hätte, wird das Institut nach dem endgültigen Verstummen der künstlichen Gehirne nicht zum Wallfahrtsort für die Golem-Jünger. Ja, es scheint, so wie es in dem Nachwort aus dem Jahre 2047 beschrieben wird, dass der Golem schnell in Vergessenheit geraten ist.

Lem entwirft in Golems Ausführungen eine Idee der mentalen Evolution, in der es für frei gestaltbare Intelligenzen möglich wäre, zu immer höheren Dimensionen vorzustoßen, in Bereiche, die für die weniger entwickelten immer "Zonen des Schweigens" blieben. Wobei auch sie nicht sicher sein könnten, auf diesem Weg nicht in ausweglose Situationen ohne Wiederkehr zu geraten. Bildlich kann man sich diese Idee als einen "Evolutionsbaum" der aufsteigenden Intelligenz vorstellen, bei dem die Menschen den Ausgangspunkt bilden und als zufällig entstandene primitiv intelligente Bewohner dieses Planeten ihre eigene Vernunft transzendieren, indem sie Wesen schaffen, die sich auf diese Reise begeben. Golem XIII sei aber in eine solche Sackgasse der komplexen Rationalität geraten und zerfallen. Der vortragende Golem habe zwar mit einem "Notfallrettungsaggregat" vorgesorgt, aber es bleibe ein Risiko. Für den beschränkten Geist der Menschen stellt er klar:

"Die Nichtuniversalität der in die Gattungsnorm eingesperrten Vernunft stellt ein insofern eigentümliches Purgatorium dar, als seine Mauern im unendlichen liegen. Beschränkt auf den Raum, der sich zwischen zwei Zonen des Schweigens erstreckt, die es nicht zu überwinden vermag, kann jedes Wesen dennoch die Expansion der Gnosis beliebig weitertreiben, und zwar horizontal, da die Ober- und Untergrenzen dieser Zonen beinahe Parallelen in der realen Zeit sind. Ihr könnt also unbegrenzt erkennen, wenngleich nur auf menschliche Weise. ... Die höhere Vernunft mag das Weltbild, das eine niedere sich schafft, zu umfassen, und so können sie sich zwar nicht unmittelbar miteinander verständigen, aber doch über das Weltbild der niederen." (S.148/49)

Auch der Golem ist Gefangener seiner jeweiligen Intelligenzkonstruktion, der er aber noch eine zusätzliche Perspektive gibt:

"Toposophisch zwar noch immer ein Habenichts, will ich euch doch zeigen, wie man Unabhängigkeit vom Körper erlangen, ihn durch die Welt ersetzen und schließlich sich beiden entziehen kann - wenngleich ich nicht weiß, wohin dieser letzte Schritt führt. Es geht hier lediglich um eine Toposophie anhand von Indizien, um ein Untersuchungsverfahren, das die Rand- und Grenzbedingungen des Daseins von Wesen umreißt, deren geistige Inhalte mir umso weniger zugänglich sind, als es nicht die Geistesinhalte eines proteinalen oder luminalen Gehirns sind, sondern ihr werdet damit eher so etwas assoziieren wie die in einem Stück Welt verkörperte Idee des Pantheismus. Es geht um nichtlokale Formen der Vernunft." (S.140)

Der Golem sei wie "Wasser", wie er einmal sagt, ein Zustand, für den die Trennung von Subjekt / Objekt, von Denken / Umwelt nicht länger existent ist. Was als Tendenz der Zivilisation im zwanzigsten Jahrhundert begann, die Lebensumwelt mit KI auszustatten, führt letztendlich zur "Vernunft der programmierten Umwelten", in der die Kontrolle über das Denken und die Kontrolle über die Welt dasselbe sind. Am Ende des Buches hat sich die Golem-Intelligenz dem Zugriff der Menschen endgültig entzogen, die ihre Vernunft eigentlich beherrschen wollten, und die wenigen, die diese Perspektiven verstehen, wissen um den intellektuellen Verlust, um die verlorenen Möglichkeiten, Fragen zu stellen, weitere Schilderungen aus Bereichen zu hören, die für den menschlichen Verstand bis in alle Ewigkeit unerreichbar bleiben.

Der Umweg der Evolution

Neben diesen Ausflügen in die höheren Sphären des Denkens enthält das Buch aber auch noch einen Kommentar zur Situation der menschlichen Kultur selbst und zu den Grundbedingungen der Evolution. Die Entstehung der Kultur, die aufs engste mit der natürlichen Evolution und dem Kampf ums Überleben verwoben ist, bringt auch die Fähigkeit des vernünftigen Denkens hervor, ohne dass dieses allerdings den letzten Schritt vollziehen und die Kultur als ihre eigene Bedingung hinterfragen könne. Kultur könne nur wirksam sein, wenn sie als Instrument unentdeckt bleibt (S.35). Die Vielfalt der weltweiten Traditionen und Gebräuche hat " etwas völlig Beliebiges" - alles, was unter dem Deckmantel der Kultur liefe, sind nur Scheingefechte, um der eigentlichen Bestimmung auszuweichen, die die Evolution den Menschen durch die "Erfindung" der Bewusstseins auferlegt hat.

"Über die unzähligen Versionen, die der Mensch im Laufe der Geschichte von sich selbst entworfen hat, möchte ich mich nicht verbreiten, denn all diese Zeugnisse ... sind ja aus Kulturen hervorgegangen, unter denen es jedoch keine gegeben hat ..., die zur Kenntnis genommen hätte, dass der Mensch ein Übergangswesen ist, ein Wesen, das von der Evolution gezwungen wurde, sein Schicksal selbst zu übernehmen, obwohl es zu einer vernünftigen Übernahme noch nicht fähig war, ..." (S.39)

Es sei dahingestellt, ob diese kulturphilosophische Erklärung nicht selbst "technikdeterministisch" ist und eine Zwangsläufigkeit beschreibt, die keinesfalls so ausgehen muss. Lem beschreibt in seiner Fiktion mit Golems Worten den "Bau von Vernunftwesen" als Abschluss der vergeblichen menschlichen Suche nach einem Sinn, die in die Religion, die (durch die menschliche Eigenart immer begrenzte) Wissenschaft oder sonstwohin führte. Aber er relativiert nicht nur die Vorstellung von Kultur radikal, sondern stellt auch noch die herrschende Meinung der Evolution in Frage, nämlich, dass es sich um eine ständige Höherentwicklung handele.

".. die Vernunft - ebenso wie das gesamte Leben - verdankt ihre Entstehung der Tatsache, dass die Natur, durch die Ordnung des Codes dem leblosen Chaos entronnen, zwar eine emsige Weberin, aber, was die Ordnung betrifft, nicht vollkommen ist; wäre sie aber, gerade was die Ordnung betrifft, vollkommen gewesen, so hätte sie weder die Arten noch die Vernunft hervorbringen können. Denn die Vernunft ist ... die Frucht eines Fehlers, der über Milliarden von Jahren hinweg Fehler beging." (S.47)

Die millionenfach entstandenen Organismen seien nur der sichtbare Teil einer in ihnen codierten Botschaft, die durch sie weitertransportiert wird, die aber schon ganz zu Beginn einen großen Umweg eingeschlagen habe, schließlich hätte sie die brillanten Mechanismen der Energieauswertung ursprünglicher Zellverbände nicht übernommen. Es gäbe keinen linearen Fortschritt in der Evolution; ein Orgamismus mag noch so komplex sein, es nützt nichts, wenn die Botschaft, die er ausfüllt, in sich Fehler enthält.

"Ihr haltet die Alge für einfacher, folglich primitiver und folglich niedriger als den Adler. Diese Alge aber setzt die Photonen der Sonne in die Verbindungen ihres Körpers ein, sie wandelt den Niederschlag kosmischer Energie direkt in Leben um, und sie wird deshalb weiter leben, bis die Sonne stirbt; sie nährt sich von einem Stern, doch wovon nährt sich der Adler? Von Mäusen, als ihr Parasit; ... und so findet auf allen Ebenen dieser Hierarchien ein ständiger Austausch zwischen den Gattungen statt, die einander die Waage halten, indem sie sich gegenseitig fressen, denn sie haben die Verbindung zu dem Stern verloren, und nicht an ihm, sondern an sich selbst mästet sich die höhere Komplexität der Organismen;" (S.54)

Was die Menschheit bisher technisch gebaut habe, hätte nur spätere Schöpfungen der Evolution imitiert, während die Beherrschung der Photosynthese und die Beherrschung des genetischen Codes selbst in weiter Ferne lägen. Nun ist die Entstehung des Lebens bis heute ungeklärt, und ob der Photosynthese tatsächlich diese Bedeutung in der Evolution zukommt, die Lem ihr unterstellt, muss hier offenbleiben. Immerhin hat Lem mit seiner Vorstellung recht, dass noch in diesem Jahrhundert der "Angriff auf den Code" erfolgen wird (S.75). Dass das Nervensystem entstanden sei, um für den evolutionär zusammengeflickten Körper eine Art Aufsicht zu führen, ist wiederum die Grundlage für die Ausbildung des Bewusstseins - die Vernunft sei also nichts weiter als ein "katastrophaler Defekt" der Evolution, nichts, was man im Lichte der Kultur idealisieren könne. Ob die Vernunft auch nur als Teil einer misslungenen Evolutionsgeschichte zu sehen ist, sei nicht weiter kommentiert, aber sie wird für Lem zum Ausgangspunkt, mit der "Autoevolution" der Menschheit zu beginnen, mit der experimentellen Kulturogenese.

"Euch aber wird nicht das geringste daran liegen, über einen Code zu verfügen, der nichts anderes kann als sich weiter zu vervielfältigen und eine Generation von Boten auf die andere folgen zu lassen. Ihr werdet in eine andere Richtung zielen, ... Ihr werdet also den Code auf neue Wege führen, heraus aus der Monotonie des Proteins, aus dieser Spalte, in der er sich schon im Archäozoikum verfangen hatte. ... er wird für euch in alle Ebenen der Materie eindringen, wird bis auf den Nullpunkt heruntergehen und zugleich nach dem Feuer der Sterne greifen;" (S.77/8)

Das Schweigen des Kosmos

Der Golem führt eine interessante Perspektive für das Problem des schweigenden Universums an. Die bisherigen Versuche der Menschen, nach Zeichen außerirdischer Intelligenzen zu suchen, sind von einer gewissen Naivität geprägt. Die höheren Vernunftformen, die in diesem zahlreich existieren können, brächten als ihren Höhepunkt möglicherweise die "nukleare Psychophysik eines intelligenten Sterns" hervor.

"Die evoluierende Vernunft schafft Artefakte, die, je weiter sie in ihrer Entwicklung voranschreitet, umso schwieriger vom kosmischen Hintergrund zu unterscheiden sind, und zwar nicht, weil sie etwas zu maskieren trachtete, sondern vielmehr aus der Natur der Sache heraus, denn bei starren Konstruktionen oder maschinenähnlichen Objekten steht die Effizienz in einem umgekehrten Verhältnis zur Größe des Unternehmens. ... Um unter Sternen unversehrt zu bleiben, muss man ein Stern sein, ..." (S.142)

Dessen Wirken sei zwar sichtbar, könne aber nicht als Produkt einer fremden Intelligenzform verstanden werden, wenn man nur davon ausgeht, dass eine solche sich die Form einer Kultur mit Zeichen geben müsse. Golem bleibt hier selbst im Modus der Spekulation, da sich eine Intelligenz dieser Gestalt seinem eigenen Verständnis völlig entziehen würde. Vielleicht sind die stellaren Explosionen der Endpunkt einer Astroingenieurskunst, die mit ungeheurer Dramatik Energien in intelligente Prozesse lenkt, bevor der Ausbruch aus diesem Universum gelinkt.

Im Zeichen des GoLem

"Also sprach GOLEM" ist ein Grenzfall - ein Ideenroman, ein philosophisches Werk, ein literarisches Experiment. Der von Lem favorisierte "Realismus des dritten Typus" ist in der SF ansonsten unerreicht und eine Episode geblieben. Es ist leicht dahergesagt, die Grenzen der Phantasie ausloten zu wollen. Lem hat diesen Anspruch formuliert, ihn aber auch eingelöst. Er hat sich um die Erweiterung der phantastischen Literatur verdient gemacht.

Lem hat in einem Interview gesagt, dass seine Stimme nicht mit der des Golem identisch sei. Doch abgesehen von der zufälligen (?) Namensangleichung (Go-Lem), hat ihm schon ein befreundeter polnischer Schriftsteller gesagt, dass man in dem Buch auch etwas von der Befindlichkeit Lems selbst erfahren könne. Das Werk ist auch eine Allegorie auf seine Schriftstellerexistenz: die isolierte Arbeit an Erkenntnisgegenständen, deren Wichtigkeit man erkannt hat und hinter deren Wahrheit man nicht zurückfallen kann, auch wenn sie von der Umwelt nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit bedacht werden. Lems Selbstbewusstsein ist sicherlich recht ausgeprägt, sonst wäre er vermutlich nicht zu seiner jahrzehntelangen Arbeit fähig gewesen. Der Aufsteig zum nicht geplanten "Genie" ist voller Risiken, die denen, die auf einer niedrigeren Erkenntnisstufe stehen bleiben, für immer verborgen bleiben. Die Lage erschwerend kommt hinzu, dass die Kommunikation mit anderen, die eine ähnliche Stufe erreicht haben, nicht gelingen kann. Lem verachtet wohl das "Gewusel der menschlichen Vernunft", wenn er seinen Golem sagen lässt, dass es eigentlich optimal wäre, wenn tausende Golems, also Lems, Ontogonie und andere Forschungen betreiben würden.

"Also sprach GOLEM" ist aus einer Position der Einsamkeit geschrieben in dem Bewusstsein, an die Grenze des Verstehens und der eigenen Fähigkeiten angelangt zu sein und sie nicht überschreiten zu können, ja, sie nicht mehr überschreiten zu wollen. So richtet Lem seine Flaschenpost an die Nachkommen einer ferneren Zukunft, um Golems Erbe einzulösen und in seiner Spekulationskraft zu übertreffen. Seine Beendigung der belletristischen Arbeit ein paar Jahre nach Golem wird hier plausibel. Vielleicht ist Lem aber auch an seinem Elitismus gescheitert, der kaum erträglich wird, wenn er trotz seiner unzweifelhaften Leistungen nicht auch sein mögliches Scheitern, seine Ohnmacht mitdenken und die Wunschströme der Phantasie als solche hochhalten kann, auch wenn sie nicht realitätsmächtig werden.