Ein Untergang mit fliegenden Fahnen

Das Ende des Pop-Sommers 1982 und der Zeitschrift SOUNDS zeigten, wie schmerzlich schön das Scheitern doch sein kann

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Popsommer 1982 jährt sich zum zwanzigsten Mal - eine Reminiszenz an bessere Zeiten, Teil 2 (Vgl.Die Romantik einer Revolution)

Synthesizer waren nicht die einzigen Instrumente, zu denen die Herzen tanzten. Ein sehr wichtiger Faktor war die "Compact"-Organisation , die maßgeblich von ihrem Gründer Tot Taylor bestimmt wurde. Taylor liebte frühen Girlgroup-Pop, Motown, Burt Bacharach, Cole Porter und brachte diese Einflüsse in seine Acts ein. Schon Taylors eigene Werke sind heute schwer zu bekommen. Wer aber den Sampler "A Young Person`s Guide to Compact" als Doppel-LP-Box besitzt, der ist wirklich reich. Ein unbezahlbares Sammlerstück, unglaublich luxuriös/liebevoll ausgestattet mit zusätzlichen Postern, Postkarten etc. Alles im Originaldesign der frühen 60er-Jahre. Wahrer Genuss ohne Reue. Auf den vielfältigen Platten findet sich neben strahlendem, glamourösem Filmscore-Pop von den Beautiful Americans (genialer Name!) auch überdrehte B-52`s-Elektronik wie Shake Shake oder der kühle Girl-Pop der Schwedin Virna Lindt.

Die Compact-Frontfrau Mari Wilson machte einige großartige Singles und die wunderbare LP "Showpeople", die erst Anfang 1983 herauskam. Tot Taylor schrieb dafür unter dem Pseudonym Teddy Johns die Songs. Wilson spielt heute Dusty Springfield, eine andere vergangene Heroine, in einem Musical in London. Ende 1981 wurden bei der ersten Reissue-Welle der Popgeschichte ca. 100 klassische Motownplatten aus den 60er und frühen 70er Jahren neuaufgelegt. Schwarze Musik, insbesondere Funk, Soul und Latin, sollten viele Gruppen des Popjahrgangs 1982 dann nachhaltig prägen.

Über allem anderen stehen dabei ABC und die Dexy's Midnight Runners. ABC waren ursprünglich eine mittelmäßige Synthiband namens Vice Versa. Als Sänger Martin Fry zu ihnen stieß, benannte man sich um und entwickelte eine Vision: Die größte Showband auf Erden werden und in Konkurrenz zu den etablierten Glamourstars treten, obwohl man nur ein nordenglischer Arbeiterjunge ist. GROSSZÜGIG. Zuerst hatten sie noch den schweren Funk, wie es 1981 Mode war (die Debüt-Single "Tears are not enough" und die B-Seite "Alphabet Soup"), bald wechselte man aber über zum Breitwand-Disco-Soul-Pop. Mit Produzent Trevor Horn, dem Buggles-Mann ("Video killed the Radiostar") kam zunächst "Poison Arrow" (auf der Rückseite "Theme from Man-Trap", eine wehmütige Piano-Version) und dann "The Look of Love", das jeder von einschlägigen Samplern kennt. "Kühn, leidenschaftlich, umwerfend, mächtig, elegant, vornehm, britisch", jubilierte Kid P. dazu in SOUNDS. Das "Lexicon of Love"-Album war eine Platte, die nur aus Hits bestand (besonders gut auch noch "All of my Heart") und das Münchner Konzert im Januar 1983 ein Gänsehaut-Erlebnis der besonderen Art. Obwohl Fry damals schon längeres Nackenhaar hatte.

Über die DexyŽs Midnight Runners gibt es ebenfalls kaum mehr als Superlative. Wie bereits "Searching for the Young Soul Rebels" von 1980 ist "Too-Rye-Ay" eine der Platten, die Dein Leben ändern konnten, wie man so sagte. Markerschütternde Melodien und Bläsersätze, ein manischer Sänger und dazu ein gewagtes Latzhosen-Image, das dem stilbewussten Hipster so einiges abverlangte. Kevin Rowland propagierte mit den "Celtic Soul Brothers" oder "Plan B" radikal den keltischen Soul, vergessen wir aber nicht die schottische Seele. Orange Juice war auch so eine Band, die 1981/82 das Leben schöner machte. "You can`t hide your Love forever", die fantastische Debütplatte, die im Januar 1982 herauskam, enthielt mit "Felicity" eines der besten Gitarrenpop-Stücke aller Zeiten und eine rührend-unbeholfene Coverversion des 75er Al-Green-Klassikers "L.O.V.E. Love".

Im Sommer 82 kam mit Zeke Manyika ein schwarzer Drummer, der bei der Single "Two Hearts together" andere Rhythmen einbrachte. Wie Frontmann Edwyn Collins, den Nachgeborene nur mehr von "A Girl like you" kennen, erst viel später zugab, war dann die zweite Platte "Rip it up" durchaus eine Reaktion auf Erfolge anderer Popbands und der Versuch, auch einen echten Charthit zu landen. "I can`t help myself" oder "Flesh of my Flesh" (schmelz) sind keine kommerziellen Riesenerfolge geworden, aber wunderbare Stücke mit viel Soul.

Die fidelen Popper von Haircut 100 machten auf "Pelican West" sehr schönen Funk-Latin-Pop. Sänger Nick Heyward war einer der gutaussehendsten Popstars. "Favourite Shirts", "Love Plus One" und "Nobody`s Fool" sprechen für sich. Auch Aztec Camera mit dem blutjungen Roddy Frame spielten auf "High Land, Hard Rain" mit "Oblivious", "Pillar to Post" und besonders "Walk out to Winter" makellosen Gitarrenpop. Die aparte kleine Clare Grogan mit ihrer Band Altered Images für große und kleine Kinder ("I could be happy") hatte es dem guten Kid P. auch ziemlich angetan. Heute vermutlich nicht mehr so ganz.

Der vor ein paar Jahren verstorbene Billy MacKenzie ist auch so eine große, vergessene Stimme, die viele wohl nur von Yello-Stücken wie "The Rythm Divine" kennen. Zu unrecht, denn die Associates hatten mit "Sulk" eine der Platten des Jahres 1982. Divenhafter, dramatischer Bombast-Pop und mit "Party fears two", "Club Country" und "18 Carat Love Affair" herausragende Hits. Culture Club mit dem Hip-Transvestiten Boy George (der deutsche Hip-Transvestit Dirk Bach trug bei seinen Statements in der RTL-Show übrigens passenderweise ein Boy-George-T-Shirt) sind eine der Bands, die Latin-Einflüsse verarbeiteten. Ihr Debüt "Kissing to be clever" enthält neben dem Schmusehit "Do you really want to hurt me" beispielsweise "I`m afraid of me". Blue Rondo A La Turk`s "Chewing the Fat" (uaah) hätte man ein paar Jahre später unter Acid Jazz eingeordnet. Eine groovende Melange aus Jazz, Swing, Samba, Soca, Funk und Soul. Mark Reilly und Danny White, später bei der Yuppie-Band Matt Bianco ("Half a Minute"), musizierten da schon mit.

Zu nennen wären noch "Select" von Kim Wilde, Spandau Ballet mit dem "Diamond"-Album und der "Lifeline"-Single, die wunderbaren (ich weiß, dass ich mich wiederhole) Monochrome Set mit "Eligible Bachelors", Marvin Gayes Comeback "Sexual Healing", Kid Creole & The Coconuts, Wham! und einige andere. Der allererste KENT-Northern-Soul-Sampler For Dancers only stammt übrigens auch von 1982. Er ist nicht einer der besten Kents generell, aber mit Sicherheit ein Einfluss auf die eklektizistische Szene damals gewesen. Nicht zu vergessen die erste Oldschool-HipHop-Welle mit Grandmaster Flash, Kurtis Blow (der damals mit Palais Schaumburg durch die BRD tourte) und Captain Sensible ("Wot!"). Das alles konnte sich in seiner Pracht natürlich nicht lange halten. Wie ein Kirschbaum leider eben auch nur ein paar Wochen blühen kann.

Cover der letzten Ausgabe von SOUNDS

SOUNDS ging Anfang 1983 ein. Mit dem popistischen Kurs und der (berechtigten) Verdammung der degenerierten NDW hatte man sich schlussendlich zwischen alle Stühle gesetzt. Die Hippies in der alten Leserschaft waren eh schon seit der Redaktionsumbesetzung 1979 vergrätzt worden, die Punker und Waver konnten Titelbilder mit Haircut 100 und ABC ebenfalls nicht ab. Und die Plattenindustrie schaltete weniger Anzeigen. Als Fanzine ohne großen Apparat hätte man bei sinkenden Abo- und Werbeeinnahmen finanziell überleben können, deshalb konnte es der kleinen Spex gelingen, in Folge der SOUNDS-Pleite zu wachsen und fast alle relevanten Schreiber für sich zu gewinnen. Der letzte Kid-P-Superlativ war übrigens die monumentale Fehleinschätzung, die ihm bei der Rezension von Jackos "Thriller"-LP unterlief: "Diese Platte wird/darf keinen erregen". Ach ja.

Was bleibt? Pop im guten, alten Sinne hat sich danach schrittweise der Verantwortung entzogen. "The Luxury Gap" von Heaven 17 war im April 1983 in gewisser Hinsicht das Ende des Sommers. Die Eurythmics und Frankie goes to Hollywood führten danach Popism ad absurdum. Die Smiths sind längst Geschichte. Die Brit-Popper Blur bekamen nach zwei großen Platten ("Modern Life is Rubbish" und "Parklife") ein schlechtes Gewissen und wurden Rocker wie Oasis. Die letzte Pulp We love Life war die Enttäuschung des letzten Jahres. Schnöder, langweiliger Artpop - das nach dem glitzernden "Different Class" und (mit Abstrichen) "This is Hardcore".

Stattdessen lassen sich heute Typen, die zu faul sind, Sekretärin oder Fliesenleger zu werden, im "Popstars"-Bootcamp von dicken Schwarzen wie Detlef "Dee" Soest zu seelenlosen Hüpfdohlen drillen, die sich prima verwerten lassen (Vgl.Es ist geil ein Arschloch zu sein oder Blödheit als "geistiges Eigentum"). Die verdienten Pet Shop Boys, die das 82er Erbe neben den Blow Monkeys noch am ehesten fortgeführt haben, haben jetzt eine neue CD ("Release") und mit ihrer bitteren Einschätzung der Lage so ziemlich recht. Und HipHop? Rap ist heute die maßgeschneiderte Mucke für Prolls, wie seinerzeit Hardrock/Heavy Metal. Daneben sollte es aber bitteschön noch Musik geben, die das Leben mit Gabi Zimmer, Guido Westerwelle und Claudia Roth etwas erträglicher macht.

"Rip it up and start again!" (Orange Juice 1982)

Der Autor dankt Peter Mühlbauer und Jan Strcelczyk für Inspiration sowie Moritz Rrr für die freundliche Genehmigung zur Abbildung des Depeche- Covers in Teil 1.