Ein Wort zur Überwachung

Ad Enfopol: Weder Paranoia schüren, noch Gefahren verharmlosen.

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Die Verschiebung des EU-Ratsbeschlusses über die Enfopol-Überwachungspläne markiert einen wichtigen Etappensieg. Nicht dass wir diesen für uns allein beanspruchen wollen. Doch ohne falsche Bescheidenheit läßt sich sagen, daß Telepolis mit den ersten Artikeln im November 1998 und der Veröffentlichung des Enfopol 98 Papiers den Stein ins Rollen gebracht hat. Sie, liebe Leserinnen und Leser, haben zur Verbreitung dieser alarmierenden Nachrichten beigetragen und wir möchten Ihnen an dieser Stelle für Ihre Aufmerksamkeit und Interesse danken. Doch es besteht kein Grund für verfrühten Jubel, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Während der EU-Bürokratietiger vorübergehend beschwichtigt erscheint, bleibt der Druck auf Individuen bestehen und droht die Aushöhlung demokratischer Freiheiten nicht nur von Seiten einer unkontrollierbaren Techno-Bürokratie.

Es scheint leider der Fall zu sein, daß Themen wie Überwachung des Telekommunikationsverkehrs nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die es benötigen würde, um Fehlentwicklungen wirkungsvoll entgegenzuarbeiten. Die deutsche Presse hat Enfopol weitgehend verschlafen. Man kann nur Spekulationen darüber anstellen, warum dem so ist. Möglicherweise fehlt in den Redaktionen das Verständnis für Sachzusammenhänge und es wird die fatale Fehlannahme getroffen, das beträfe "nur" Computernerds. Es ist allerdings schon eher journalistische Fahrlässigkeit, wenn die Recherche von Journalisten, durch Telepolis oder die Freedom For Links Kampagne aufmerksam geworden, sich darauf beschränkt, einmal beim Bundesinnenministerium anzurufen und sich von der dort erhaltenen Auskunft, das sei ja "nur" ein Update eines bereits 1995 gefassten Ratsbeschlusses, ruhig stellen zu lassen.

Dann scheint es auch, nicht nur bei der Presse, diese Haltung zu geben, was denn eigentlich so schlimm an Überwachungsmöglichkeiten der "gesetzlich ermächtigten Behörden" sei, die schliesslich nichts anderes tun, als ihrer Arbeit nachzugehen, die in unser aller Interesse ist und sich gegen organisiertes Verbrechen, Kinderpornographie, etc., richtet. Wer dagegen etwas hat, müsse für Verbrechen und Kinderpornographie sein. Nicht nur ist das moralische Erpressung, sondern es geht, im Falle der Enfopol Affäre, schlicht an einigen wichtigen Tatsachen vorbei. Ohne die ganzen Fakten und Argumente wieder aufrollen zu wollen, die in der Berichterstattung von Christiane Schulzki-Haddouti, Erich Möchel und Duncan Campbell vorgebracht wurden, läßt sich zusammenfassend sagen, daß es eine Vielzahl von Gründen gibt, warum die Sache zum Himmel stinkt: die geheimniskrämerische Art und Weise, wie bereits der erste Ratsbeschluss 1995 unter FBI-Einfluss zustande kam; die Vermischung von Geheimdienst- und Polizeiinteressen; der ökonomische Aspekt einer indirekten "Überwachungssteuer", die letztlich von den Nutzern bezahlt wird; der Mangel an Kontrollmöglichkeiten über Ergebnisse von Überwachungsmassnahmen; die potentiellen Sicherheitsrisiken durch Überwachungsschnittstellen; der Export von Überwachungsgesetzgebung und -Technologien in totalitär regierte Länder; potentielle Schäden durch Wirtschaftsspionage usw.. Dies alles sind handfeste Gründe, um gegen die vorgeschlagenen Massnahmen zu sein, dazu muss man sich nicht erst auf den moralischen Hochsitz der Diskussion allgemeiner Bürgerrechte und Grundfreiheiten begeben.

Ich muss persönlich zugeben, daß ich in manchen Phasen der Berichterstattung, obwohl grundsätzlich überzeugt, richtig zu handeln und weder Sensationsjournalismus zu betreiben, noch Überwachungsparanoia zu schüren, Gefahr lief, die Relevanz der Angelegenheit zu unterschätzen. Bei soviel Berichterstattung über Überwachungsthemen und verwandte Bereiche, nicht nur bezüglich Enfopol sondern auch Datenschutz, Telekommunikationsüberwachungsverordnung, Kryptoregulierung, kann sich so etwas wie Überwachungsmüdigkeit einstellen. Was ist schliesslich so ein EU-Ratsbeschluss wert, er muss ja ohnehin erst in nationales Recht umgesetzt werden, um reale Auswirkungen zu haben. Ein Schlüsselmoment, der diese Anfälle des Schwächelns zu überwinden half, war, als ungefähr zeitgleich Duncan Campbells Bericht über ILETS - die geheime Hand hinter Enfopol, und Christiane Schulzki-Haddoutis Bericht über die Revision der deutschen Telekommunikationsüberwachungsverordnung erschien. Da wurde einerseits erläutert, wie die International User Requirements (IUR) unter FBI-Einfluss und in einer klandestinen Polizeiarbeitsgruppe zustande kamen, und wie diese IUR nun tatsächlich Einfluss auf deutsche Gesetzgebung haben, indem sich ein für die TKÜV zuständiger Beamter darauf berief, daß unter anderem wegen dieser IUR nur geringer Spielraum für eine liberalere und bürgerfreundlichere TKÜV bestehe. Zieht man dann noch in Betracht, daß die selben IUR nun bereits am Weg durch die Standardisierungsinstanzen für Telekommunikationsgeräte sind und Überwachungsschnittstellen bald zum Bestandteil aller serienmässigen Telekommunikationsanlagen werden könnten, da wurde klar, daß Enfopol, auch wenn es nur Codename für bestimmte EU-Papiere ist, alles andere als ein Papiertiger ist. Wie sich daraus ableiten ließ, ist die Arbeitsgruppe für polizeiliche Zusammenarbeit schon viel weiter, als in den schlimmsten Befürchtungen angenommen.

Es gibt aber auch das andere Extrem: die übertriebene Furcht vor dem totalen Überwachungsstaat, die schliesslich in die Resignation führt; die von manchen Leserstimmen im Forum zum Ausdruck gebrachte Angst, daß der totale Überwachungsstaat bereits Realität ist und der einzelne Bürger dem völlig hilflos ausgesetzt ist. Wie unter anderem die Verschiebung der Enfopol-Resolution nun zeigt, ist ein wenig mehr Vertrauen in die Demokratie und Optimismus bezüglich der Möglichkeiten des Einzelnen angebracht. Resignation führt nur in die Isolation, Handlungsmöglichkeiten sind durchaus gegeben und das Internet ist ein sehr geeignetes Instrument, um Sammelbecken für Bürgerprotest herzustellen. Selbst wenn es manchmal so aussieht, als wäre "Widerstand zwecklos", so kann auch ein noch so kleines Sandkorn die Mühlen der mächtigen EU-Bürokratie zumindest vorübergehend blockieren und eine wichtige Denkpause erzwingen. Genau das ist geschehen. Es gibt keinen Grund, die Sektkorken knallen zu lassen, aber man kann zumindest ein wenig still in sich hineinlächeln, der ganze Aufwand war nicht nur für den Papierkorb am Desktop.

Zugleich bedeutet "aufgeschoben ja nicht aufgehoben". Die Indifferenz der Mainstream-Presse wird uns erhalten bleiben und geschickte Technokraten werden weiterhin versuchen, alle juristisch-technischen Möglichkeiten auszuschöpfen, während die Protestfront wenig organisiert und sehr fragmentiert erscheint. Es geht hier nicht um Politik alten Stils. Kein Info-Proletariat wird sich weltweit organisieren, um der Info-Elite die Macht zu entreissen. Die Konfliktlinien ziehen sich quer durch Gesellschafts- und Einkommensschichten, verschiedene Niveaus technischen Wissens und Awareness-Levels bezüglich der Bedeutung elektronischer Bürgerrechte. Bei manchen Enfopol- und Überwachungsgegnern besteht die Gefahr, sich der politischen Blauäugigkeit im Stile der amerikanischen Electronic Frontier Foundation anzuschliessen. Diese erscheint manchmal wie das Cyber-Äquivalent der National Rifle Association. Propagieren die einen das Recht auf den Besitz von Feuerwaffen um jeden Preise und gegen jede Erfahrung und Vernunft, so ist es bei den anderen ein amerikanisch-fundamentalistisches Verständnis von "free speech", das letztlich dazu führt, die "Rechte" texanischer Porno-site-Betreiber und kanadischer Neonazis zu wahren. Bei den Waffenbrüdern ebenso wie den Free-Speech-Fanatikern paart sich dies mit einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Staat und finanzielle Lobby-Interessen von Industrien. Durch den Import der Internet-Diskussion nach Europa verbreiten sich auch hier diese Anti-Staats-Ideen. Der oft wie taub und blind agierende Superstaat EU scheint alle Bedenken gegen staatlichen und bürokratischen Machtmissbrauch noch zu unterstützen. Doch die Anti-Staatlichkeit könnte letztlich zum Eigentor werden. Wer schließlich, als der Staat, kann uns vor der Macht multinationaler Konzerne beschützen? Gemessen am Umsatz, bzw. Bruttonationalprodukt, sind die Hälfte der weltweit größten Wirtschaften bereits nicht mehr Staaten, sondern Konzerne. Anders als die Staaten, deren politische Führer ihren Bürgern Rechenschaft schuldig sind, sind diese Unternehmen allein dem Shareholder-Value verpflichtet. Bei aller Wachsamkeit gegenüber politischen Fehlentwicklungen ist die selbe Wachsamkeit gegenüber antidemokratischen Tendenzen geboten, die von solchen Mega-Unternehmen ausgehen.

Faktum ist, daß das Individuum zunehmendem Druck von verschiedenen Seiten ausgesetzt ist, dem Überwachungsstaat, dem Big Brother am Arbeitsplatz. Trotz dieser Tendenzen wird die Welt nicht von Multinationals regiert und auch nicht von totalitären Staaten oder NATO-Bombern. Ob als Bürger oder Mitarbeiter haben wir die Möglichkeit, immer wieder, trotzig, fest und auch optimistisch zu behaupten: "Der Staat sind wir, die Firma sind wir." Unter diesem Ausgangspunkt können Interessen auch gegenüber übermächtig erscheinenden Instanzen vertreten werden. Das ist nicht einfach, dazu sind komplexe soziale Verhandlungen nötig. Aber es ist "möglich", und das genügt, um in diesem Sinne weiterzumachen.