Ein hastiger Blick auf ein zeitloses Phänomen

Wolfgang Sofsky äußert sich erneut zu Fragen der Gewalt

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Wer das neueste Buch von Wolfgang Sofsky in die Hand nimmt, kann, so lässt es der Titel vermuten, Antworten auf alles erwarten: auf die Anschläge des 11. September, den Krieg in Afghanistan, ja vielleicht sogar den Amoklauf in Erfurt: "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", so lautet das vielversprechende Werk. Was offensichtlich der Anbiederung an den Zeitgeist geschuldet ist, läuft bei genauerer Betrachtung allerdings gegen die Intention des Autors. Denn der deutsche Soziologe beschreibt in seinem neuesten Buch Gewalt weniger aus aktueller oder historischer Sicht, sondern aus ahistorischer Perspektive. Gewalt, so lautet eine der Thesen des Buches, ist eine Grundkonstante sozialen Lebens. Und als solche möchte Sofsky sie beschreiben.

"Traktat über die Gewalt" hieß Wolfgang Sofskys letztes Werk und "Zeiten des Schreckens" kann man in gewisser Weise als eine Fortsetzung davon lesen. Mit einer nicht zu unterschätzenden Verschiebung in der Thematik. Denn während das "Traktat" sich dem Paradox widmet, dass die Kultur, die eigentlich die Gewalt ausmerzen soll, sie zugleich stiftet, geht das neue Buch einen Schritt weiter. Statt sich auf die kulturellen Äußerungen der Gesellschaft zu fixieren, kommt diese nun selbst in den Blick. Denn "Gewalt ist in den Grundformen des Sozialen systematisch eingeschrieben". Folglich dreht sich das Paradox, an dem sich Sofsky diesmal abarbeitet, um das zentrale Element von Gesellschaft, die Ordnung.

"Ordnung ist eine notwendige Bedingung der Eindämmung von Gewalt; aber umgekehrt sind Verfolgung und Gewalt notwendige Bedingungen für den Bestand der Ordnung".

Wo sich also Sozialformen bilden, ist die Gewalt schon anwesend. Mit dieser Prämisse kann Sofsky kursierende Theorien über den Ursprung von Gewalt von vorneherein als Ideologien ablehnen, da sie im Diskurs über Gewalt "zum Verlust des Realitätssinn, zur Verleumdung dessen, womit unter Menschen zu rechnen ist", führen. Genetische, pathologische oder instrumentelle Theorien der Gewalt führen zwar zu plausiblen Geschichten, so der Soziologe, nicht aber zu Erklärungen. Dabei zielt die antrophologische Beschreibung, so wie Sofsky sie anwendet und versteht, weniger auf den Sinn, als auf die Formen sozialen Verhaltens:

"Weniger am Einzelfall ist sie interessiert als an den sozialen Universalien, an jenen Formen des Sozialen mithin, die unabhängig voneinander entstehen, an weit voneinander entfernten Orten und Zeiten. Nicht historische Ereignisse stehen im Vordergrund, sondern jene Tatsachen, welche jeder Geschichte zugrunde liegen."

Der Bogen, den Sofsky mit dieser Perspektive in seinem Buch schlägt, reicht weit. Er führt vom Tötungsakt des Einzelnen bis zu den Gemeinschaftsformen der Gewalt wie Terror oder Krieg, kümmert sich um Amok und Attentat ebenso wie um Sturmlauf und Schändung. Dass Sofsky bei seiner Beschreibung der Gewalt häufig überraschende Erkenntnisse zu Tage fördert, liegt an einer gewissen, essayistisch motivierten Unbekümmertheit in der Quellenbenutzung: da werden historische Daten mit ethymologischen Ergebnissen oder Bildbeschreibung aus der Kunstgeschichte zu einem dichten, an manchen Stellen prosahaften Text zusammengefügt. So gelingt ihm im Kapitel "Terrorzeit" einen beeindruckenden Blick auf die Zeitstruktur unterschiedlicher Gewaltformen:

"Terrorzeit ist keine gemeinsame Zeit. Was dem Beobachter als einheitliche Zeitform erscheint, ist in Wahrheit ein radikaler Antagonismus. Der sozialen Asymmetrie der Gewalt entspricht die Asymmetrie der Zeit. Die Zeit der Tat ist eine ganz andere als die Zeit des Leidens. Der Attentäter bereitet den Anschlag gründlich vor, er wartet geduldig den Zeitpunkt ab, schlägt blitzartig zu und verschwindet. Die Opfer hingegen sind im Nu überwältigt. Wer überlebt, benötigt lange Zeit, um zu begreifen, was geschehen ist."

Doch was die Stärke des Buches ist, ist zugleich auch seine Schwäche. Denn je näher Sofsky in seinen quasiliterarischen Annäherungen einer Gewaltform kommt, je näher ist er auch der "plausiblen Geschichte", die er selbst zuvor abgelehnt hat. Da gibt es keine Zweifel, keine Widerhaken, kein Einspruch, sondern nur die Eindeutigkeit des Geschehens. Zudem formuliert Sofsky, trotz aller Ablehnungen von theoretischen Begründungen, in "Zeiten des Schreckens" dennoch eine These. Der Ursprung der Gewalt ist seines Erachtens nach die Gewalt selbst:

"Die Verwandlung normaler Menschen in Massenmörder benötigt wenig Zeit und Überwindung, Denn sie erlernen die Gewalt im Prozess der Gewalt selbst."

Mit dem Schlusskapitel nimmt das Buch eine überraschende Wendung. Denn hinter dem schlichten Titel "Nachwirkungen" beschäftigt sich Sofsky mit dem Umgang der Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit. Die dort versammelten drei Texte sind für sich allein betrachtet präzise argumentierte und streckenweise höchst spannende Repliken auf die hierzulande herrschende Gedenkmoral. Doch im Kontext des gesamten Buches erscheinen sie als Fremdkörper. Hier lässt sich Sofsky mit einem Mal auf jene historische Perspektive ein, die ihn zuvor keinesfalls interessiert. So scheint am Ende, dass eine aus Aktualitätsgründen wohl allzu überhastete Veröffentlichung des Buches die Qualität mindert, die viele der dort versammelten Texte, für sich genommen, haben.

Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. S.Fischer. Frankfurt/Main 2002. 19,90 EUR