Gruppenvergewaltigungen in Berlin: Was die Statistik wirklich aussagt
Real mehr als 111 Taten oder weniger? Der Schlüssel, unter dem Sexualdelikte mit mehreren Tätern erfasst werden, ist ungenau. Kriminologen sehen großes Dunkelfeld.
Wie viele Gruppenvergewaltigungen es 2023 tatsächlich in der deutschen Hauptstadt gab, wird in der vieldiskutierten Polizeilichen Kriminalstatistik nicht beantwortet.
Dunkelfeld: Keine Anzeige, keine registrierte Vergewaltigung
Bekannt ist nur: 111 Vergewaltigungen durch mehr als einen Täter sind im vergangenen Jahr von der Polizei in Berlin registriert worden – ein Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren ab 2020, als die Zahl solcher Taten in der Kriminalstatistik zwischen 89 und 106 geschwankt hatte. Das geht aus einer Antwort des Senats auf eine Anfrage der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus hervor.
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Die Senatsverwaltung für Inneres spricht darin von "Schwankungen auf einem relativ gleichbleibenden Niveau" und betont, das Bekanntwerden solcher Sexualdelikte "deutlich von der Anzeigebereitschaft der Opfer abhängig" und der konkrete Tatablauf "häufig sehr individuell".
37 minderjährige Opfer möglicher Gruppenvergewaltigungen
37 der registrierten Opfer waren minderjährig, die meisten im Alter von 14 bis 15 Jahren, insgesamt neun aber auch zum Teil deutlich darunter, in einem Fall sogar unter sechs Jahre.
Ein räumlicher Schwerpunkt ist dabei laut Antwort der Senatsverwaltung nicht erkennbar. Allerdings finde eine Vielzahl entsprechender Tagen "in geschlossenen Räumen" – vor allem Mehrfamilienhäusern – oder in "unbekannter Tatörtlichkeit" statt.
54 Prozent der Verdächtigen sind ausländische Staatsangehörige
Von 106 Tatverdächtigen, die ermittelt wurden, waren 25 jünger als 18 Jahre, 28 weitere Verdächtige zwischen 18 und 24 Jahren alt. Der Anteil der Verdächtigen mit ausländischer Staatsangehörigkeit lag bei 54 Prozent. Im Vorjahr waren dies 65 Prozent gewesen, davor 44 beziehungsweise 51 Prozent.
Vor allem die Herkunft und der kulturelle Hintergrund der Täter sorgen nun in der Öffentlichkeit für Diskussionen – linken Feministinnen wird vorgeworfen, nicht darüber reden zu wollen. Aber auch der Schlüssel, unter dem die Taten in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS-Schlüssel) erfasst werden, schafft Unklarheiten.
PKS-Schlüssel: Mehrere Täter nicht immer Gruppenvergewaltigung
Gemäß bundesweiter Vereinbarung werden "Vergewaltigungen durch Gruppen" nämlich seit 2018 nicht mehr mit einem gesonderten PKS-Schlüssel, sondern unter "Vergewaltigung" (PKS-Schlüssel 111700) erfasst. Über das Fallmerkmal "Tatverdächtige alleinhandelnd = nein" können Fälle mit mehr als einer tatverdächtigen Person ausgewiesen werden.
"Hierbei muss es sich nicht zwingend um "Gruppenvergewaltigungen" handeln", betont die Senatsverwaltung. Unter den 111 erfassten Taten sind demnach sowohl Gruppenvergewaltigungen als auch andere "Vergewaltigungen durch nicht alleinhandelnde tatverdächtige Personen" – also beispielsweise Mittäter, die geholfen haben, das Opfer in eine Falle zu locken.
Bundesweit waren 2022 in der PKS 789 Taten unter diesem Schlüssel mit entsprechendem Fallmerkmal erfasst worden, 2021 waren es 677 und davor 704 gewesen. Der Anteil der mutmaßlichen Täter mit ausländischer Staatsbürgerschaft schwankte zwischen 46 und 50 Prozent. Dies ging 2023 aus der Antwort auf eine Anfrage der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag hervor.
Die Bundesregierung führte dazu aus, dass die PKS auf dem Erkenntnisstand bei Abschluss der polizeilichen Ermittlungen beruhe: "Straftaten werden zum Teil von der Polizei, insbesondere wegen des unterschiedlichen Ermittlungsstandes, anders bewertet als von der Staatsanwaltschaft oder den Gerichten". Aktuellere Zahlen sind Gegenstand einer laufenden Anfrage.
Verzichten mehr als 90 Prozent der Opfer auf Anzeigen?
Kriminologen gehen bei Vergewaltigungen generell von einem großen Dunkelfeld aus – vor allem aber, wenn die Täter oder mindestens einer von ihnen aus dem nahen persönlichen Umfeld kommen. Angst, Scham, Abhängigkeiten und Loyalitätskonflikte spielen dabei eine Rolle. In entsprechenden Studien gaben zum Teil mehr als 90 Prozent der mutmaßlichen Opfer an, eine erlebte sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung nicht angezeigt zu haben.
Es könnte also 2023 real mehr als 111 Gruppenvergewaltigungen in Berlin gegeben haben, auch wenn die polizeilich registrierten Sexualdelikte mit mehr als einem Täter nicht alle Gruppenvergewaltigungen waren.
Das Dunkelfeld und die Frage, welche Täter (deutsche oder nichtdeutsche?) häufiger einer Anzeige entgehen, weil sie aus dem persönlichen Umfeld der Opfer kommen, schaffen Raum für Spekulationen.
Redaktioneller Hinweis: Eine frühere Version dieses Artikels enthielt die Zwischenüberschrift: "54 Prozent der Täter mit ausländischer Staatsangehörigkeit". Dies wurde korrigiert, da es sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik um Tatverdächtige handelt, die nicht rechtskräftig verurteilt sind.