Vergewaltigung im Krieg: systematisch, geduldet – oder fast unvermeidbar?

Mahnmal gegen sexualisierte Gewalt im Krieg: Die Friedensstatue in Berlin-Moabit erinnert an zwangsprostituierte "Trostfrauen". Foto: SagaEremit / CC-BY-SA-4.0

Gerade musste der WDR seinen Faktencheck zum Thema sexualisierte Gewalt im Ukraine-Krieg aktualisieren. Doch die Debatte hat sich längst verselbständigt. Was die Beweislage schwierig macht.

Gerade musste der WDR seinen Faktencheck zum Thema sexualisierte Gewalt im Ukraine-Krieg aktualisieren. Die Debatte um die auslösenden Sätze von Sahra Wagenknecht in der Sendung "Hart aber fair" hat sich aber längst verselbständigt.

Das Thema Vergewaltigung im oder nach einem Krieg hat in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder für Kontroversen gesorgt – vor allem die ersten Nachkriegswochen im Jahr 1945 betreffend. Demokratinnen und Demokraten, egal ob links oder bürgerlich, bewegten sich dabei immer im Spannungsfeld zwischen Empathie für die Opfer und der Vermeidung geschichtsrevisionistischer Untertöne.

In Neonaziparteien wie der NPD wurden Fälle sexualisierter Gewalt durch Soldaten der Anti-Hitler-Koalition – vor allem die der sowjetischen – gerne genutzt, um die deutsche Kriegsschuld zu relativieren. Dennoch wandten sich Feministinnen aus den Reihen der linken 1968er-Studierendenbewegung – wie etwa die Filmemacherin Helke Sander 1992 – gegen ein "Beschweigen" dieses Kapitels.

Im Fall des Naziregimes und des japanischen Kaiserreichs waren Vergewaltigungen in Form von Zwangsprostitution – in Lagerbordellen sowie von "Trostfrauen" – zum Teil staatlich organisiert.

In aktuelleren Debatten geht es oft darum, wo die Grenze zwischen sexualisierter Gewalt aufgrund kriegsbedingter Verrohung und ihrem gezielten Einsatz als Mittel psychologischer Kriegsführung verläuft.

Pramila Patten, UN-Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt, sagt mit Blick auf das Vorgehen russischer Truppen in der Ukraine: "Wenn man sieht, dass Frauen und Mädchen tagelang geschlagen und vergewaltigt werden, dann ist das eindeutig eine militärische Strategie."

Eren Keskin: Auch Straflosigkeit kann Strategie sein

Muss es eine Befehlskette geben, um von einer Strategie sprechen zu können? – Nach Auffassung der türkisch-kurdischen Menschenrechtsanwältin Eren Keskin kann auch die systematische Straflosigkeit im Fall solcher Taten eine Strategie und bewusste Staatspolitik sein – sie müssen demnach nicht befohlen werden, wenn die kriegsbedingte Verrohung einsetzt und den Tätern in der Regel keine empfindlichen Strafen drohen. Staat und Militärführung sind dann trotzdem verantwortlich, wenn sie nicht aktiv gegensteuern.

Keskin erhebt den Vorwurf der Straflosigkeit seit mehreren Jahren gegen den türkischen Staat im türkisch-kurdischen Konflikt: In der Regel würden Täter aus Militärkreisen entweder gar nicht belangt oder sehr schnell wieder freigelassen. Straflosigkeit und Verrohung befeuern sich demnach gegenseitig.

Nur bei wenigen Akteuren der letzten Jahre ist die bewusste und gewollte Strategie aber so eindeutig zu belegen wie im Fall der Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS), die sexualisierte Gewalt sogar durch eine Fatwa zum Umgang mit versklavten weiblichen Kriegsgefangenen regelte.

"Soldaten": Wie normal ist die Verrohung?

Sönke Neitzel und Harald Welzer haben sich mit der Verrohung im Krieg am Beispiel der Deutschen beschäftigt. Für das 2011 erschienene Buch "Soldaten" haben sie abgehörte Gespräche deutscher Kriegsgefangener ausgewertet, in denen es um Kriegsverbrechen unterschiedlicher Art ging.

Ihr Fazit: Unter bestimmten Umständen sind die meisten Männer – aber nicht nur die – zu Gewaltexzessen bereit, wenn der "Referenzrahmen" stimmt. So gesehen wären Kriegsverbrechen – einschließlich Vergewaltigungen – im Krieg unvermeidbar und könnten durch Strafen lediglich eingeschränkt werden.

Bezogen auf deutsche Soldaten fand diese Sicht damals Wohlwollen in bürgerlichen Medien wie der Springer-Zeitung Die Welt. In einer Rezension dort hieß es wörtlich:

Der von der Wehrmacht geführte Zweite Weltkrieg ist so normal, wie die Männer normal waren, die ihn geführt haben. Wer glaubt, in dieser Erkenntnis eine Entlastung der Deutschen wahrnehmen zu können, irrt.

Sie räumt lediglich mit der Illusion auf, die Gegenseite hätte einen "guten Krieg" geführt, dessen Brutalität durch die Bösartigkeit des Feindes gerechtfertigt gewesen sei. Die Umstände jedenfalls, die aus "normalen Männern" Menschen mit Freude am Töten machen, sind nicht exklusiv und den Deutschen vorbehalten.


Cora Stephan, Die Welt, 2011

Ein korrigierter Faktencheck und die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen

Aktuell werden im Fall des Ukraine-Kriegs Belege dafür gesammelt, dass sexualisierte Gewalt von russischer Seite nicht einfach auf unvermeidbarer Verrohung beruht, sondern System hat. In diesem Fall von kriegsbedingter Verrohung zu sprechen, wird oft als verharmlosend kritisiert.

Das Wortgefecht bei "Hart aber fair" schlägt seit Anfang der Woche hohe Wellen: Sahra Wagenknecht wird deshalb Empathielosigkeit und Relativierung von Vergewaltigungen vorgeworfen.

Die Linke-Politikerin hatte von Kriegsverbrechen allgemein gesprochen, die auch im Ukraine-Krieg von beiden Seiten begangen würden – andere Talkgäste und Moderator Louis Klamroth hatten zuvor von Vergewaltigungen gesprochen, wobei sie sich vermutlich auf die Zeit nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 bezogen.

Wagenknecht erwähnte daraufhin Berichte, die sich auch die Zeit des vorausgegangenen ukrainischen Bürgerkriegs zwischen Regierungstruppen und prorussischen Milizen von 2014 bis Anfang 2022 im Donbass bezogen. Letzteres ging aber in der hitzigen Debatte – sowohl im Studio als auch nach der Sendung in "Sozialen Netzwerken" – weitgehend unter.

Tatsächlich hieß es 2016 in einem bei der OSZE eingereichten Bericht über das Vorgehen der ukrainischen Kräfte im prorussischen Gebiet:

"Eine absolute Mehrheit der Gefangenen wird Scheinerschießungen unterzogen und erlebt Mord- und Vergewaltigungsdrohungen gegen ihre Familien." (S. 4)

"Die gefangenen Frauen werden häufig vergewaltigt." (S. 12)

Eine ältere Zeugin berichtet, dass ihr die Vergewaltigung durch mehrere Soldaten angedroht wurde – "und dann würden sie meine Tochter und meine Enkelinnen von einem und sechs Jahren herbringen und auch sie vergewaltigen". (S. 29)

Nun sind das zwar Vorwürfe, die von prorussischer Seite zusammengetragen wurden, aber den Betroffenen – teils Zivilistinnen, die zwischen die Fronten gerieten – pauschal zu unterstellen, dass sie lügen, wäre ebenso wenig empathisch wie im umgekehrten Fall. In den seltensten Fällen gibt es für sexualisierte Gewalt neutrale Augenzeugen.

Statt die Glaubwürdigkeit der mutmaßlichen Opfer nach geopolitischen Präferenzen zu beurteilen, sind unabhängige Untersuchungen und ein sensibler Umgang mit ihnen nötig.

Inzwischen musste der WDR aber auch seinen Faktencheck zu diesem Thema in Bezug auf die Zeit nach der russischen Invasion korrigieren.

In einem während der Sendung eingespielten Film hatte es geheißen: "Belege für Vergewaltigungen durch ukrainische Soldaten liegen der UN demnach nicht vor."

Im neuen Faktencheck wird auf einen Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin vom Juli 2022 verwiesen. Dort werde auch von sexualisierter Gewalt auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet berichtet.

Die damalige UN- Menschenrechtskommissarin schreibt: "Mein Team hat 28 Fälle konfliktbedingter sexueller Gewalt verifiziert, darunter Fälle von Vergewaltigung, Gruppenvergewaltigung, Folter, erzwungener öffentlicher Entkleidung und Androhung sexueller Gewalt.

Die meisten Fälle wurden in den von den russischen Streitkräften kontrollierten Gebieten begangen, aber es gab auch Fälle, die in von der Regierung kontrollierten Gebieten begangen wurden.


Aus dem aktualisierten WDR-Faktencheck

Zwei weitere UN-Berichte aus den Monaten September und Dezember würden die Annahme stützen, dass sexualisierte Gewalt im Ukraine-Krieg mehrheitlich von russischer Seite ausgehe, heißt es im Faktencheck.

Es gebe aber laut dem September-Bericht auch Fälle, für die ukrainische Soldaten verantwortlich seien. 30 Taten werden Russen vorgeworfen, in zwei Fällen werden Ukrainer verantwortlich gemacht. Dabei soll es sich um erzwungene öffentliche Entkleidung und Androhung sexueller Gewalt gehandelt haben. Im Dezember-Bericht werden keine ukrainischen Täter erwähnt.

Sahra Wagenknecht hatte in der Sendung sinngemäß gesagt, wer Kriegsverbrechen beenden wolle, müsse diesen Krieg beenden. Letztendlich war das der eigentliche Streitpunkt, um den es ging – ob schnellstmöglich ein Waffenstillstand und Verhandlungen anzustreben sind, wie es Wagenknecht fordert, oder nicht.