Ein neuer Sturm zieht auf über Afghanistan
Nato will Truppenpräsenz aufrechterhalten und verschweigt eigene Verantwortung für tote Zivilisten. Neuen Zahlen der UNO belegen Gewalt gegen Menschenrechtler und Journalisten
Der Regierungswechsel in den USA könnte die Gewalt in Afghanistan erneut eskalieren lassen und einen nachhaltigen politischen Ausweg verhindern. Denn entgegen einer Vereinbarung der abgewählten Regierung von Ex-Präsident Donald Trump und den Taliban von Ende Februar 2020 will die Nato nun offenbar an der Stationierung in dem zentralasiatischen Land festhalten.
In dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban war vereinbart worden, alle internationalen Truppen, Sicherheitspersonal und Berater bis zum April dieses Jahres abzuziehen. Konkret heißt es dort:
Die Vereinigten Staaten verpflichten sich, alle militärischen Streitkräfte der Vereinigten Staaten, ihrer Verbündeten und Koalitionspartner, einschließlich des gesamten nicht-diplomatischen Zivilpersonals, der privaten Sicherheitsfirmen, der Ausbilder, Berater und des Personals der unterstützenden Dienste innerhalb von vierzehn (14) Monaten nach Bekanntgabe dieses Abkommens aus Afghanistan abzuziehen, und werden diesbezüglich die folgenden Maßnahmen ergreifen:
A. Die Vereinigten Staaten, ihre Verbündeten und die Koalition werden in den ersten einhundertfünfunddreißig (135) Tagen die folgenden Maßnahmen ergreifen:
- Sie werden die Zahl der US-Streitkräfte in Afghanistan auf achttausendsechshundert (8.600) reduzieren und die Zahl ihrer Verbündeten und der Koalitionstruppen proportional dazu verringern;
- Die Vereinigten Staaten, ihre Verbündeten und die Koalition werden alle ihre Kräfte aus fünf (5) Militärbasen abziehen.
Die Nato erteilt diesem Teil der Vereinbarung nun eine Absage und begründet dies mit der anhaltenden Gewalt durch die Taliban. Tatsächlich hatten sich diese islamistischen Verbände ihrerseits dazu verpflichtet, militärische Aktionen zurückzufahren und in politische Verhandlungen mit den übrigen innerafghanischen Parteien einzutreten.
Ein heute erschienener Bericht der UN-Unterstützungsmission für Afghanistan, Unama, scheint der Nato Recht zu geben. Demnach haben die Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger und Medienschaffende zugenommen. Seit dem Beginn der afghanischen Friedensgespräche am 12. September 2020 bis Ende Januar dieses Jahres seien elf Menschenrechtsverteidiger ermordet worden, heißt es in dem Bericht von Unama. Von Anfang 2018 bis Ende Januar dieses Jahres seien 65 Menschenrechtler und Pressevertreter Mordanschlägen zum Opfer gefallen.
Nato beharrt auf politischen Forderungen
"Das afghanische Volk braucht und verdient einen blühenden zivilen Raum - eine Gesellschaft, in der die Menschen denken, schreiben und ihre Ansichten offen und ohne Angst äußern können", sagte Deborah Lyons, Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Afghanistan. Die Stimmen von Menschenrechtsverteidigern und Medien seien entscheidend für die Entwicklung einer offenen Gesellschaft. "In einer Zeit, in der der Dialog und ein Ende des Konflikts durch Gespräche und eine politische Lösung im Mittelpunkt stehen sollten, müssen die Stimmen der Menschenrechtsverteidiger und der Medien mehr denn je gehört und nicht zum Schweigen gebracht werden", so Lyons, die auch Unama leitet.
Nato-Kräfte hatten die politische Gewalt in Afghanistan immer wieder als Argument für eine weitere militärische Präsenz in Afghanistan angeführt. Auch daher soll auf einem Treffen der Nato-Verteidigungsmister am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche keine Entscheidung über den Abzug der noch rund 10.000 Soldaten des Nordatlantikpaktes in dem zentralasiatischen Kriegsland getroffen werden.
Aus dem Nato-Hauptsitz in Brüssel hieß es stattdessen, man werde die Taliban erneut zu einer Reduzierung der Gewalt und zu ernsthaften Friedensverhandlungen auffordern. Die Deutsche Presse-Agentur berichtete und Berufung auf "Bündniskreise", die Nato wolle Afghanistan erst verlassen, wenn die Bedingungen dies zuließen.
Was Nato und auch Bundesregierung verschweigen: Mit der nach der Abwahl von Trump wahrscheinlichen Stopp des Abzugs der IUS-Truppen aus Afghanistan wird auch der Krieg wieder eskalieren. Denn erstens haben die Taliban kaum eine andere Wahl als mit einer erneuten militärischen Eskalation zu reagieren. Damit wird eine neue Gewaltspirale in Gang gesetzt, die gerade hätte durchbrochen werden können.
Bombenangriffe drohen wieder zuzunehmen
Damit zeichnet sich auch eine erneute Aufstockung der Nato-Verbände ab. Trump hatte die US-Truppen Ende vergangenen Jahres auf 2.500 Soldaten reduziert – ein historischer Tiefstand. Das zweitgrößte Kontingent der Nato-Ausbildungsmission Resolute Support stellt seither die Bundeswehr mit 1.100 Soldaten in Masar-e Scharif.
Die Nato tut freilich gut daran, zur Begründung der Fortführung ihrer grandios gescheiterten Afghanistan-Mission nur die Gewalt der Taliban gegen Zivilisten anzuführen. Zwar sind regierungsfeindliche Kräfte nach UNAMA-Angaben tatsächlich für 58 Prozent der zivilen Konfliktopfer verantwortlich.
Aber auf das Konto regierungsnaher bewaffneter Kräfte gehen nach Angaben der Unama 28 Prozent der toten Zivilisten - meist Frauen und Kinder -, während die Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte, Polizei und Armee, 23 Prozent der zivilen Opfer auf dem Gewissen haben. Was es im Umkehrschluss höchstwahrscheinlich macht, dass Resolute-Support-Ausbilder der Bundeswehr einigen dieser Mörder ihr Handwerk beigebracht haben.
Und noch eine andere von der Nato verschwiegene Zahl lässt erahnen, dass die Entscheidung gegen einen Abzug der Nato den Afghaninnen und Afghanen neues Leid bescheren wird. Nach dem sogenannten Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban sind die Luftangriffe der internationalen Kräfte seit März 2020 um fast ein Viertel zurückgegangen. Auch dieser Trend wird sich mit der zu erwartenden Nato-Entscheidung wohl umkehren.
Beachtlich ist an der Debatte über Afghanistan vor allem, dass die Opposition und Zivilgesellschaft am wenigsten gehört wird. So lehnen Frauenrechtlerinnen den Terror der Taliban oft ebenso ab wie die Regierung und ausländische Kräfte. Im Januar 2020, kurz vor dem Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban, fasst das die afghanische Politikerin und Frauenrechtlerin Malalai Joya so zusammen:
Nach 18 Jahren des sogenannten Krieges gegen den Terrorismus und der angeblichen Befreiung der afghanischen Frauen durch die USA und die Nato, nachdem Abermilliarden US-Dollar in diesen Krieg geflossen sind, befindet sich unser Land noch immer auf den führenden Plätzen in Sachen Korruption, Analphabetismus, Menschenrechtsverletzungen, Frauenunterdrückung, Unsicherheit und so fort. Wir führen alle diese Statistiken mit an. Die Besatzung hat die Probleme und das Leid nur vergrößert. Wer heute in Afghanistan sein Haus verlässt, weiß nicht, ob er wieder gesund oder lebendig zurückkehren wird. Selbstmordattacken sind an der Tagesordnung. Wenn Sie in die Krankenhäuser gehen, sehen Sie überfüllte Stationen. Und wenn Sie mit den Menschen reden, werden Sie feststellen, dass nur Hersteller von Särgen gute Geschäfte machen.
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