"Ein neues Phänomen"
Ali Utlu über Facebook-Sperren wegen Kritik an der türkischen Staatsführung und Morddrohungen, gegen die nichts unternommen wird
Auf den am 3. Januar erschienenen Telepolis-Artikel Löscht Facebook in Deutschland türkeikritische Inhalte? hin twitterte der ehemalige Piratenpartei-Politiker Ali Utlu, er "werde deswegen ständig gesperrt" - und "nicht die Frage ob, sondern warum sollte gestellt werden". Das machen wir hiermit.
Herr Utlu - aufgrund welcher türkeikritischen Inhalte hat Facebook Sie in der Vergangenheit gesperrt?
Ali Utlu: Meistens waren es Beiträge, die die Menschenrechtssituation in der Türkei beschreiben, aber auch den Wandel der Türkei in eine Diktatur mit islamistischer Ausprägung. Besonders gerne löschte Facebook die Beiträge, in denen ein Zusammenhang zwischen der AKP-Regierung und den so genannten Islamischen Staat aufgezeigt wurde - speziell die aufgedeckten Waffenlieferungen in LKWs an den IS.
Aber auch Themen wie Morde an Transsexuellen in Istanbul wurden gelöscht. Auffällig ist, dass ich schon über die Gezi-Proteste in Istanbul live berichtete, auf Facebook - mit hunderten Kommentaren und Bildern, auch mit massiver Kritik am Regime. Doch 2013 löschte Facebook nicht einen dieser Inhalte. Es ist ein neues Phänomen.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ali Utlu: Persönlich sehr verärgert. Denn als jemand, der bei Facebook regelmäßig schlimmste Hasspostings liest, meldet - und erleben muss, dass diese nicht gelöscht werden. Wie jedoch meine Inhalte über die Türkei gegen die Community-Regeln verstoßen sollen, bleibt mir ein Rätsel. Es ist reine Willkür.
Was ich als bitter empfinde, ist, dass man sich bei Facebook nicht dagegen wehren kann. Ich wurde jeweils automatisch für 30 Tage gesperrt (2016 insgesamt über 220 Tage) und reklamierte das über den von Facebook erreichbaren Link. Nur hat Facebook nie darauf reagiert.
So hat man keine Möglichkeit, sich gegen diese Willkür zu wehren. Wenn es wenigstens eine Hotline geben würde, wo man mit echten Menschen am Telefon den Sachverhalt klären könnte - aber so eine Hotline bietet Facebook nicht an. Als jemand, der besonders über soziale Netzwerke arbeitet und aufklärt, kommt dies einem Berufsverbot nahe. In jedem Fall ist es eine Beschneidung der Meinungsfreiheit.
Als Menschenrechtler ist man auf diese Medien angewiesen, um ein großes Publikum zu erreichen, da viele Menschen ihre Nachrichten aus den sozialen Netzwerken beziehen.
Was ist Ihrer Ansicht nach der Grund dafür, dass Facebook so agiert? Reicht der Arm der AKP bis in die Zensurstuben eines Weltkonzerns?
Ali Utlu: Soziale Netzwerke haben in der Türkei einen ganz anderen Stellenwert. Fast jeder Türke hat Profile auf diesen Seiten - deshalb verbreiten sich Inhalte sehr schnell unter der Bevölkerung. Zumal die eigenen Medien nicht mehr frei sind und überall Zensur und Nachrichtensperren herrschen.
Damit sind soziale Netzwerke die einzigen Quellen, denen man noch einigermaßen Vertrauen schenken kann. Dass dies das Erdoğan-Regime schon öfter in Bedrängnis gebracht hat, sieht man daran, dass nach jedem Ereignis mittlerweile Facebook und Twitter staatlich geblockt werden.
Facebook ist ein Unternehmen, das Gewinne erwirtschaften muss, deshalb kann man es sich nicht leisten, längere Ausfälle zu haben. Da ist es für Facebook einfacher, nach behördlicher Anordnung Inhalte zu löschen, als zu riskieren, komplett geblockt zu werden.
Läuft es mit Twitter ähnlich wie mit Facebook? Oder gibt es da Unterschiede?
Ali Utlu: Der größte Unterschied ist: Bei Twitter ist es bekannt dass sie mit den Behörden in Ankara zusammenarbeiten. So kam es dazu, dass durch Twitter Tausende kritische Profile nach dem missglückten Militärputsch in der Türkei gelöscht wurden - und noch werden.
Dabei geht es nicht um kleine Profile, sondern auch um verifizierte, mit teilweise Millionen Followern. Ich muss aber Twitter zugutehalten, dass trotz Tausender regimekritischer Tweets von mir bisher kein einziger gelöscht wurde.
Aber mein Profil ist für Menschen in der Türkei geblockt, weshalb sie meine Tweets nicht mehr lesen konnten. Das liegt wohl daran, dass ich in Deutschland lebe und von hier aus twittere. In der Türkei wäre ich schon längst im Gefängnis. Deswegen kann ich auch nicht mehr da einreisen, weil ich sofort an der Grenze verhaftet werden würde.
Wer steckt Ihrer Ansicht nach hinter den Morddrohungen gegen Sie, die man auf Twitter lesen konnte? Ein einsamer AKP-Fan? Oder eine größere Struktur? Kann man ausschließen, dass es sich vielleicht um Personen aus dem Peer-Group-Flügel der Piratenpartei handelt, die ja bei zahlreichen anderen Gelegenheiten mit Gewaltverherrlichung, Lösch- und Denunziationsbemühungen auffielen?
Ali Utlu: Da spielen bezahlte "Trolle" eine große Rolle, die zu Hunderten Beiträge melden, so dass irgendwann automatische Abläufe laufen und Beiträge gelöscht werden. Zurzeit sollen bis zu 8.000 Personen von der türkischen Regierung dafür bezahlt werden, in sozialen Medien unangenehme Inhalte zu melden, die Schreiber zu diskreditieren - oder auch einfach nur Staatspropaganda in den Kommentarspalten zu hinterlassen.
Als Einzelner hat man es schwer, dagegen anzukommen. Dazu kommt noch, dass Tausende nationalistischer Türken sich berufen fühlen, Menschen wie mich mundtot zu machen, weil es ihre "Ehre" kränkt, dass es freie, demokratische Türken gibt, die die Verhältnisse in der Türkei anprangern.
Kritik am politischen System empfinden sie als Angriff auf die ganze Türkei. Auch wenn wir vielleicht über solche antiquierten Denkweisen lachen können, sind diese Menschen brandgefährlich.
Was den Teil mit der Piratenpartei anbetrifft [lautes Lachen], sehe ich überhaupt keinen Grund, mir darüber Gedanken zu machen. Ja, die Angriffe aus der Ecke waren sehr heftig, hatten aber immer eine ganz andere Dimension. Damit kann ich umgehen.
Ich bekomme in der Woche Dutzende Morddrohungen, viele davon sind so konkret, dass sie direkt an den Staatsschutz gehen. Zum Teil kommen die Drohungen mit Klarnamen. Manchmal stellte sich heraus, dass dies junge Deutschtürken waren, die dachten, das wäre ein Spaß. Viele andere kommen aber von rechtsradikalen Grauen Wölfen (türkische "Nazis") und Islamisten - und da wird es sehr ernst.
Wie hat Twitter auf die Meldung der Morddrohungen reagiert?
Ali Utlu: Twitter reagiert wie Facebook mit vorgefertigten Mails. Bisher wurde nicht ein Tweet gelöscht, in dem man mir mit dem Tod drohte. Auch wurden Hasstweets mit homophobem Inhalt nicht gelöscht, in denen man mir wünschte, ich würde von Hochhausdächern geworfen oder enthauptet werden. Ich lasse das mal unkommentiert stehen.
Hat sich ihr Leben durch die Morddrohungen geändert?
Ali Utlu: Sehr sogar. Das hat mich meiner Freiheit beraubt - und meiner Gesundheit. In meinem Briefkasten fanden sich schon ein abgetrenntes Schweineohr - mit der Nachricht, ich würde der Nächste sein, und ein Salafistenkoran mit konkreten Mordaufruf gegen mich als Ex-Muslim und homosexueller Islamkritiker.
So zeigte man, dass man weiß, wo ich wohne. Dadurch hatte ich monatelang Angst, meine Wohnung ohne Begleitung zu verlassen. Ich mied die Kölner Innenstadt, weil ich Angst hatte, man könnte mich erkennen. Dadurch war ich in ständiger Panik. Das schlug sich auch auf meiner Psyche nieder, so sehr, dass ich nicht mehr arbeiten konnte. Das ging so weit, dass mich mein Arzt als arbeitsunfähig einstufte und ich heute "Rentner" bin. Aber ich werde mich nicht mundtot machen lassen - auch wenn ich jetzt schon einen hohen Preis dafür zahle.
Macht ihnen die Lynchmob-Attacke auf den Modedesigner und Schwulenaktivisten Barbaros Sansal Angst? Könnte so etwas Ihrer Ansicht nach auch in Deutschland passieren?
Ali Utlu: Barbaros Sansal ist ein guter Freund von mir. Er ist ein offen schwul lebender Mensch, Atheist und kritisiert die Türkei sehr heftig. Sein letztes Video, das er an Silvester auf Twitter postete, hat wohl eine Grenze überschritten, die das Regime in Ankara zum Handeln brachte. Er wurde aus der sogenannten türkischen Republik Nordzypern auf Druck aus Ankara in die Türkei abgeschoben, und ein Lynchmob erwartete ihn direkt an der Treppe aus dem Flugzeug.
Wie konnte so ein Mob an einem internationalen Flughafen bis an das Flugzeug am Rollfeld gelangen? Nur mit der Duldung der Polizei, die auch nicht einschritt.
Ob dies in Deutschland genauso passieren könnte? Ja, es geschieht jetzt schon, dass türkische beziehungsweise kurdische Kritiker in Deutschland verhaftet durch die Behörden verhört werden, weil die Türkei sie Terroristen nennt.
Sollten diese Menschen deswegen in die Türkei abgeschoben werden, würde auch ihnen Gefängnis drohen. So wie auch mir. Auch ist bekannt, dass der lange Arm des türkischen Geheimdiensts MİT bis nach Deutschland reicht und dass Regimekritiker massiv bedroht werden. Sie würden auch nicht vor Mord zurückschrecken.
Wenn man mich fragen würde, ob ich mich in Deutschland sicher fühle, dann müsste ich mit "Nein" antworten, so wie viele andere Regimekritiker auch. Aber wenn es uns nicht geben würde, gäbe es überhaupt keine kritischen Stimmen mehr. Wir sind die Stimme der Menschen in der Türkei, die selbst kaum noch eine haben.
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