Eine Kulisse aus Neutrinos im Weltall

Abb. 1: Der Behälter des Super-Kamiokande-Experiments. Der Behälter wird mit hochreinem Wasser gefüllt. Photodetektoren an den Wänden können Photonen detektieren, die bei den Interaktionen von Neutrinos mit den Wassermolekülen entstehen (ausgenutzt wird der sogenannte Tscherenkow-Effekt). Bild: Kamioka Observatory, ICRR (Institute for Cosmic Ray Research), The University of Tokyo

Neutrinos als unsichtbare Botschafter des Anfangs der Welt sind eines der am wenigsten erforschten Elementarteilchen

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Die sogenannte Urknalltheorie postuliert, dass unsere Welt aus einer Singularität entstanden ist und sich danach bis zur heutigen Größe exponentiell ausgedehnt hat. Wenn man von dieser Annahme ausgeht, dann ist die Geschichte des Universums einfach die Geschichte seines Abkühlens. Die mittlere Massendichte des Kosmos nimmt immer weiter ab. Lag die mittlere Temperatur des frühen kompakten Universums bei Milliarden von Milliarden von Kelvin, beträgt sie heute nur ein paar Kelvin über dem absoluten Nullpunkt.

Die Big-Bang-Theorie ist eigentlich die Theorie, die niemand haben wollte. Die Weltreligionen haben andere Erklärungen für den Ursprung der Welt. Ein Universum, bei dem Menschen nicht im Mittelpunkt des Schöpfungsmythos stehen, ist für die Missionierung nicht so brauchbar. Für die Physiker, die keine mystischen Erklärungen dulden, ist die Theorie trotzdem unbequem, da sie dem Universum ein Alter auferlegt. Sympathischer ist das "perfekte kosmologische Prinzip" von Sir Fred Hoyle, das besagt, wir leben in keiner besonderen Zeit. Statistisch gesehen sollte das Universum im Prinzip immer gleich aussehen, wenn wir in die Vergangenheit oder in die Zukunft reisen würden. Ein zeitloses Universum wäre eigentlich eleganter.

Die astronomischen Beobachtungen zeigen jedoch, dass das Universum nicht zeitlos ist. Es ist wie etwas Lebendiges mit einem Geburtsdatum versehen. Zum Glück ist die Geschwindigkeit des Lichtes endlich, so dass die gesamte Geschichte des Universums im Weltall eingraviert geblieben ist. Die Photonen aus der Urzeit erreichen uns immer noch, und wenn wir jeden Tag in den Himmel blicken, schauen nicht 5000 Jahre, wie bei Napoleons Soldaten, sondern 13,8 Milliarden Jahre Geschichte auf uns herab.

Bei jedem Prozess des Abkühlens gibt es sogenannte Phasenübergänge, wie beim Wasser, das je nach Temperatur ein Gas, eine Flüssigkeit oder etwas Solides sein kann. Im frühen Universum sind die Phasenübergänge Augenblicke, in denen eine bestimmte Interaktion aufhört zu wirken. Wir können heute den Fingerabdruck von solchen Phasenübergängen mit geeigneten Detektoren erkennen. Diese Fingerabdrücke werden als "Hintergründe" bezeichnet. Zwei der wichtigsten sind:

  • Der Neutrino-Hintergrund (eine Sekunde nach dem Urknall erzeugt)
  • Die kosmische Hintergrundstrahlung im Mikrowellenbereich (380.000 Jahre nach dem Urknall entstanden)

Dazu kommt ein noch nicht nachgewiesener und sehr schwer zu messender Hintergrund aus Gravitationswellen, die beim Urknall produziert wurden. Im Jahr 2014 glaubte eine Gruppe von Astronomen den Effekt der Urgravitationswellen in der kosmischen Hintergrundstrahlung entdeckt zu haben, aber eine Überprüfung der Daten bestätigte die Entdeckung nicht.1

Die kosmische Hintergrundstrahlung entstand, als die Photonen nicht mehr so energiereich waren, dass sie Elektronen aus den Atomen herausschleudern konnten. Dadurch wurde das Universum nun zum ersten Mal durchlässig für die Photonen und sie konnten vorbei an den Elektronen geradeaus fliegen.

Neutrinos waren auch am Anfang des Universums extrem energetisch und kollidierten mit den anderen Elementarteilchen. Aber nur eine Sekunde nach dem Urknall war die Temperatur des Universums so weit abgesunken, dass Neutrinos auf ihre heutige minimale Wechselwirkung mit anderen Teilchen abfallen konnten. Neutrinos sind eigentlich eines der am wenigsten erforschten Elementarteilchen überhaupt. Viele davon entstehen in den Fusionsprozessen in der Sonne, fliegen dann quer durch den Stern, durch die Erde und Milliarden von Kilometern weiter, bevor sie überhaupt mit einem anderen Teilchen zusammenwirken. Wie der Name schon sagt, besitzen Neutrinos keine elektrische Ladung, und viele Jahre dachte man, dass ihre Ruhemasse null wäre. So ein Teilchen ist extrem schwer zu detektieren. Deswegen wundert es nicht, dass zwischen der Vermutung der Existenz des Teilchens durch Wolfgang Pauli im Jahr 1930 und dem tatsächlichen Nachweis in Kernreaktoren mehr als 26 Jahre vergingen.

Abb. 2: Das Standardmodell der Elementarteilchen. Die Neutrinos sind Leptonen mit Ladung null und Spin ½. Bild: MissMJ, Polluks / CC-BY-SA-3.0

Im frühen Universum waren also die hochenergetischen Neutrinos nicht frei, sie waren im Käfig der Interaktionen mit anderen Teilchen gefangen. Als das Universum "transparent" für die Neutrinos wurde, flogen sie durch - und das tun sie bis heute noch. In jedem Kubikzentimeter des Universums finden wir jetzt etwa 410 Photonen der Hintergrundstrahlung und dazu ca. 330 sogenannte "kosmische Neutrinos" aus der Anfangszeit des Universums. Es gibt mehr kosmische - also beim Urknall entstandene - Photonen und Neutrinos im Universum als aus jeder andere Quelle! All die Galaxien mit ihren gewaltigen Massen können weder bei der Photonen- noch bei der Neutrinoproduktion mit dem Urknall mithalten. Während ich also diesen Text schreibe, flattern Milliarden von Neutrinos als unsichtbare Botschafter des Anfangs der Welt durch meinen Körper. Sie fliegen ungestört seit 13,8 Milliarden Jahren - minus einer Sekunde.

Fermi, Majorana und Pontecorvo

Das Neutrino ist für mich ein italienisches Teilchen, da italienische Physiker viel zu seinem Verständnis beigetragen haben. Das fängt bereits beim Namen an. Es war allerdings der Österreicher Wolfang Pauli, der das neue Teilchen vorschlug, um den Beta-Minus-Zerfall zu erklären. Das ist ein Prozess bei dem ein Neutron in einem Atomkern zum Proton wird und dazu ein Elektron freisetzt: e-

So geschrieben ist die Reaktion unvollständig, weil es an der rechten Seite an Energie fehlt. Die Experimentalphysiker konnten kein anderes Teilchen als Zerfallsprodukt einfangen und einige haben deshalb laut die Energieerhaltung bei diesem speziellen Prozess angezweifelt. Pauli schlug deswegen ein neues Teilchen vor, um die Reaktion energetisch zu vervollständigen. Heute nennen wir es Elektron-Neutrino (ve), sodass:

Neutron -> Proton + Elektron + Elektronantineutrino: n -> p + e- + (anti v_e)

Allerdings ist dies unsere Darstellung des Prozesses heute, wo wir alle Teilchen in Atomkernen kennen. Damals hätte man auf die linke Seite einen Atomkern (statt n) und auf der rechten Seite den transformierten Atomkern (statt p) gesetzt. Chadwick hat die Neutronen erst 1932 entdeckt, sodass fast gleichzeitig zwei neue Teilchen vorgeschlagen wurden: das von Pauli (1930) und das von Chadwick (1932). Kurioserweise schlugen beide Physiker denselben Namen für die neuen Teilchen vor: "Neutron" wegen des Mangels an Ladung.

Der italienische Physiker Enrico Fermi nahm Paulis Vorschlag an und entwickelte eine vollständige Theorie des Beta-Zerfalls, die schließlich in die Theorie der schwachen Wechselwirkung mündete. Da ein Neutron auf Italienisch "Neutrone" heißt, lag es nahe, das kleinere Teilchen mit dem italienischen Diminutiv von Chadwicks Neutron zu benennen. So wurde aus Paulis Teilchen das "Neutrino". Physiker lieben Wortspiele und Wortschöpfungen und so ist der Teilchenzoo voll mit Quarks bzw. Gluonen, und ihren Eigenschaften, seien es "Farbe" oder "Geschmack" (flavor).

Fermi hatte außerdem zwei Schüler, die maßgeblich zum Verständnis des Neutrinos beigetragen haben. Der eine war Ettore Majorana, der zweite Bruno Pontecorvo.

Ettore Majorana war ein genialer, aber gleichzeitig seelisch angeschlagener Physiker. Er schlug 1937 eine mathematische Beschreibung von neutralen Teilchen wie dem Neutrino vor. Deren Schlussfolgerung war, dass das Neutrino sein eigenes Antiteilchen sein könnte. Für geladene Teilchen ändert sich bei den Antiteilchen das Vorzeichen der Ladung. So ist das Positron, das Antiteilchen des Elektrons, positiv geladen. Bei neutralen Elementarteilchen ist nicht so offensichtlich, wie das Antiteilchen "ausgestattet" ist. Die Theorie von Majorana wurde später auf weitere Partikel erweitert, die man heute einfach Majorana-Fermionen nennt. So wurden Schüler und Meister in einem gemeinsamen Begriff für immer vereinigt. Ob die Neutrinos Majorana-Teilchen sind oder nicht, ist noch experimentell zu belegen und das ist eng verbunden mit der Frage nach der Ruhemasse des Neutrinos.

Majorana war so selbstgenügsam wie das kaum wechselwirkende Neutrino. Er hatte wenige Freunde und lebte bescheiden bis zu seinem Verschwinden 1938. Ob er Selbstmord beging, sich in ein Kloster oder nach Südamerika begab, ist unbekannt und hat zu vielen angeblichen Sichtungen und Legenden geführt.

Auch Fermis Schüler Bruno Pontecorvo verschwand 1950 auf einmal - allerdings in Richtung Sowjetunion. Pontecorvo war ein Sozialist und nach dem Krieg konnte er nicht Fuß in den USA fassen (wie viele andere Kollegen), sodass er zurück nach Europa kam, wo er Professor in Liverpool wurde. Nach seiner Übersiedlung arbeitete er am Kernforschungszentrum in Dubna. Sogar einen Stalinpreis hat er erhalten. Leider lebte Pontecorvo lange genug, um den Zerfall der Sowjetunion noch zu erleben. Aber leider nicht lange genug, um den Nobelpreis 2002 bzw. 2015 zu erhalten.

Denn nicht wegen seiner politischen Ansichten, sondern wegen seiner Physik ist Pontecorvo heute berühmt. Er war nämlich der erste, der die spontane Umwandlung von den Neutrinosorten ineinander vorschlug. Von den Neutrinos gibt es nämlich drei Generationen: das von Pauli "erfundene" Elektron-Neutrino, das 1962 entdeckte Myon-Neutrino, sowie das 1975 nachgewiesene Tauon-Neutrino. Die drei Neutrinos haben diese Namen, weil sie bei Zerfallsprozessen in Verbindung mit jeweils dem Elektron, Myon- bzw. Tauon-Teilchen kommen. Für die ersten Messungen von kosmischen Neutrinos erhielten Ray Davis (mit dem von Pontecorvo vorgeschlagenen Experiment) und Masatoshi Koshiba 2002 den Physik-Nobelpreis. Im Jahr 2015 erhielten Takaaki Kajita und Arthur B. McDonald den Nobelpreis für die Entdeckung der Neutrinooszillationen.

Aber Bruno Pontecorvo ahnte es bereits 1957/1958, ohne noch von den anderen Neutrinos zu wissen.2

Neutrino-Oszillationen

Das etwas Verwirrende an der Quantenmechanik ist, dass der Zustand eines physikalischen Systems erst bei einer Messung erfahren werden kann. Wenn keine Messung durchgeführt wird, stellt sich der Zustand als Überlagerung von unterschiedlichen möglichen Messungen dar (als sogenannte quantenmechanische Wellenfunktion). Das ist eine Eigenschaft, die in Quantencomputern ausgenutzt werden soll, da ein Qubit eine Überlagerung von 0 und 1 ist, also im Prinzip beides mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bei der Messung. Hat man 8 Qubits, hat man potentiell alle 256 Binärzahlen mit 8 Bits in derselben Packung.

Dass Elementarteilchen auch manchmal Überlagerungen von Quantenzuständen sein können, wurde erst von den Kernphysikern entdeckt. Ein Beispiel dafür war das Kaon-Teilchen (das sich eigentlich aus Quarks zusammensetzt). Unterwegs im Vakuum kann ein Kaon sich in sein Antiteilchen verwandeln und umgekehrt. Pontecorvo fragte sich deswegen, ob sich nicht andere zusammengesetzte Systeme vielleicht auch spontan ineinander verwandeln könnten. Als mögliches Beispiel nahm er eine Kombination eines Myons mit einem Elektron. Im Jahr 1958 postulierte er die Möglichkeit des Übergangs von einem Neutrino in das Antineutrino in einem oszillierenden Vorgang. Dafür müsste aber das Neutrino eine Ruhemasse unterschiedlich von null haben, d.h. das Gegenteil von dem, was die Physiker im erfolgreichen Standardmodell eingebaut hatten. Aber gerade das war, was Majorana verlangte, um das Neutrino in das eigene Antiteilchen zu verwandeln.

Pontecorvo hatte auch bereits 1946 ein Experiment vorgeschlagen, mit dem Neutrinos chemisch nachgewiesen werden könnten. Dafür musste man Tetrachlorethen in einem großen Behälter bereitstellen und vorbeifliegende Neutrinos konnten gelegentlich ein Chlor- in ein Argonatom verwandeln. Mit einer ähnlichen Apparatur versuchte der Kanadier Ray Davis die Neutrinoproduktion der Sonne zu messen - mit dem verblüffenden Ergebnis, dass weniger Neutrinos als vorausgesagt eingefangen wurden. Da Davis' Apparatur nur Elektronneutrinos messen konnte, wurden diese "fehlenden Neutrinos" als Hinweis für die Transmutation der Neutrinosorten auf dem Weg von der Sonne interpretiert.

In Japan wurde die Messung der Sonnenneutrinos wiederholt (Kamiokande-Experiment), allerdings mit der Hilfe eines überdimensionalen Wasserbehälters und dazugehörigen Photodetektoren. Wenn ein Neutrino einen Protonenzerfall verursacht, fliegen Elektronen oder Myonen vom Atomkern weg. Sie fliegen außerdem schneller, als das Licht es im Wasser kann, womit Photonen freigesetzt werden (Tscherenkow-Effekt). Die Neutrinos werden doppelt-indirekt nachgewiesen: über den Protonenzerfall, wovon Elektronen oder Myonen Bericht ablegen, die wir allerdings nur über ihren Photonenschweif beim Tscherenkow-Effekt detektieren. Der Behälter des Nachfolgerprojekts, das Super-Kamiokande-Experiment (Abb. 1), enthält 32 tausend Tonnen Wasser und 11.200 Photomultiplier, um Photonen ausfindig zu machen. Da Photonen auch in der Atmosphäre erzeugt werden, gehen die Physiker in den Untergrund. Das Super-Kamiokande-Experiment liegt tausend Meter unter der Erdoberfläche begraben (dazu gibt es ein Video).

Mit so viel "Hardware" ausgestattet haben die Neutrino-Physiker das Standardmodell der Physik ins Wanken gebracht. Im Standardmodell haben die Neutrinos nämlich keine Ruhemasse, aber für Neutrinooszillationen ist eine Ruhemasse notwendig. Es stellte sich heraus, dass ein Neutrino als eine Überlagerung von drei Massenzuständen beschrieben werden kann. Jede davon bewegt sich im Raum als Wellenfunktion. Es ist diese Wellenüberlagerung, die ständig ihren "Flavor" wechselt. Da die drei Neutrinosorten vermutlich unterschiedliche Massen haben, schreitet jede Welle für sich unterschiedlich schnell voran, womit die momentane Überlagerung ständig eine andere ist. Die Wahrscheinlichkeit des Nachweises einer der drei Neutrinosorten oszilliert, wie Abb. 3 zeigt. Die schwarze Kurve ist die Wahrscheinlichkeit der Messung eines Elektronneutrinos entlang seiner Trajektorie. Die blaue und rote Kurve geben die Wahrscheinlichkeit der Messung von Myon- bzw. Tauon-Neutrinos.

Abb. 3: Oszillation der Wahrscheinlichkeiten der Messung eines Elektron-, Myon bzw. Tauon-Neutrinos (schwarz, blau, rot) entlang seiner Trajektorie. CC0, Bild: Public Domain

Wohnten bei Faust zwei Seelen in seiner Brust, so wohnen drei Massenzustände als Quantenüberlagerung im Neutrino. Es ist so ein faustisches Teilchen, das bei jedem Experiment sein Gesicht ändern kann.

Nachweis von kosmischen Neutrinos

Ich habe einen Informatiker-Freund, der jahrelang Mitglied des Wissenschaftsrats war. Als Informatiker konnte er nicht so richtig fassen, wie viel Geld die Physiker jedes Jahr aus dem Forschungsetat für ihre Zwecke "abzweigen". Nicht dass er die physikalische Forschung stoppen möchte, keineswegs, die Frage war nur, wie wir Informatiker nur ein Bruchteil davon für die eigene Forschung (die natürlich immer besser als die von jedem anderen ist) bekommen könnten.

Und in der Tat: Die Instrumente der Physiker werden immer gewaltiger. Tycho Brahe hat noch Astronomie mit bloßem Auge (und einer goldenen Nasenprothese) betrieben, Galileo mit einem kleinen Teleskop. Aber für das geplante Hyper-Kamiokande-Experiment wird mit zwei Wasserbehältern gearbeitet und insgesamt einer Million Tonnen Wasser. Hyper-Kamiokande wird also ein Observatorium mehr als zwanzig Mal gewaltiger als der Vorgänger sein.

Das Projekt IceCube in der Antarktis sucht aber noch Seinesgleichen. Es wurde kein Wasserbehälter gebaut. Das Wasser ist einfach das Eis im Eisuntergrund, bis zu 2,5 Kilometer tief. In 86 Bohrungen wurden je 60 Photomultiplikatoren angehängt. Jede Bohrung steht 125 Meter voneinander entfernt (Abb. 4). Damit wurde ein Gitter von Photomultiplikatoren aufgebaut, die wie bei Super-Kamiokande nach Tscherenkow-Photonen fahnden und so indirekt Neutrinos beobachten können. Das Gitter hat, sage und schreibe, einen Kubikkilometer Beobachtungsvolumen. Erstaunlicherweise hat es weniger als 300 Millionen US-Dollar gekostet, ein Zwanzigstel von den (bisherigen) Kosten des Berliner Flughafens.

Mit dem Gitter des IceCube-Detektors können Neutrinos indirekt nachgewiesen werden. Ihre Flugrichtung und Energie kann dann zurückgerechnet werden. IceCube hat bereits Tausende von Neutrinos detektiert und die Neutrinooszillationen bestätigt. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die IceCube-Physiker bereits Neutrinos aus unterschiedlichen galaktischen und extragalaktischen Quellen messen können.3 Für ein Teilchen, das so eine niedrige Ruhemasse besitzt, sind die registrierten Energien gewaltig; im Bereich von Peta-Elektronenvolts. Sie stammen aus noch unbekannten Beschleunigungsprozessen im All.

Abb. 4: Das IceCube-Neutrino-Detektor. Bild: IceCube-Kollaboration

Die IceCube-Kollaboration wird den Detektor noch zehn Jahre betreiben, aber am Entwurf des Nachfolgers wird bereits gearbeitet: Er soll zehn Mal größer werden.

Wir sind also noch weit davon entfernt, den kosmischen Neutrinohintergrund aus schwach energetischen Neutrinos nur im Ansatz messen zu können. Es ist aber ein großer Unterschied zwischen heute und noch vor 70 Jahren, als man dachte, das Neutrino könnten wir niemals so wie andere Teilchen beobachten.

Die Neutrinophysik hat unser Bild des Systems der Elementarteilchen revolutioniert. Das Standardmodell ist unvollständig, das wissen wir schon heute. Es waren unangepasste Revolutionäre wie Majorana und Pontecorvo, die zuerst auf neue Ufer blickten und den Weg vorbereiteten. Indirekt haben sie auch beigetragen zu einem besseren Verständnis des Kosmos.