Einer goldenen Chance beraubt?

Größenwahnsinnige Exilsyrer fordern ihre Landsleute zu unverantwortlichen Protesten auf - und sabotieren so vielleicht das Werk der innersyrischen Opposition

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Tunis, Ägypten, Jemen. Das schier Unglaubliche geschieht, die unterjochten Araber stehen auf. Zumindest ein Teil von ihnen. Und schon wandert der Blick über die Grenzen. Etwa nach Syrien. Für den 4. und 5. Februar wurde auf Facebook zum Protest aufgerufen. Doch die Art, wie dies geschah, versperrt möglicherweise einem ganzen Volk vorerst den Weg, sich allmählich zu formieren.

Zwar ist Facebook vom Regime gesperrt, doch über Proxyserver ist und bleibt es vorerst in Syrien zugänglich. Wer dort das soziale Netzwerk besucht (laut Internet World Stats sollen es im vergangenen August 30.000 gewesen sein), konnte in den vergangenen Tagen diverse Aufrufe lesen: Etwa den einer völlig unbekannten Gruppierung namens „Muslimische Bewegung innerhalb Syriens“, die zum "Tag des syrischen Zorns" in Syrien und vor syrischen Botschaften für den 5. Februar aufruft und dies, so der großmäulige Tenor, in "breit angelegtem" Stil.

Zeitgleich meldete sich ein nicht minder unbekanntes „Volkskommittee“ auf Facebook zu Wort und mobilisierte zum „friedlichen Protest auf dem Platz Saad Allah Aljabiri“ in Aleppo – immerhin etwas bescheidener für die Dauer einer Stunde. Diejenigen, die den Aufruf auf Facebook nicht rechtzeitig sehen konnten (die Seite ist mittlerweile unauffindbar), bekamen vom „Syrian Observatory for Human Rights“ die Chance zum Nachlesen, doch mittlerweile ist auch diese Seite unzugänglich.

„Das Regime zittert vor Angst“

Signale für die Alarmiertheit des syrischen Regimes? „Und ob!“, ruft ein syrischer Blogger aus, der ungenannt bleiben will. „Tatsächlich hat es zum ersten Mal wirklich Angst. Das sieht man allein an den zahlreichen Gegenpostings auf Facebook, die Präsidenten Baschar al-Assad ihre Treue aussprechen und ihn im diktaturtypischen Pathos preisen. Als ob dies nicht genug Hohn wäre, wurde noch eine eigene Pro-Regierungsseite auf Facebook eröffnet.“

Die Nervosität des Regimes ist noch an anderem fest zu machen: Vor wenigen Tagen und nach Erscheinen der Protestaufrufe sagte al-Assad seinem Volk diverse Reformen zu. So würde auf die Kostenanhebung für Medikamente um 20 Prozent verzichtet, die Heizzulage für Staatsangestellte und Pensionäre hingegen auf monatlich 30 Dollar angehoben und ein Hilfsfonds für 415.000 arme Familien eingerichtet. Zudem werde ein Fünfjahresplan erstellt, der für bessere Lebensbedingungen, mehr Arbeitsplätze und eine stärkere Wirtschaft sorgen soll.

Subventionen, die sich das Land gar nicht leisten kann: Angesichts erschöpfter Ölreserven, die Syrien zu Importen zwingen, müsste die Regierung ihre ohnedies starken Subventionen für Grundnahrungsmittel und Benzin stärker abbauen - für den jungen Blogger ein Grund mehr, al-Assads Initiative beachtlich zu finden:

Für den einzelnen verarmten Syrer ist all das ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber nicht darum geht es, sondern um den Symbolwert: das Regime zittert förmlich vor Angst, sonst hätte es sich nie dazu herabgelassen.

Regimesturz von „Null auf Hundert“ gefordert

Rabil al-Assad, Cousin des Präsidenten und Direktor der in London basierten „Organisation for Democracy and Freedom in Syria“ (ODFS), äußert sich noch deutlicher: Die Angebote seines Cousins seien „leere Worte“, entsprungen aus dessen Schrecken über die Vorgänge in Tunesien und Ägypten.

Dies mag durchaus stimmen, doch gewinnt Ribal deshalb nicht an Glaubwürdigkeit. Sein Vater, Rifaat al-Assad, war Syriens Vizepräsident und raubte das Land derart aus, dass ihn der eigene Bruder ins Exil trieb. Man kann bei seinem Sohn also getrost davon ausgehen, dass ihm weniger am syrischen Volk als an Rache und, im Fall von „regime change“, an seiner Inthronisierung durch den Westen liegt.

All dies bezeugt jedoch, wie hoch die Wellen schlagen. Entsprechende Morgenluft sollte Syriens Opposition wittern. Diese aber verhält sich auffallend still. Zu den angekündigten Protesten am Freitag in Aleppo erschien bis Redaktionsschluss anscheinend niemand.

„Keiner wird zu den Protesten gehen“

Mitglieder der Opposition äußerten diesen Verdacht bereits kurz nach Erscheinen der Facebook-Aufrufe gegenüber telepolis. Der Grund: Die ominösen Aufrufer sitzen im sicheren Ausland, sind an weniger als fünf Fingern abzuzählen und „fordern quasi von Null auf Hundert den Regimesturz“, empört sich ein syrischer Aktivist.

Das ist ebenso schwachsinnig wie verantwortungslos. Man kann einem Volk, das derart unter der Knute des Geheimdienstes lebt und es nicht einmal wagt, den Namen Baschar al-Assad laut auszusprechen, nicht sagen: So und morgen geht ihr auf die Straße und verlangt seinen Sturz.

Obendrein, fügt sein Mitstreiter hinzu, „haben die Betreiber, Einzelpersonen mit überzogenen Egos, die in den USA, Canada und Australien leben, keinerlei politisches Programm anzubieten“.

Politikprofessor As’ad AbuKhalil von der California State University vermutet in seinem Blog, dass es sich um Personen handelt, die der Fraktion um den gestürzten libanesischen Premier Saad al Hariri nahestehen – einem Erzrivalen des syrischen Präsidenten.

Wer auch immer die Saboteure sind: Man möchte von den Ausmaßen eines shakespearschen Dramas für die syrische Opposition sprechen. „Möglicherweise ist uns eine goldene Chance genommen worden“, sagt der Blogger.

Nie war das Regime so besorgt wegen der potentiellen Widerstandskraft seines Volkes und nie hat sich dem Volk so stark die Überlegung aufgedrängt, dass es tatsächlich etwas erreichen könnte wie im Moment.
Wenn nun aber die Welt ihre Aufmerksamkeit auf die in Syrien angekündigten Proteste richtet und keiner hingeht, ist dies ein abermaliger Triumph für den Diktator und das Volk erstickt neuerlich in Ohnmachtsgefühlen.

Einige Exilsyrer helfen, die Lage eines ganzen Volkes zu verschärfen

Dabei hatten sich in den vergangenen Tagen mehrere junge Syrer wiederholt versammelt, um vor der ägyptischen Botschaft schweigend Kerzen anzuzünden und ihre Solidarität mit dem Nachbarvolk zu bekunden. Es war dies durchaus auch ein Versuch, eine allmähliche Bewegung entstehen zu lassen. „Wir wollten auch die Reaktion der Sicherheitskräfte testen. Hätten sie uns in Ruhe gelassen, wären wir vielleicht allmählich immer mehr geworden“, meint ein anderer Aktivist. Doch nicht zuletzt die Aufrufe auf Facebook stachelten das Regime zusätzlich an.

Das erste Zusammentreffen vor rund einer Woche begann in Damaskus noch relativ vielversprechend mit ca. 100 Menschen, vergangenen Mittwoch wagten sich bereits nur mehr 15 auf die Straße. Doch sie wurden von 20 anderen tätlich attackiert und vertrieben. Die Angreifer trugen Straßenkleidung. Die anwesende Polizei intervenierte nicht.