Eingetrübte Wahrnehmung?
Der Gegensatz von (steinerner) Stadt und (grüner) Natur ist obsolet
Brachen, Nicht-Orte, Restflächen beherrschen das alltägliche Bild. Dennoch - oder gerade deshalb - gibt es eine ausgesprochene Sehnsucht nach der unberührten Landschaft. Mag auch offen bleiben, was man davon halten soll, so liegt doch eine Schlußfolgerung nahe: Das Verhältnis von Architektur und Freiraum muß neu justiert werden
Jeder kennt solche Situationen aus eigener Anschauung: Birken, die sich durch den Asphalt brechen, Sand und Kleiderfetzen, wucherndes Strauchwerk, Kies, Pfützen und verblasste Fahrbahnmarkierungen, darbende Robinien und Pflasterreste, Trampelpfade und Motorradspuren, Fragmente von Ziegelmauern, verbogene Stahl- und zerborstene Betonteile: Mitten in der Stadt eine Umgebung, die nicht die Kraft aufbringt, dem Ort Form, Funktion und eine andere als diese anarchische Vitalität zu verleihen. Dem Auge bietet sich nichts als die undefinierbare Wüstenei eines aufgelassenen und von der Natur halb zurückeroberten Industriegebietes, von Bahnanlagen und Schellstraßen ausweglos umstellt. Ein verwunschener Ort - nicht ohne einen gewissen morbiden Charme, aber die groteske Musealisierung einer verlorenen Nutzung und eines überlebten Laissez-faire. Dergleichen findet sich auf jeder Maßstabsebene - ob es nun das verwahrloste Restgrundstück als Baulücke im Kiez betrifft oder das indifferente und zerklüftete Raumgefüge zwischen Innenstadt und Speckgürtel. Doch statt unser Unbehagen zu ventilieren, verdrängen wir es lieber.
Die ungeliebten Hinterlassenschaften des Industriezeitalters - Fabrikruinen und aufgelassene Werksanlagen, brachgefallene Bahngelände und abgeräumte Areale - und die nicht minder fragwürdigen Ausflüsse unserer Dienstleistungsgesellschaft - wie Gewerbeparks, Verbrauchermärkte, Vergnügungszentren: das sind die Ingredienzien, anhand derer unsere Stadtlandschaft sich ausstellt. Noch bestehende Altstadtensembles oder gründerzeitliche Quartiere bilden letztlich nur Riffe in diesem Archipel. Aber offenbar eine hinreichende Kulisse für unsere urbane Vorstellungswelt. Am liebsten wären uns reine Sphären, das klare Gegenüber: Hier (steinerne) Stadt, dort (grüne) Natur. Dumm nur, dass unsere Alltagswelt nach Kräften alles vermischt. Leben wir doch in und mit einer Siedlungsstruktur, die weder unserem Bild von Stadt noch unserer Sehnsucht nach intakter Landschaft entspricht. Und weil sie sich, wie es Karl Ganser, seinerzeit Direktor der IBA-Emscher-Park, formuliert hat, von den schwachen Wachstumspotentialen unserer Zeit nicht mehr umbauen lässt, muss man sie als gegeben annehmen und die versteckten Qualitäten herauspräparieren. Was auch bedeutet, Bilder zu entwerfen, die diese verschlüsselte Räume lesbar machen und ihre Aneignung erleichtern.
Wie etwa die Zeche Zollverein illustriert, zeigte die IBA an der Emscher durchaus Wirkung. Vielerlei Kulturschaffende entdeckten plötzlich die Faszination des Vorhandenen, des Schäbigen, die fremde Schönheit von Abraumhalden, Gleisdreiecken und rostigen Hochöfen. Architekten dachten darüber nach, ob analoge minimalistische Strategien - bescheidene, kleinmaßstäbliche und nur exemplarisch gemeinte Eingriffe in solcherlei Hinterlassenschaften - sich vielleicht als neue Form kreativen Handelns verkaufen ließen. Doch sehr lange hat diese Mentalität offensichtlich nicht vorgehalten. Oder sie ist nicht nennenswert über das Ruhrgebiet hinaus gedrungen.
Denn dass der unbebaute, nicht oder kaum besiedelte, verwilderte bzw. ruinöse Stadt- und Landschaftsraum generell ins Zentrum konzeptioneller Aufmerksamkeit und gestalterischer Fürsorge gerückt sei, wird man kaum behaupten können. Auf die "Nicht-Orte" (Marc Augé) der Urbanität wird vorzugsweise mit Ausblenden reagiert. Doch gerade die Bereitschaft zur Wahrnehmung ist zentral; um mit dem Soziologen Lucius Burckhardt zu reden: "Nicht in der Natur der Dinge, sondern in unserem Kopf ist die ‚Landschaft‘ zu suchen; sie ist ein Konstrukt, das einer Gesellschaft zur Wahrnehmung dient, die nicht mehr direkt vom Boden lebt. Diese Wahrnehmung kann gestaltend und entstellend auf die Aussenwelt zurückwirken, wenn die Gesellschaft beginnt, ihr so gewonnenes Bild als Planung zu verwirklichen." Während über Architektur vergleichsweise viel diskutiert wird, bleibt der Freiraum unterbelichtet. Dabei ist gerade dieses "Außen" räumlicher Ausdruck des urbanen Mit- und Gegeneinander; der Ort, an dem "Öffentlichkeit" stattfindet - oder ihr doch zumindest die Möglichkeit bietet, stattzufinden.
Nun ist nicht zu verkennen, dass gerade die Freiraumpflege in den Kommunen einer haushaltspolitischen Marginalisierung unterliegt. Indes erklärt das für sich genommen noch nicht, warum die Öffentlichkeit den Anschein erweckt, als seien ihr solche Ödnisse egal. Umso erfreulicher, dass die Szene der Landschaftsgestalter nicht in der Defensive verharrt. Impulsgeber für eine aktive Vorwärtsstrategie war unter anderem der Lausanner Architekt Bernard Tschumi, der in Paris, ganz am Rand der City, an der Périphérique, einen neuen Park auf aufgegebener Industriefläche entworfen hat: Der Parc de la Villette bot 1987 viel Neues, er wurde vor allem durch eine internationale Diskussion und auch seine theoretische Überhöhung bekannt. Tschumi legte die drei Grundelemente der euklidischen Geometrie - Punkte, Linien, Flächen - ganz konstruktiv übereinander und seinem Park zugrunde. Damit erzeugte er komplexe Raumperspektiven und verwirrende Bedeutungskonnotationen, aber auch einen konzeptionell neuen Ansatz. Vielleicht kann der Impetus der Gartenarchitekten heute grundsätzlich nicht mehr darin bestehen, in der Herstellung von großen und möglichst natürlichen Freiflächen den Eindruck von purer Natur zu vermitteln - ohnehin ein so hoffnungsloses wie unehrliches Unterfangen. Die derzeit blühende Kunst der künstlichen Natur will sich wieder einem der Architektur angenäherten Rang erobern - und sei der städtische Raum dafür noch so knapp.
Ohnehin hat sich in den letzten zehn bis zwanzig Jahren das Selbstverständnis der Freiraumplaner erheblich gewandelt. Die junge Generation scheint wieder stärker an der Stadt und an den kulturellen Aspekten der Berufsaufgaben als an den naturalen interessiert. Zwar zeichnet sich der weitaus überwiegende Teil der in den letzten Jahren realisierten Freiraumgestaltungen durch jene Banalität aus, die durch Poller-, Pflaster- und Pflanzenkataloge vorgegeben wird, garniert mit Leuchten, Bänken und Spielgeräten aus dem Angebot der Baumärkte. Aber in vielen Büros wird Landschaftsarchitektur nun als Kunst formuliert, propagiert, diskutiert und umgesetzt. Es überwiegt mittlerweile eine dezidiert städtische Freiraumgestaltung, mithin streng, geometrisch und tektonisch, sich bewußt abgrenzend vom "weichen Grün" - wie es etwa in Berlin beim Theodor-Wolff-Platz in Kreuzberg (Regina Poly), beim Neuköllner Comenius-Garten (Müller/Knippschild/Wehberg) oder dem Stadtplatz Havemannstraße in Marzahn (Heike Langenbach) praktiziert wurde. Die konservierende Maxime der Landschaftsplanung der 70er Jahre ist längst einer experimentellen Orientierung gewichen.
Ein Beispiel für hochgradig unkonventionelle Herangehensweisen ist die 1950 geborene Amerikanerin Martha Schwartz, die zwar in Europa erst wenigen ein Begriff, zugleich aber bereits eine der umstrittensten Landschaftsarchitektinnen der Gegenwart ist. Sie selbst bezeichnet ihre Arbeit als "funky minimalism": Auf einer Dachterrasse des MIT entwarf sie einen Garten, der ausschließlich aus Plastikpalmen, Stahlhecken und Kunstrasen besteht. Andernorts huldigt eine Heerschar goldener Frösche einem weissen Globus, und in ihrem allerersten Garten lagen 36 Bagels auf violettem Aquariumkies zwischen alten Buchsbaumhecken. Am Hauptsitz der Swiss Re, in München-Unterföhring, zeigt sich ein erst unlängst realisierter Entwurf zwar weitaus gemäßigter, indem sie das ganze Grundstück in vier Quadranten teilt und jedem eine Farbe gibt. Aber ihre künstlerischen Wurzeln liegen in der Tat eher in der Pop-Art und der Minimal Art der sechziger Jahre als in naturbeschwörenden oder garten-nostalgischen Gefilden. Deswegen erstaunt nicht, dass sie sich mit ihren Schöpfungen Feinde macht. Ihre Gegner werfen ihr vor, eine sinnentleerte Konsumkultur zu bedienen. Ihre Anhänger halten ihr zugute, die Diskussion um Natur, Kunst und Künstlichkeit neu zu beleben.
Genau das ist nötig. Wie die Baulücke um die Ecke, seit Jahr und Tag umzäunt und von Ruderalvegetation in Beschlag genommen, einer so konzisen wie preiswerten "Freiraumaktion" unterzogen werden könnte, so müßten auch die unwirtlichen Grünflächen am Rande von Autobahnauffahrten neu zugänglich gemacht, die Beliebigkeit von Infrastruktureinrichtungen neu "eingefangen" werden. Was aber bedeutet, dem, was bisher bloß Restraum war, einen eigenen ‚nachhaltigen‘ Entwicklungsanspruch zuzubilligen. Und, auf einer anderen Maßstabsebene, die Beschränkung der Freiraumplanung auf die Kernstädte zu überwinden und ihren Handlungsrahmen auf den suburbane Raum auszudehnen. Denn dieser wurde bislang allenfalls nach den Bedürfnissen der City entwickelt. Die Landschaft der Peripherie galt dabei als der aufnahmefähige neutrale Grund, während die Stadt-, Siedlungs- und Baustrukturen zwecksetzend und figurbildend waren. Diese Sichtweise leistet aber nur der Zerstückelung und Degradierung von Suburbia Vorschub.
All den Brachen, Nicht-Orten und Restflächen die Möglichkeit für Aneignung zu geben, eine ‚teilnehmende Beobachtung‘ zu befördern, strukturierte Zusammenhänge erlebbar zu machen, heißt, die Prioritäten weniger in der historischen und ökologischen Korrektheit zu setzen als in der Realität heutigen Großstadtlebens und seines direkten Ausdrucks in und mit Formen der Natur. Dass dies über das bloß Zweckmäßige hinausgeht, darauf hatte schon Bertolt Brecht hingewiesen: "Befragt über sein Verhältnis zur Natur, sagte Herr K.: ‚Ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen. Besonders da sie durch ihr der Tages- und Jahreszeit entsprechendes Andersaussehen einen so besonderen Grad von Realität erreichen. Auch verwirrt es uns in den Städten mit der Zeit, immer nur Gebrauchsgegenstände zu sehen, Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären. Unsere eigentümliche Gesellschaftsordnung lässt uns ja auch die Menschen zu solchen Gebrauchsgegenständen zählen, und da haben Bäume wenigstens für mich, der ich kein Schreiner bin, etwas beruhigend Selbständiges, von mir Absehendes, und ich hoffe sogar, sie haben selbst für die Schreiner einiges an sich, was nicht verwertet werden kann.‘ ‚Warum fahren Sie, wenn Sie Bäume sehen wollen, nicht einfach manchmal ins Freie?‘ fragte man ihn. Herr Keuner antwortete erstaunt: ‚Ich habe gesagt, ich möchte sie sehen aus dem Hause tretend.‘"