Einsam vor Gott: Godard, die Nouvelle Vague und die Verantwortung der Kunst
Seite 4: Macht der Bilder
Im Oktober 1965 schenkte Levine dem Museum of Modern Art in New York sieben Filme. Le mépris - bis in die 1990er hinein selbst bei Godard-Retrospektiven kaum noch zu sehen - war nicht dabei, obwohl ihn sich das MoMA sehr gewünscht hätte. Auf Nachfrage erwiderte Levine, Godard sei die Personifizierung dessen, was schief laufe in Frankreich. In einem Interview mit dem New Yorker (16.7.1967) erklärte er Le mépris zum schlechtesten Film, den er je produziert habe. Seine Firma habe eine Million Dollar verloren, weil sich der Regisseur nicht an das Drehbuch gehalten habe. Das war das Drehbuch, das Godard selbst geschrieben hatte und das sich recht genau an die Romanvorlage hält.
Denselben Vorwurf macht Jeremy Prokosch, in Le mépris, Fritz Lang. Godard legt bei der Gelegenheit wieder einen Teil des Apparats bloß, der verborgen bleibt, wenn sich ein Filmemacher an die Regeln hält. Wir sind in einem Vorführraum in Cinecittà. Dort erleben wir das Medium Film nicht als "Fenster zur Welt" (eine Lieblingsmetapher der Industrie), sondern als ein im Entstehen begriffenes Konstrukt. Wir sehen Zuschauer, den Filmvorführer, den Projektor, die Klappe, den Regisseur (als Namen auf der Klappe sowie in der Person von Fritz Lang) und stilisierte Bilder, die er inszeniert hat.
Macht der Bilder (13 Bilder)
Auf der Leinwand erscheinen Statuen antiker Götter, eine Büste von Homer, Penelope, Odysseus mit Pfeil und Bogen und einer der getöteten Freier. Godard zeigt uns das Sichten der Muster und das Filmen als die Herstellung von vielen Einzelteilen, die später verworfen oder so montiert werden, dass eine Geschichte daraus entsteht. Die Nummern auf der Klappe (für Szene und Take) braucht man, um sich beim Schneiden in der Fülle des Materials zurechtzufinden. Bei jedem Schritt gibt es Eingriffsmöglichkeiten, sei es durch den Regisseur oder durch den Produzenten, die einen Film verändern können.
Godard nimmt sich Zeit für Prokoschs Reaktionen. Auf der Leinwand planscht eine nackte junge Frau im Wasser herum. Prokosch freut sich darüber wie ein Säugling beim Blick auf die Mutterbrust. Angesichts der Statuen wirkt er konsterniert, glaubt aber zu wissen, wie sich die Götter fühlen, weil er sich selbst für einen hält. Lang holt ihn vom Sockel und erwidert, dass nicht die Götter den Menschen erschaffen hätten sondern der Mensch die Götter - so wie der Autor Homer die Odyssee erschaffen hat, ist gemeint, und der Regisseur Godard den Film Le mépris. Damit wird die Kunst in ihr Recht gesetzt, das ihr Prokosch bestreiten will.
Macht der Bilder (18 Bilder)
In die Muster hat Godard Bilder von den Dreharbeiten auf Capri eingeschmuggelt, die erst noch stattfinden müssen. Der chronologische Ablauf der Ereignisse ist auch nur eine Konvention des Filmgewerbes, an die man sich hält oder eben nicht. Für den Produzenten ist das, was Lang bisher abgeliefert hat (und noch abliefern wird), brotlose Kunst, mit Ausnahme der nackten Schwimmerin. Das führt zu dem Vorwurf, den Lang im Laufe einer langen Karriere schon oft gehört hatte. Prokosch fühlt sich betrogen, weil sich der Regisseur nicht an das Drehbuch gehalten habe.
Lang erklärt geduldig, dass im Drehbuch etwas Geschriebenes steht, während man auf der Leinwand Bilder sieht. Bei der Übertragung vom Wort ins Bild zeigt sich die Macht des Regisseurs. Dort kann er Widerstand leisten. "Bardot nackt und mit Piccoli im Bett" stellten sich Levine und Ponti sicher anders vor als das, was sie dann zu sehen kriegten. Die Odyssee, sagt Lang, erzählt vom Kampf der Menschen gegen die Götter. Wenn der Produzent ein Gott ist sind Lang und Godard zwei von den Menschen, die gegen ihn aufbegehren. Godard erfuhr dann, wie es ist, wenn sich Gott das nicht gefallen lässt.
Erfindung mit Zukunft
In Le mépris kriegt Prokosch einen Wutanfall und schlägt dem Projektionisten einen Stapel mit Filmbüchsen aus den Händen. Nach einem Blick in das Manuskript muss er zugeben, dass der Regisseur tatsächlich inszeniert hat, was da steht, nur anders als erwartet. Eine Frau im blauen Arbeitskittel sammelt die Büchsen wieder auf. Man beachte auch die blauen Sessel im Vorführraum, das bläuliche Licht des Projektionsstrahls, den farblichen Hintergrund in den Mustern von Odysseus, Penelope und dem Freier sowie die Anmerkungen zur Farbkodierung im ersten Teil dieses Artikels.
Unterhalb der Leinwand, auf blauem Untergrund, ist ein Ausspruch von Louis Lumière angebracht, der zusammen mit seinem Bruder Auguste am 28. Dezember 1895 im Pariser Grand Café die (zumindest in Frankreich) erste Filmvorführung vor zahlendem Publikum veranstaltete: "Das Kino ist eine Erfindung ohne Zukunft". Wie man sich täuschen kann. Das Zitat signalisiert, womit wir hier zu rechnen haben. Über Godard gibt es das Bonmot, dass er mehr aus dem Dunkel der Cinémathèque hervorkam als aus dem Bauch einer biologischen Mutter.
Erfindung mit Zukunft (11 Bilder)
Er und die anderen von der Nouvelle Vague waren die erste Generation von Regisseuren, die über eine umfassende Kenntnis der Filmgeschichte verfügten und das in ihrer Arbeit auch reflektierten. Das heißt nicht, dass sie sich in ihr verloren hätten. Ausgangspunkt und Anker war das Hier und Jetzt. Ist das also die wahre Zukunft (bzw. Gegenwart) des Kinos: Ein sich für allmächtig haltender Produzent lebt auf Kosten anderer Leute seine Launen aus? Und wie verhält es sich mit der Zukunft, die inzwischen zur Vergangenheit geworden ist, also mit den Jahren zwischen 1895 und 1963, als Godard Le mépris drehte? Die Antwort gibt der Film.
Prokosch greift sich eine von den Büchsen und schleudert sie wie einen Diskus durch den Vorführraum. "Endlich kriegen Sie ein Gefühl für die griechische Kultur", kommentiert Lang ironisch. Mit Kritik an der Bildungsferne eines vornehmlich an Geld, Macht und Frauen interessierten Kapitalisten hat das nur an der Oberfläche zu tun. Darunter gähnt ein Abgrund. Godard schrieb einmal, dass Fritz Lang das Gewissen von Le mépris sei. Was damit gemeint ist lässt sich anhand der Szenen im Vorführraum studieren. Ohne Lang, ohne seine Biographie, ohne sein Wissen und ohne seine Verankerung in der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte wären sie ganz anders.
Leni Riefenstahls Olympia-Film (12 Bilder)
Godard und Lang wussten, dass auch den alten Griechen die Unschuld abhanden gekommen war, seit sie die Nazis für ihre Propaganda missbraucht hatten. Wer beim die Büchse schleudernden Prokosch an den Prolog von Leni Riefenstahls Olympia-Film denkt liegt sicher richtig. Durch Überblendung wird aus der Statue eines Diskuswerfers der gestählte Körper eines Athleten, der den Diskus symbolisch aus dem Nebel der Geschichte in das Berliner Olympiastadion wirft. Dort marschiert die griechische Mannschaft mit gestrecktem Arm an Adolf Hitler vorbei. So inszenierten sich die Nazis als die Nachfolger der Hellenen.
Zwischen Ithaka und Edeka
Der Kontext für die Wurfbemühungen des Produzenten ergibt sich aus den folgenden Dialogen. "Wenn ich das Wort ‚Kultur’ höre hole ich mein Scheckheft raus", antwortet Prokosch auf den Kommentar des Regisseurs. In der deutschen Synchronfassung von 1964 erwidert Lang: "Vor ein paar Jahren - es ist noch gar nicht so lange her - zog man den Revolver anstelle des Scheckbuchs." Da hat man die Nazis wieder mal entfernt. In deutschen Synchronstudios hatte das Methode. Auch die FSK mischte sich ein, wenn ein Film zu deutlich wurde.
Verweise auf die braune Vergangenheit, zumal in Filmen von Ausländern, wurden als Angriff auf die Völkerverständigung gewertet. Diesem Aufruf zur Amnesie muss man nicht folgen. Im Original sagt Lang (erst englisch und ab den Hitleranhängern französisch): "Some years ago - some horrible years ago - les Hitleriens disaient revolver au lieu de carnet de chèques." Gemeint ist ein in den horrible years häufig verwendetes Zitat aus Schlageter, einem NS-Propagandastück. In der deutschen Fassung sind die fürchterlichen Jahre und die Hitleriens verschwunden. Das macht es schwieriger, die Anspielung zu erkennen.
Der Weltkriegsveteran und Freikorpskämpfer Albert Leo Schlageter wurde 1923 von den Franzosen wegen Sprengstoffanschlägen im besetzten Ruhrgebiet hingerichtet, von den Nazis als nationaler Märtyrer gefeiert und der deutschen Jugend als Vorbild präsentiert, um deren Opferbereitschaft zu steigern. Uraufgeführt wurde das Stück am 20. April 1933, an Hitlers Geburtstag und in dessen Anwesenheit. Danach spielten es 115 deutsche Bühnen und es wurde Schullektüre. "Wenn ich Kultur höre … entsichere ich meinen Browning!", sagt eine der Figuren. Oft wird das Zitat Goebbels zugeschrieben, und gelegentlich Hermann Göring.
Lang, der im Sommer 1933 nach Paris übersiedelte und vorher miterlebte, wie die Nazis Das Testament des Dr. Mabuse verboten und das Land mit ihrer Propaganda überzogen, kannte bestimmt die Quelle. Aber auch, wenn man beim gezogenen Revolver an Goebbels denkt, oder an die "Hitleriens" ganz allgemein, ist der Zweck erreicht. Wer sich informiert kriegt einen Mehrwert. Beim Hören der deutschen Version wird das erschwert, weil man ohne eigenes Vorwissen gar nicht erst auf die Idee kommt, dass es etwas gibt, worüber man sich informieren könnte. So war das von den Synchronzensoren wohl beabsichtigt.
Wer trotzdem mehr wissen will: Der Autor von Schlageter, Hanns Johst, wurde 1935 von Goebbels zum Präsidenten der Reichsschrifttumskammer ernannt. In dieser Funktion hatte er die Aufgabe, "Schädlinge" vom deutschen Schrifttum fernzuhalten. Als "Barde der SS" gab er einer menschenverachtenden Ideologie einen pseudo-intellektuellen Anstrich und wurde von den Nazis mit Preisen überhäuft. Der "NS-Dichterfürst" sah sich schon als den Homer der Herrenrasse, als er mit seinem Angelfreund Heinrich Himmler übereinkam, eine "Saga des Großgermanischen Reiches" zu schreiben (der "liebe Heini" hielt es mehr mit den Römern und nannte Johst seinen "Tacitus").
Wenn man das weiß ergeben sich aus der Verbindung von Bild (die von Lang abgefilmte Homer-Büste) und Dialog (das Revolver-Zitat) Bezüge, die einen direkt in eines der thematischen Zentren von Le mépris führen: die Verantwortung der Kunst angesichts der NS-Verbrechen. Wer sich gruseln möchte lese Ruf des Reiches - Echo des Volkes! (1940), ein Werk, das es bis 1944 auf acht Auflagen und knapp 150.000 Exemplare brachte. Der Nazi-Homer schildert da eine mit seinem Freund Heini unternommene "Ostfahrt", Bemerkungen über die "deutsche Odyssee" inklusive.
Reiseziel war das kürzlich überfallene und nun zu kolonisierende Polen, wo Johst Zeuge von Massenumsiedelungen und des beginnenden Völkermords wurde. Ruf des Reiches war der erste Teil seines Germanen-Projekts, und zum Glück der letzte. Stalingrad scheint ihn demotiviert zu haben, und nach dem Krieg war der Heroismus auf Naziart nicht mehr gefragt. Vorübergehend als Hauptschuldiger eingestuft und 1955 nach einem Jahre dauernden Entnazifizierungsverfahren "rehabilitiert", schrieb Johst anstelle der einst geplanten Saga nun Gereimtes für Die kluge Hausfrau, die Kundenzeitschrift von Edeka (als "Odemar Oderich").
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