Einsamkeit ist ein Grundgefühl
Neurobiologen finden das Einsamkeitszentrum im Gehirn
"Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei", heißt es schon in der Genesis. Allerdings wusste Olli Schulz einige Jahrtausende später zu präzisieren: "Du bist so lange einsam, bis du lernst, allein zu sein." Alleinsein und Einsamkeit, das sind natürlich zwei ganz verschiedene Zustände, und Gott dachte im Garten Eden sicherlich eher an Fortpflanzung als an Befindlichkeiten. Man kann einsam sein, ohne allein zu sein, und umgekehrt.
Was ist der Unterschied? Klar: Einsamkeit fühlt sich unangenehm an. Wer einsam ist, wünscht sich Gesellschaft; es treibt ihn geradezu in die Nähe von Menschen. Doch nicht irgendwelcher Menschen, wie schon die Beatles wussten: "Do you need anyone? - I need somebody to love. - Could it be anyone? - I want somebody to love", säuselte Paul McCartney. Nicht irgendwer - es müssen Personen sei, die einem (und die räumliche Metapher scheint kein Zufall zu sein) nahestehen.
Es ist seit langem bekannt, dass sozialer Kontakt belohnend wirkt. Zum Beispiel ist dies ein Grund, warum Drogensüchtige wenig Sozialverhalten zeigen: Sie halten ihre Belohnungs- oder Verstärkungsbahn, also die Nervenfasern, die vom ventralen Tegmentum in den Nucleus accumbens ziehen (Warum nicht einfach aufgeben?) und dort Dopamin ausschütten, mit Drogen hinreichend beschäftigt, so dass sie nicht mehr nach anderer Belohnung durch Sozialkontakt (oder auch Essen) hungern.
Tierexperimentell hat die Arbeitsgruppe von Karl Deisseroth (Stanford) kürzlich umfassend gezeigt, dass die Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens mit sozialer Interaktion ansteigt, dass sie die Aktivität der dortigen Neuronen verändert, und dass experimentelle Manipulationen der Dopaminausschüttung sich auf das Sozialverhalten auswirken.
Jedoch: "Halb zog es ihn, halb sank er hin" - Goethes Fischer erfährt, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Das Zusammensein mit einem begehrten Artgenossen zieht und wirkt belohnend, aber er sinkt auch hin: Die Einsamkeit treibt ihn. Gibt es dafür eigene neuronale Mechanismen?
Übersehene Neuronen für ein übersehenes Gefühl
Forscher vom MIT und vom Imperial College in London haben sie gerade entdeckt. Die Arbeitsgruppen von Mark Ungless und Kay Tye waren auf eine Zellpopulation im Hirnstamm gestoßen, von deren Existenz die meisten Neurobiologen gar nichts wussten: Dopamin-ausschüttende Neuronen in den Raphekernen.
Die Raphekerne kennt jeder Neurobiologe als Ursprung der Serotoninbahn, welche das gesamte Gehirn durchästelt. Serotonin, nicht Dopamin. Von Dopaminneuronen in den Raphekernen zu lesen, ist so, als läse man von evangelischen Priestern im Vatikan: Man glaubt an einen Druckfehler.
Es ist aber keiner. Tatsächlich gibt es dort eine Gruppe von Zellen, die Dopamin und, wie die Forscher herausfanden, gleichzeitig auch Glutamat in ihren Zielgebieten ausschütten. Da diese Zellen so unbekannt sind, erledigten die Wissenschaftler quasi nebenbei auch die ganze Basisarbeit, indem sie zeigten, wo die Leitungsfortsätze - die Axonen - dieser Neuronen hinlaufen, dass sie in diesen Zielgebieten tatsächlich Dopamin und Glutamat ausschütten, wenn sie aktiviert werden, und dass die Zellen dort darauf reagieren.
Aber wozu sind sie gut? Die Forscher mutmaßten, dass sie etwas mit der unangenehmen Seite von sozialer Isolation zu tun haben könnten. Also nahmen sie Mäuse ihrer Gruppe und setzten sie in einen Isolierkäfig. 24 Stunden danach hatten sich die Synapsen an den Raphe-Dopamin-Neuronen merklich verstärkt, und zwar umso deutlicher, mit je mehr Artgenossen die Mäuse bislang zusammen gewohnt hatten. Dieser Effekt war nicht darauf zurückzuführen, dass die Entnahme aus der Gruppe ja auch das Einsetzen in einen neuen Käfig implizierte. Und zum Vergleich: An den "normalen" Dopaminneuronen im ventralen Tegmentum änderte sich nichts.
Damit waren die Raphe-Dopamin-Neuronen durch stärkere synaptische Eingänge leichter erregbar. Würde sich das bemerkbar machen? Ja: Sobald die für einen Tag isolierten Mäuse wieder mit einem Artgenossen zusammengesetzt wurden, feuerten die Neuronen deutlich verstärkt während der ersten sozialen Interaktionen - hingegen nicht, wenn die Maus zuvor nicht isoliert gewesen war, oder wenn man ihr statt eines Artgenossen ein Objekt vorsetzte.
Bis hierhin sind es reine Beobachtungsdaten, die nahelegen, dass diese bislang fast unbekannten Neuronen irgendwas mit sozialer Isolation zu tun haben. Um behaupten zu können, dass sie "Einsamkeit" kodieren, braucht es stärkere Beweise. Also griffen die Wissenschaftler zur Optogenetik, die innerhalb weniger Jahre fast eine Standardmethode geworden ist.
Indem sie lichtempfindliche Ionenkanäle gezielt in die untersuchten Neuronen einbrachten, konnten die Forscher diese nach Belieben mit einem blauen Laserstrahl anregen. So konnten sie zeigen, dass die Aktivierung der Raphe-Dopamin-Neuronen dazu führt, dass Mäuse nach sozialem Kontakt suchen, und ihre Hemmung (über einen anderen Kanal), dass sie das Interesse daran verlieren. Außerdem ist die Reizung dieser Neuronen den Mäusen unangenehm: Wenn sie sich frei durch zwei Kammern bewegen dürfen, in deren einer die Neuronen durch den Laser angeregt werden, dann meiden sie diese Kammer fortan.
Gemeinsam einsam
Also: Die Aktivität der Raphe-Dopamin-Neuronen löst ein unangenehmes Gefühl aus, das nach Sozialkontakt suchen lässt: Das klingt schon sehr überzeugend nach Einsamkeit. Die Interpretation wird noch überzeugender und auch interessanter dadurch, dass der Effekt auch davon abhängt, welchen sozialen Status die Mäuse haben. Mäuse bilden bei Gruppenhaltung in Gefangenschaft eine Rangfolge aus. Und die bestimmt, wie wohl sich die Maus in der Gruppe fühlt: Je höher der Rang der Versuchsmäuse, desto unangenehmer war ihnen die Aktivierung der Raphe-Dopamin-Neuronen, desto mehr ließ die Aktivierung sie nach Sozialkontakt suchen, und Hemmung ihn meiden. Bei den rangniedrigsten Mäusen waren die Effekte nahezu Null: Sie waren schon in der Gruppe einsam.
Die Autoren verweisen darauf, dass die Raphe-Dopamin-Neuronen evolutionär hoch konserviert sind: Man findet sie bei allen untersuchten Säugetieren, auch beim Menschen. Tatsächlich wirkt ja gerade der letztgenannte Befund vertraut: In Gesellschaft von Leuten, mit denen man sich nicht wohlfühlt, ist man einsam. "We've lost the difference between bored and lonely anyway", sangen the Beautiful South; vielleicht meinten sie das. Vermutlich betrifft das nicht nur gemobbte Omega-Personen, sondern hat der Mensch mit seinem komplexen Sozialverhalten auch andere, weniger lineare Möglichkeiten, sich in der Gruppe fremd zu fühlen. Und dann wäre man lieber allein.
Neuling im Gefühlsclub
Leider muss ich diesem schönen Schlusssatz noch einen Nachsatz hinterher schicken. Denn eine bedeutende Implikation ihres Fundes haben die Autoren des Artikels gar nicht kommentiert: Sie haben Einsamkeit als neue Grundemotion etabliert.
Seitdem Menschen über Menschen nachdenken, haben sie sich gefragt, welche der vielen Gefühlswetterlagen, die einen Menschen heimsuchen können, grundlegende Bausteine sind, und welche eher abgeleitet, zusammengesetzt, modifiziert. Die Suche hat zahlreiche Listen von Grundemotionen (PDF) hervorgebracht, die sich nur gelegentlich überlappen. Angst ist fast immer dabei - außer im anscheinend furchtlosen 17. Jahrhundert. Lange Zeit ist Liebe dabei, und verschwindet dann, dafür ist Ekel seit Paul Ekman ein Neuzugang.
Ekman hat Grundemotionen danach definiert, dass ihr mimischer Ausdruck in allen Kulturen erkannt wird. Da die Kommunikation des inneren Zustands seit Darwin ein anerkannter Aspekt von Gefühlen ist, kann man das so machen. Man könnte aber auch argumentieren, dass ein Gefühl, für das sich eine klar definierte Grundlage im Gehirn findet, eine Grundemotion ist. Das gilt für das Verlangen (Warum nicht einfach aufgeben?), das Genießen (Aktivierung des Nucleus tegmenti pedunculopontinis), die Furcht (Aktivität in der Amygdala). Und jetzt für die Einsamkeit - die bislang, zumindest im abendländischen Kulturkreis, noch niemand auf dem Schirm gehabt hat.