Einstufung als Genozid: Warum das Votum des Bundestags zum Holodomor problematisch ist
Seite 2: Bundestag und Holodomor: Gefährlicher Whatsaboutismus
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Vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine und einer diesem Krieg folgenden nationalistischen Abgrenzung meist osteuropäischer und baltischer Staaten gegen Russland hat der Bundestag die schwere Hungersnot in Teilen der ehemaligen Sowjetunion mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und der Union Mitte dieser Woche als Völkermord eingestuft. Der "gezielten und massenhaften Tötung von Menschen durch Hunger fielen Millionen Menschen in der Ukraine zum Opfer", heißt es, etwas unbeholfen formuliert, in dem Antrag dieser Ganz Großen Koalition.
Diese Entscheidung ist unter dem Eindruck des russischen Krieges so politisch motiviert wie der Wandel des russischen "Präsidenten Wladimir Putin" zum "Diktator Wladimir Putin" in Teilen der Leitmedien.
Denn zweifelsfrei waren die Hungersnöte in der Sowjetunion eine Tragödie, ein Massenmord. Doch sie beschränkten sich nicht auf dieses Land und nicht auf die 1930er-Jahre. Die teilweise verheerende Unterversorgung dauerte bis Anfang der 1950er-Jahre an und war von der geradezu staatsterroristischen und bauernfeindlichen Strukturpolitik Stalins massiv verstärkt worden. Sie hatte ihre Ursachen zugleich in der Unterentwicklung aus der Zeit des zaristischen Regimes – worüber heute ja kaum mehr jemand spricht.
Das alles und noch mehr wischen die Bundestagsabgeordneten in einem tendenziösen und ahistorischen Beschluss vom Tisch. Der Inkaufnahme des Massensterbens der 1930er-Jahre durch die sowjetische Führung wird mit der Formulierung des "gezielten Tötens" en passant ein Mordmerkmal vorangestellt.
Das ist geschichtlich und politisch problematisch. Denn im gleichen Antragstext stufen deutsche Abgeordnete Verbrechen der Wehrmacht, auch in Zuge des Holocausts, zu einfachen "Verbrechen" herab. Deren Mordfeldzug wird zwar mit deutlichen Worten beschrieben, aber eben nicht als Genozid eingeordnet.
Was soll das alles also? Diese Entscheidung des Bundestags ist Teil eines Kampfes um die historiografische Deutungshoheit, mit dem Ziel, aktuelle Kräfteverhältnisse zu beeinflussen. Die Opfer der Vergangenheit, die historische Wahrheit, werden geo- und realpolitischen Interessen untergeordnet.
Das wird ja auch offen erklärt: Es gehe darum, Russland zu "isolieren" heißt es dann. Oder die Hungersnot der 1930-Jahre in der Sowjetunion wird, wie im Antrag von Regierungsfraktionen und Union, als Angriff auf die ukrainische "Lebensweise, Sprache und Kultur" uminterpretiert. Dass auch Menschen in anderen Regionen der Sowjetunion betroffen waren, das Massensterben also geografisch und zeitlich weit umfassender war, wird erwähnt, in der Argumentation aber geflissentlich übergangen.
Dabei hatte der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags noch 2017 entschieden: "Eine abschließende Bewertung, ob sie als Opfer eines Genozids im Sinne der späteren Völkermordkonvention der Vereinten Nationen zu verstehen sind, steht noch aus. Dennoch spricht einiges dagegen." Ähnlich entschied der Europarat. Seither haben sich keine weiteren Erkenntnisse ergeben. Nur die Haltung hat sich geändert.
Wo beginnt und wo endet eine solche Uminterpretation der Geschichte? Die Deutschen müssen sich das am ehesten in Anbetracht der Blockade Leningrads fragen, von deren brutalen Ausmaß sich selbst der Kriegsverbrecher Joseph Goebbels in seinen Tagebüchern schockiert zeigte.
Wie zuvor erwähnt, die Autoren des nun verabschiedeten Antrags stufen diese gezielte Ermordung einer gesamten Stadtbevölkerung lediglich als "Verbrechen" oder "Kriegsverbrechen" ein. Die Staatsanwaltschaft von St. Petersburg, wie die einst belagerte Metropole heute wieder heißt, hat fast zeitgleich beantragt, das damalige Vorgehen der deutschen Wehrmacht als Genozid einzustufen. Die Debatte wird also nicht beendet sein.
Und was kommt als Nächstes? Werden die Schotten die gezielten Angriffe auf Dörfer und Siedlungen nach der Niederlage in Colluden im Jahr 1746 als britischen Genozid einstufen lassen – was in Anbetracht des Vorgehens des britisch-hannoverscher Adeligen William August Cumberland durchaus berechtigt wäre –, um ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum durchzusetzen?
Solche Beispiele zeigen, dass die Suche nach der historischen Wahrheit Historikern überlassen werden sollte. Nicht Abgeordneten, die im Plenum mitunter nicht einmal wissen, worüber sie abstimmen, weil sie nur den Fraktionsvorgabe folgen.
Die Fokussierung auf den Holodomor und auch aktuelle russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine bringt in Deutschland noch einen anderen Kollateralschaden mit sich. Die Deutschen verweisen zwar noch auf den Holocaust, verwässern dessen singulären Charakter aber zusehends. Eine Folge zeigt sich auf Ukraine-Demos, bei denen auf Schildern Wladimir Putin als neuer Adolf Hitler dargestellt wird. Und endlich können wir sagen: "Wir waren’s nicht, Wladimir Putin ist es gewesen."
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