Fernab der Wissenschaft

Mehr politischer Akteur als Historiker: Timothy Snyder. Bild: Heinrich-Böll-Stiftung, CC BY-SA 2.0

Isoliert in der Forschung versuchen Anne Applebaum und Timothy Snyder, ihre politischen Ansichten als Werke von Wissenschaftlern darzustellen

Eine besondere Rolle im deutschen Diskurs zum Ukrainekrieg im Speziellen und dem Verhältnis zu Russland im Allgemein spielen die beiden US-Amerikaner Anne Applebaum und Timothy Snyder. Sie schreiben Artikel in deutschen Zeitungen und Zeitschriften, erscheinen in Talkshows.

Beide werden dabei immer als "Historiker" vorgestellt, wobei außen vor bleibt, wie sehr im Abseits der geschichtswissenschaftlichen Forschung stehen und wie wenig ihre Arbeit direkt mit der von anderen Wissenschaftlern zu tun hat.

Die 1964 geborene Applebaum wuchs in Neuengland auf. 1982 begann sie einen Bachelor an der renommierten Yale-Universität und schloss diesen mit den Doppelfächern Geschichte und Literatur ab.

Danach studierte sie Internationale Beziehungen an der ebenso angesehenen London School of Economics in der britischen Hauptstadt. Ihre Ausbildung als Historikerin beschränkte sich auf einen Doppelfach-Bachelor und vielleicht ein paar Kurse im Master – mehr nicht.

Applebaum schien auch nicht darauf aus, geschichtswissenschaftliche Arbeit zu machen. Bis heute hat sie keinen einzigen geschichtswissenschaftlichen Fachartikel geschrieben. Stattdessen startete sie eine Karriere als Korrespondentin des britischen Magazins The Economist in Warschau und ging später dazu über, Artikel für andere Zeitungen wie das Wall Street Journal, die New York Times und zahlreiche andere in Großbritannien, Polen, den USA und auch Deutschland zu schreiben.

Mitte der 1990er-Jahre veröffentlichte die Washington Post einen Artikel darüber, wie erfolgreich sie eine Karriere in torynahen Publikationen in Großbritannien machte.

Erst später wandte sie sich von britischen Konservativen ab. Darüber hinaus arbeitete sie für verschiedene Denkfabriken wie die American Academy in Berlin und dem der britischen Konservativen Partei nahestehenden britischen Think-Tank Legatum Institute. Sie ist in der transatlantischen Denkfabriken-Szene gut vernetzt.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten veröffentlichte Applebaum eine Reihe von Büchern, mit denen sie die öffentlichen Diskurse in verschiedenen Nato-Staaten beeinflussen wollte. Darunter vor fünf Jahren ein Buch zur Ukraine, welches im April 2019 unter dem deutschen Titel ‚Roter Hunger – Stalins Krieg gegen die Ukraine‘ erschien.

In Springers Die Welt hieß es, das Buch sei eine "glänzend geschriebenen Studie" und im Magazin Der Spiegel schrieb ein Autor unter Berufung auf Timothy Snyder, dass Applebaums Buch "sicherlich zum Standardwerk" werden würde.

In der FAZ hieß es, dass Applebaum ein "Buch über die Wirklichkeit des Sozialismus" geschrieben habe. Der deutschen Pressewald rezipierte das Buch von Applebaum hauptsächlich positiv.

Durchaus anders sah das jedoch in der Geschichtswissenschaft aus. Tarik Cyril Amar von der Universität Koç in der Türkei schrieb in einem längeren Artikel darüber, dass sich der Mehrwert für die Geschichtswissenschaft von ‚Roter Hunger‘ in Grenzen hielt.

Mangelhafte Beweisführung schon bei Robert Conquest

In seinem Aufsatz Politics, Starvation, and Memory: A Critique of Red Famine in der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift Kritika zog Amar vor allem Parallelen zu dem Buch The Harvest of Sorrow von Robert Conquest aus dem Jahr 1986, welches auf Deutsch mit dem Titel Ernte des Todes: Stalins Holocaust in der Ukraine 1929–1933 erschien.

Conquest argumentierte darin, dass die "Terror-Hungersnot" in der Ukraine politische Absicht der sowjetischen Staatsführung gewesen sei. Dafür konnte Conquest aber keine Primärquellen zitieren – u.a., weil der Zugang zu sowjetischem Archivmaterial in den 1980ern sehr beschränkt war.

Aus Mangel an stichhaltigen Beweisen bezog sich Conquest viel auf Exilantenquellen. Der erzkonservative britische Historiker sah sich deswegen mit heftiger Kritik von anderen Geschichtswissenschaftlern konfrontiert.

Bis heute gibt es keinen wissenschaftlichen Konsens über die Absichten der sowjetischen Regierung im Zuge der Hungersnot in der Ukraine, die Teil einer größeren Sowjetunion war, die bis nach Kasachstan reichte.

Dreißig Jahre später gestaltete sich der Aktenzugang zu vormaligen sowjetischen Akten ganz anders als zu Zeiten Conquests – und trotzdem zog Applebaum laut Amar keine Schlüsse, die nicht der Brite Conquest bereits 1986 gezogen hatte.

Amar kritisiert unter anderem, dass Applebaum die ukrainische nationalistische Bewegung der 1920er- bis 1950er-Jahre verharmloste. Außerdem nutzte sie den Begriff "Kollaborateur" nur in Bezug auf Ukrainer, die mit den Sowjets zusammenarbeiteten – aber nie im Zusammenhang von ukrainischen Faschisten, die mit den deutschen Nationalsozialisten kooperierten.

Ferner kritisierte Franziska Davies von der Universität München die teilweise vollkommen falsche Darstellung des Zweiten Weltkriegs sowie die Traditionslinien ukrainischer Exilfaschisten nach 1945 in Applebaums Buch.

Christopher Gilley von der Wiener Holocaust Library schrieb, dass Applebaum oft ukrainisch-nationalistische Narrative übernehme und dabei unliebsame Details ignorierte. Mark B. Tauger von der West Virginia University wiederum kritisierte, dass Applebaum selektiv Akten benutzte, von ihrer Meinung abweichende wissenschaftliche Arbeiten und auch Quellen ignorierte und sich viel auf Anekdoten bezog.

Alles in allem zweifelte Tauger an, ob Applebaums Buch als "populärwissenschaftlich" gelten könne, da es nicht dem aktuellen Stand der Forschung nahekomme.

Basierend auf einer äußerst fragwürdigen Expertise als Hobby-Historikerin äußert sich Applebaum – die mit ihrem Ehemann, dem früheren liberalen Außenminister Radosław Sikorski, auf einem Gutshof in Westpolen lebt – zur Ukraine, zu Russland und den Beziehungen Westeuropas zu beiden Ländern.

Während Applebaum gar nicht erst ernsthaft eine Historikerkarriere anfing, sah das bei Timothy Snyder ganz anders aus. Der in Ohio geborene US-Amerikaner studierte zunächst an der renommierten Brown University in Providence, der Hauptstadt des kleinen Bundesstaates Rhode Island.

Später wechselte er an die britische Universität Oxford und schrieb dort seine Doktorarbeit. Nach diversen Forschungsaufenthalten, u.a. in Wien und in Paris, wurde er Professor an der Universität Yale.