Ekelig, empörend und überhaupt geschmacklos?

Kannibalismus und die Sehnsucht nach ewiger Jugend: "Dumplings"

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Man kann es nicht leugnen: In Fruit Chans "Dumplings" geht es um Unappetitliches wie Kannibalismus, Abtreibung, Älterwerden und die Sehnsucht nach ewiger Jugend. Aber zugleich geht es auch um Rot, Grün und Weiß, um den Wind, der durch die Zimmer streicht, und die Vorhänge bewegt, und um unseren voyeurhaften Blick, der diesem Wind gleicht und um den Appetit, der in diesem Blick liegt. Und es geht um Hongkong und das Mainland, um Nord und Süd, Arm und Reich, Land und Stadt, die Frauen und die Männer, um höchst unterschiedliche Varianten weiblicher Existenz.

Silbergraues Haar auf silbergrauem Kissen, weißes Bettzeug, ein Mann mit weißem Gipsbein, und eine Frau mit knallroter Jacke, die verführerisch vor ihm steht, und es genießt, dass er sie anfassen möchte, aber es wegen seines Gipses nicht kann. Dann beugt sie sich ihm ein wenig entgegen, entzieht sich wieder, gibt ihm das gewünschte Wasser nur direkt aus ihrem Mund - eine Geste verhaltener Zärtlichkeit und unverhohlener Erotik, die in Küsse übergeht und in das Lachen, dass ihr Ehemann so lange an seiner Frau Ching vermisste.

Wären es nur solche Momente, man müsste Fruit Chans neuen Film schon sehen. Denn die Bilder von "Dumplings" sind nicht nur erotisch, sie sind fein und genau komponiert, und von höchster Eleganz. Eine Kamera, die nie ruhig wird, sucht die Räume ab, nimmt Fragmente und Ausschnitte auf. Indem sie durch Vorhänge oder Wände, hinter Tellern, durch kochenden Sud blickt, nie direkt hinschaut, sondern hervorlugt, immer um ein kleines bisschen aus der zentralperspektivischen Achse verschoben, wirkt sie wie der Blick eines Detektivs. Sie macht uns zum Voyeur, streicht durch die Wohnung wie der Wind, der die Vorhänge und Kleidungsstücke bewegt.

Vielleicht liegt es an dieser Kamera Christopher Doyles, vielleicht an den wunderbaren zwei Hauptdarstellerinnen, vielleicht an den prächtigen Kleidern, die sie tragen, vielleicht an der Genauigkeit und dem Einfallsreichtum, mit dem jedes Bild in den drei Leitfarben Rot, Grün und Weiß durchkomponiert ist, dass man sich hier mehr als einmal in einen Wong Kar-wai-Film versetzt fühlt. So ist "Dumplings" ein Kinowerk, das Lust und Appetit macht, obwohl es doch zugleich die Ekelgrenze mehr als einmal überschreitet, und man es bei den Sujets, die dieser intellektuelle Horrorfilm auf anspruchsvolle, unter die Haut gehende Weise vermischt - Kannibalismus, Abtreibung, Alterung und die Sehnsucht nach ewiger Jugend - kaum glauben mag.

Glück und die Speisen des Kapitalismus

Alptraum und Verführung liegen hier von Anfang an eng nebeneinander. In den ersten Minuten sieht man Ching, eine nicht mehr ganz junge, gut und teuer angezogene, schöne Frau, die in ein verwahrlostes Wohngebiet Hongkongs kommt, um sich dort in einer Privatwohnung von der jungen Mei Dumplings, Teigtaschen kochen zu lassen, die offenbar in der ganzen Stadt berühmt sind. Gleich schwingt hier auch ein Klassenkonflikt zwischen den beiden Frauen mit: So wie sichtbar ist, dass Ching nicht hier zuhause ist, sind die gröberen Manieren Meis erkennbar, auch wenn sie betont, sie sei ausgebildete Ärztin.

Sie käme aus dem Norden erzählt Mei weiter, und gibt sich damit als eine der vielen Neubürger zu erkennen, die seit Jahrzehnten aus der Volksrepublik nach Hongkong kommen, um in der kapitalistischen Metropole ihr Glück zu machen. Die Unterschiede zwischen beiden sind also auch welche der regionalen Herkunft.

Dumplings sind 1400 Jahre alt, eine typische Delikatesse des Nordens, die im Süden Chinas, der sich viel auf seine vermeintlich bessere Küche einbildet, geringer geschätzt wird. Der Diskurs über das Essen, der in den folgenden regelmäßigen Gesprächen der beiden geführt wird, ist also immer zugleich einer über die Herkunft, und damit über die Verhältnisse zwischen Nord und Süd, Mainland und Hongkong, arm und reich, Land und Stadt, über das vermeintlich schwerere Leben und das leichtere.

"Sie mögen reich sein, aber ich bin frei." sagt Mei einmal zu ihrer Auftraggeberin. Andererseits gibt es schnell auch Solidarität zwischen den zwei ungleichen Frauen - sobald es nämlich um die Männer geht, die "nur Sex im Kopf haben", und diesen Kopf ganz verlieren, ihre nicht mehr ganz taufrischen Ehefrauen vergessen, sobald "eine 20jährige" im Spiel ist. "Wir müssen unsere Zeit nutzen und gut leben." weiß Mei, die selbst wie eine neuzeitliche Hexe unbesiegbar wirkt und auf rätselhafte Weise eher außerhalb der Zeit zu stehen scheint - großartig verkörpert Bai Ling hier eine alte Frau im Körper einer jungen. So sieht man zwei schönen Frauen zu, die schöne Dinge tun, nämlich miteinander über ihre Schönheit sprechen: "You don't have any winkles" sagt die eine, "Age is just a number" die andere. Was zählt, ist der Körper.

Ekel und Attraktion

Gleichzeitig sorgen Tonspur und Musik dafür, dass man sich von Anfang an wie in einem Horrorfilm fühlt, spürt, dass "etwas nicht stimmt". Sie sei viel älter, als sie aussieht, sagt Mei, "das liegt an meinen Dumplings." Die entpuppen sich als Jugendelixier, schnell sieht auch die Kundin, übrigens früher Schauspielerin, noch besser und wieder jünger aus, und binnen kurzer Zeit erfüllt sich ihr Wunsch, für den fremdgehenden Gatten erneut attraktiv zu werden. Doch was ist das Geheimnis der wirkungsvollen Speisen? Man ahnt es schon früh, die endgültige Bestätigung erhält man, wenn man sieht, dass Mei, wenn sie keine Dumplings kocht, illegale Abtreibungen vornimmt, und sich aus den Embryonen dann gleich für die Füllung bedient.

Das ist nicht nur eine widerliche Vorstellung und nicht nur wunderschön inszeniert; es ist auch ein ernstes Spiel mit den Mythen von ewiger Jugend und Potenz, die in Asien ganz besonders blühen. Von ihnen sind alle besessen in diesem Film: Chings Gatte isst - auch das ein Erlebnis der anderen Art - halbausgebrütete Enteneier, denen man in China tatsächlich besondere aphrodisiakische Wirkung beimisst, und erprobt deren Wirkung dann mit seiner jungen Assistentin.

Originell und beziehungsreich vermischt Fruit Chan, der sich durch Filme wie "The Longest Summer", "Made in Hong Kong" und "Durian Durian" seit Jahren als einer der besten und unabgängigsten Hongkong-Regisseure etabliert hat, solche Motive. Zugleich schreibt er sich ein in die Kinotradition des surrealen Realismus, für die in der Gegenwart vor allem David Lynch und David Cronenberg stehen, zu deren Filmen und deren Vorliebe fürs Makabre "Dumplings" ganz offene Verwandtschaft aufweist.

"We are inside each other"

So enthält der Film ein paar durchaus ambivalente Aussagen über Kannibalismus. Spät im Film erteilt Mei einem ihrer Besucher darüber eine Lektion. Kannibalismus war über lange Zeit ein Phänomen, das durchaus fest in der chinesischen Kultur verankert war. In der chinesischen Medizin wurde die menschliche Plazenta bereits seit dem Altertum als Arznei verordnet. Und zumindest das Trinken von Blut gehört auch zur europäischen Geschichte. "We are inside each other." erklärt Mei und integriert dieses letzte echte Tabu wieder ins Leben der Menschen, beraubt den Verzehr eines Menschen zugleich aller Heiligkeit, die sie in archaischen Kulturen besaß.

Auch andere Kinofilme der jüngeren Zeit entdecken den Kannibalismus neu, und berauben ihn zu gleich aller - vermeintlichen? - Aura. Ob ironisch im Film "Hotel" von Mike Figgis, ob vermischt mit dem Vampirthema in Claire Denis' "Trouble Every Day", ob die vier "Hannibal Lecter"-Filme, ob in den Trash-Gore-Versionen der Körperfresser, die man zumindest im Fantasy-Filmfest der letzten Jahre besichtigen konnte, ob schließlich in Rosa von Praunheims angekündigtem Film - Kannibalismus wird wieder zum Thema. In "Dumplings" nimmt all das die Form eines subtilen Psychothrillers an, der immer wieder ins Surreale, Tagtraumhafte gleitet. Zudem spielt der Film auch mit allgemeineren Fragen der Vernutzung des Menschen, insbesondere seines Körpers - etwa im Bereich des Organhandels.

Szenen einer Ehe

Das glänzende Drehbuch stammt übrigens von Lillian Lee, die mit "Farewell My Concubine" und "Rouge" das Script für zwei der besten chinesischen Filme der letzten 15 Jahre geschrieben hat - es scheint sicher, dass dies ein Mann so unverblümt und doch ohne moralisierenden Unterton, so ironisch und spielerisch, stellenweise satirisch, so kühl nicht hätte schreiben können. Wenn "Dumplings" eine Anklage formuliert, dann ist es keine moralische, die sich etwa gegen Kannibalismus richtete, sondern eine soziale, die auf jene Bedingungen zielt, die Frauen zu illegaler Abtreibung nötigen.

Zur Gesellschaftssatire wird der Film dort, wo er Szenen einer Ehe zeigt, wo Miriam Yeung - tatsächlich erst gerade 30 und in Hongkongs Kino derzeit die Traumbesetzung für romantische Liebesfilme - ganz großartig eine ängstlich-nervöse reiche Gattin in ihren "besten Jahren" portraitiert, die ihr Leben und ihre Ideale damit vergeudet, für einen egozentrischen Mann noch attraktiv zu bleiben. Eine Frau zwischen Sünde und Unschuld. Als sich ihr Mann das Bein bricht, sieht man sie einmal wirklich glücklich. Im Zug fährt sie nach Haus, ihr Gesicht im Fahrtwind. "Now you need me." strahlt sie. Bis in seine Nebenfiguren ist "Dumplings" vor allem ein wunderbares, intimes, bitterböses und stellenweise verstörendes Portrait höchst unterschiedlicher Varianten weiblicher Existenz.