Elektronisches Lesen
Bei "Hypertext Literatur" kann der Leser aktiv und kreativ eingreifen - aber will er das überhaupt?
Hypertext, das heißt nicht nur schnödes HTML-Programmieren. Hypertext, das ist ebenso Literatur, Poesie und Befreiung. So wollen es jedenfalls einige amerikanische Autoren, die sich der Hypertext Fiction verschrieben haben.
Zum absoluten Klassiker des Genres ist in den zwölf Jahren seiner Existenz der Roman "Afternoon" von Michael Joyce geworden. Er beginnt mit der Zeile: "There is no simple way to say this" - es gibt keinen leichten Weg, dies auszudrücken. Jedes Wort in diesem einfachen Satz ist verlinkt und führt zur nächsten Seite, auf der wiederum ganze Sätze verlinkt sind. Auf diese Weise ergeben sich tausend verschiedene Wege, diese Geschichte zu erzählen.
Die Verfechter der Hypertext-Fiction nennen dies "elektronisches Lesen". Für Mark Bernstein, Gründer der Firma Eastgate, die die Software für die Autoren entwickelt, ist klar: "Es gibt schon längst keinen Platz mehr für irgendwelchen Zweifel: die Literatur unserer unmittelbaren Zukunft ist elektronisch. Ob Wissenschaft, Journalismus oder Erzählungen: alles wird auf Bildschirmen geschrieben und gelesen werden".
Die Autoren verstehen sich als Avantgardisten, als Revolutionäre der Schriftstellerei, und greifen doch immer wieder auf Bilder aus der "guten alten" Zeit der Buchkultur zurück. Michael Joyce beschwört den Globalisierungs-Effekt, den der Austausch über das Internet für die kleine Gemeinde der Hypertext-Autoren erzeugt hat. "Hier entsteht eine Weltkultur" schwärmt er, "es ist fast wie die frühere Kaffeehauskultur, aber ausgedehnt auf einen viel größeren Raum". Und Mark Bernstein spricht davon, daß es dem Leser durch diese Art der "beweglichen" Literatur ermöglicht werde, nicht nur aktiv und kreativ in den Prozeß des Geschichtenerzählens einzugreifen, sondern: "die Geschichte kann dem Leser antworten". Dabei werde der Leser "beinahe in die alten Zeiten des Geschichtenerzählens zurückversetzt: Der Erzähler stellt sich darauf ein, was das Publikum hören möchte".
Doch den meisten Enthusiasmus für die Form der Hypertext-Fiction scheinen die Schriftsteller selbst aufzubringen. Denn die Anzahl der interessierten Leser hält sich in Grenzen. Tatsächlich raten viele Literaturkritiker vom Genuß einer Hypertext-Novelle ab. "Einer Geschichte eine gewisse Ordnung zu geben ist schlichtweg ein Teil der Arbeit, die der Autor dem Leser schuldet", sagt Laura Miller, Redakteurin bei dem Online Kultur-Magazin "Salon". "Aber dieses Hin- und Herspringen zwischen den Handlungen finde ich zutiefst uninteressant und nimmt einem jede Freude am Lesen". Hypertext-Fiction, so sagt sie trocken, ist wie die Entdeckung, daß es im Himmel Sex gibt. "Man kann ihn nur nicht fühlen." Das einzige was sich dabei einstelle, sei "das bohrende Gefühl, daß ich etwas verpasse".
Doch die Bewegung läßt sich von dieser schnöden Kritik nicht aufhalten. Mit einem beinahe unbezwingbaren Idealismus setzen die Techno-Schriftsteller ihre Arbeit fort, beseelt vom Gedanken, daß sich eines Tages auch der kommerzielle Erfolg einstellen wird. "In gewisser Weise ist das doch bereits eingetreten", meint Mark Bernstein. "Unsere Firma gibt es jetzt schon seit 17 Jahren. Wir sind klein, aber immer noch da. Das ist heutzutage doch schon ein riesiger Erfolg".
Tatsächlich scheint mit den Hypertext-Autoren eine völle neue Klasse von Schriftstellern zu entstehen: eine Elite von extrem technologiekundigen Schriftstellern, die literarische Kreativität mit dem pragmatischer Aspekt, Prosa in eine gewisse Form zu gießen, verbindet. So absurd die Idee erscheinen mag, daß sich vor 50 Jahren ein Literat damit befaßt haben soll, daß das Farbband seiner Schreibmaschine verblaßt ist, so real ist das Bild des Hypertext-Poeten vor dem Computer. Und die Autoren beschränken sich nicht nur auf das Wort - sie beginnen auch Bilder und Töne mit in ihre Texte einzuflechten.
Die Künstler fangen sogar an, sich mit den Techno-Geeks direkt auseinanderzusetzen, also den Produzenten der Software. So hörte man denn auf einer Konferenz von Schreibern und Programmierern, die im April in Providence/USA stattfand, auch Diskussionen darüber, wie die brandneuen, mit Animationen angereicherten Hypertext-Werke praktisch gelesen werden können. Hypertext-Novellen können eines Tages unlesbar werden, weil die Technologie veraltet ist, und die Autoren wollen bessere Geräte, so daß auch ein breiteres Publikum Zugang dazu bekommt.
Eine Lösung scheinen da die neuen elektronischen Bücher zu sein: tragbare Computer in Buchgestalt, auf die man Texte und Romane in elektronischer Form speichern und auf diese Weise zum Beispiel mit an den Strand nehmen kann. Einer dieser Hersteller ist die kalifornische Firma Nuvomedia, die zum Teil dem deutschen Medienriesen Bertelsmann gehört, und vor wenigen Monaten das sogenannte Rocketbook herausgebracht hat. Die jüngste Version des Rocketbooks, so Nuvomedia-Sprecherin Inga Voller, wird auch in der Lage sein, html-Texte zu laden. Auf diese Weise kann jeder Besitzer Hypertext-Literatur lesen und sogar eigene Texte kreieren.
Die meisten der Hypertext-Fiction-Autoren, etwa 40 bis 50 Schriftsteller, kommen aus den USA. Und obwohl die jüngste große Hypertext-Konferenz Anfang des Jahres in Darmstadt stattfand gibt es in Deutschland praktisch "keine Szene" - zumindest nicht bei der Online-Fiction. Die Deutschen, so Anja Rau, Lehrbeauftragte an der Universität Mainz, beschäftigten sich eher mit dem medienwissenschaftlichen Ansatz der neuen Technologie, denn mit der eigentlichen Kreation von Hypertext-Fiction. Zwar gebe es eine Reihe diverser Online-Literatur-Projekte ebenso wie Offline-Hypertext, aber eben nichts, was mit den US-Autoren vom Rang eines Michael Joyce oder Stuart Moulthrop vergleichbar wäre.
Doch das heißt nicht, daß in die deutsche Szene nicht doch in Bewegung käme. Michael Joyce verweist auf den Hamburger Psychologen und Elektronik-Künstler Stefan Schemat. Die beiden haben gemeinsam mit einer Reihe anderer das Projekt "Osmotic Minds" entwickelt, das ist der "Versuch, die Stadt zum Sprechen zu bringen: Mit Hilfe von Kopfhörern, Kleinstcomputern und Satellitenortung begibt sich das Publikum auf eine Erkundungsreise", heißt es auf der Webseite. Durch Klang und Musik soll so eine "Augmented Reality" entstehen, eine erweiterte Realität.
Ein räumliches Ziel dieser halb real, halb virtuellen Reise ist "Berlin Alexanderplatz 5.0". Die Künstler nahmen Alfred Döblins Romans als Schauplatz, um darauf ihre "Augmented Reality" zu entwickeln. Darin wird neben Franz Bieberkopf & Co auch den einzelnen Teilnehmern ihr Platz in der Geschichte zugewiesen. Für die Macher ein vielversprechender Ansatz: "Ein Literatur-Experiment mit offenem Ausgang..."