"Emilia Pérez": Narcos in Pumps
Schießen, Singen, Sex-Change. Jacques Audiards Drogenmafia-Gender-Thriller bringt Mexikos Machismo unters OP-Messer. Großartige Unterhaltung.
Dieser Film ist vor allem ein Einfall. Es ist wahrscheinlich gar kein besonders guter Einfall, aber er funktioniert hervorragend.
Eine große Extravaganz
Dieser Film ist auch kein mexikanischer Film. Das ist offensichtlich. Es geht dem Regisseur auch nicht wirklich um Mexiko, sondern allenfalls um Mexiko-Klischees und Stereotypen, die im Ausland in Mode sind. Vor allem benutzt der vielseitige Jacques Audiard dieses gebeutelte Land als Kulisse für eine Fantasie.
Diese Narco-Oper ist nicht mexikanisch, und das nicht nur, weil ihr Autor und Regisseur Franzose ist, sondern auch, weil sie fast vollständig auf Pariser Bühnen gedreht wurde, wo die Straßen von Mexiko-Stadt für Szenen mit einer internationalen Besetzung nachgebaut wurden. Selbst das Ausgangsmaterial – ein Kapitel aus Boris Razons 2018 erschienenem Roman "Écoute" – stammt aus Europa.
Dieser Film ist eine große Extravaganz. Stilistisch erinnert "Emilia Pérez" an vieles, aber vor allem ans "Cinéma du Look", das in den frühen 1980er-Jahren von Jean-Jacques Beineix, Luc Besson und Leos Carax begründet wurde.
Kartelle und Anwälte in Mexiko
Es passiert viel, vielleicht etwas zu viel, wie immer bei Audiard: Am Anfang lernen wir Rita (Zoë Saldaña) kennen, eine erfolgreiche, politisch eher links stehende, aber vor allem großbürgerliche – sie trägt Saint-Laurent – und entsprechend opportunistische Anwältin aus Mexico City. Beruflich ist sie frustriert, der Film inszeniert auch das gutgelaunt und fetzig – als Musical.
Eines Tages bekommt Rita ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann: Für sehr viel Geld soll sie sich für Juan "Manitas" Del Monte (Karla Sofía Gascón) tätig werden, den Boss eines berüchtigten Drogenkartells. Manitas will aussteigen, sein vieles Geld mitnehmen, und ein neues Leben anfangen – als Frau, die er schon immer gewesen ist, wie er behauptet: Emilia Pérez.
Die patente Rita besorgt eine neue Identität und (in Israel) einen Arzt, der zu dem Vorhaben – eine illegale, da klandestine Operation, und eine "gefundene" Leiche mit DNA von Manitas, um dessen Tod vorzutäuschen.
Nach einigen Jahren wird Emilia Pérez in ihrer neuen Identität von Sehnsucht nach der Familie, die sie einst verließ, derart gequält, dass sie Rita kontaktiert und beauftragt, sie als Emilia Perez mit seiner Frau Jessi, die sich für eine Witwe hält (großartig robust als realistische Mafiafrau: Selena Gomez), und Kindern zusammenzuführen.
Das ist so aufgeschrieben schon eine hanebüchene Handlung – umso mehr muss man betonen, wie gut sie im Kino funktioniert!
Dies ist ein sehr kurzweiliger, intensiv inszenierter und sehr dichter Thriller.
Rasantes, zugleich geschmeidiges Tempo des Films
Doch neben der Thriller-Handlung steht auch ein Familienmelo, steht ein bisschen das (sehr oberflächliche) Porträt Mexikos und seiner desaströsen gesellschaftlichen Situation, steht ganz unbedingt die transsexuelle Emanzipationsgeschichte sowie die Geschichte einer Freundschaft – zwischen Emilia und Rita. Und nicht zuletzt will der Film auch ein Musical sein. Die vielen Musical-Szenen des Anfangs werden im Verlauf des zweistündigen Films deutlich weniger.
Der Soundtrack wurde vom französischen Komponisten Clément Ducol komponiert, mit Texten seiner Frau, der Sängerin Camille. Audiard hatte von den beiden das Stück "Music Hole" gesehen und ihnen den Auftrag für ein Libretto für eine Oper mit dem Thema Narcokartelle gegeben. Die technische Umsetzung übernahm das gleiche Team, das mit der Band Sparks bei Leos Carax Musical "Anette" zusammengearbeitet hatte.
Ursprünglich wollten die Musiker ein sehr klassisches Musical schreiben, irgendwo zwischen Bernstein und Demy. Doch je weiter sie in das Sujet eintauchten, desto mehr fanden sie mexikanische Einflüssen. Darauf aufbauend arbeitete Audiard auch mit dem belgischen Choreografen Damien Jalet zusammen, dessen Stück "Omphalos" er in Mexiko gesehen hatte. Gerade Jalets Einfluss ist in dem rasanten, zugleich geschmeidigen Tempo des Films erkennbar. "Emilia Pérez" folgt der Tradition des Musicals, findet aber Verbindungen zur Gegenwart.
Das ist Jacques Audiards Extravaganz : "Emilia Pérez" ist eine Pop-Oper mit queerem Narco-Flair. Ein großartig unterhaltender Film, eine brillante Musicalkomödie.
Gut-Böse, Männlich-Weiblich
"Emilia Perez" entfaltet ein permanentes Spiel mit Dualitäten. Insbesondere der von Gut-Böse, aber auch der zwischen Männlich-Weiblich: Im Zentrum steht ein brutaler mörderischer Drogenboss, der sich in die heilige Emilia Perez verwandelt.
Diese Figur bewegt sich zwischen Schuld und Erlösung. Sie sucht immer wieder nach einer Möglichkeit, ihre Verbrechen und die kriminelle Welt ganz hinter sich zu lassen und sich persönlich zu erneuern und doch wird sie immer wieder von ihr eingeholt.
Auf diesem Weg verleugnet sie ihre männliche Seite, oder - wenn einem diese Formulierung lieber ist – findet ihre weibliche Seite. Diese Weiblichkeit wird als binäre Andersartigkeit und Gegensatz zu allem Männlichen dargestellt.
Audiard zeigt immer wieder, dass zwischen Gut und Böse Zwischenstufen existieren, die dazu führen, dass Dinge kaputtgehen. Graue Zwischenstufen zwischen dem Männlichen und Weiblichen gibt es kaum.
Parallele Fantasien
Sexual- geschlechter- und biopolitisch wird man einiges gegen diesen Film einwenden müssen. Denn zu eng verknüpft der Regisseur das Thema der Transsexualität mit Kriminalität: Der Identitätswechsel ist hier in allererster Linie ein Mittel der Zerstörung der Vergangenheit und der Neuschreibung einer Gangsteridentität. Geschlechts-Transition, um juristische Konsequenzen zu vermeiden, ist ein schlichter, fast reaktionärer Blick auf das Thema.
Die parallele Fantasie, dass ein mächtiger, bedrohlicher und krimineller Drogenboss sich in eine Frau verwandeln möchte, weil das immer schon der heimliche, nicht ausgelebte Traum seines Lebens war, und dass diese Transformation nach der geschlechtsverändernden Operation auch mit einer moralischen Wandlung einhergeht, bei der der frühere Mörder nun zur Wohltäterin der Gewaltopfer wird, ist so unwissenschaftlich und so verrückt, wie die Annahme, dass Bösartigkeit im Testosteron liege.
Hinzu kommt, dass Transsexualität hier einmal mehr traditionelle Familienkonstellationen zerstört oder zumindest infrage stellt.
Gegen binäre Logik
Thomas Assheuer hat das in der Zeit gut beschrieben:
Emilia Pérez handelt von weiblicher Selbstermächtigung, doch von spießiger Identitätspolitik handelt der Film nicht. Es geht Audiard nicht um Biologie, sondern um die – von Rückfällen bedrohte – körperliche und moralische Verwandlung eines Verbrechers, der nicht länger mit einem Mörder in einer Haut stecken möchte. Das macht die Transsexualität zur zentralen Metapher des Films; sie steht für ein anderes, für ein gewaltloses Begehren – für eine Revolte nicht gegen Männer, sondern gegen die binäre Logik...
Audiard, der sich in seiner Filmografie oft mit Gewalt und Männlichkeit auseinandergesetzt hat, bricht in diesem Film mit dem Stereotyp des männlichen Drogenhändlers. Er bricht jedoch nicht mit den Klischees des Genres.
Das Endergebnis ist eine Geschichte voller Wendungen und von der Wiederkehr des Verdrängten, deren Ende aber wieder von Leichen übersät ist. Und wie so oft in Hollywood-Melodramen überlebt das Gute nur, weil es bereit ist, sich zu opfern und zum Märtyrer zu werden.
Die Krankheit der Selbstoptimierung
Die untergründige Geschichte, die hier erzählt wird, ist aber eine andere: Der Film handelt von der neoliberalen Krankheit der Selbstoptimierung. Diese wird von "Manitas/Emilia Pérez" repräsentiert. Sie will alles. Zunächst will sie nur einen perfekten Körper. Doch bald will sie auch Moral. Und sie will Buße tun für ihre Sünden.
Daneben bleibt die Ambivalenz des Mexiko-Bildes: Die Reichweite von "Emilia Pérez" ist angesichts der Hollywood-Namen, die mit dem Film verbunden sind, und Netflix als Verleiher unvergleichlich größer ist als die mexikanischer Filme.
Mehr Menschen werden Audiards Mexiko-Vision sehen als die Visionen von Mexikanern selbst. Darin liegt ein größeres Problem. Welche Kunst wird gefördert und welche nicht?
Trotz aller sperrigen ästhetischen und thematischen Elemente geht aber eine verführerische Opulenz von "Emilia Pérez" aus, die sich aus der übertriebenen Fülle von eingehämmerten Ideen und atemberaubenden, schwindelerregenden Bildern speist.
Wie bei synthetischen Geschmacksaromen mag darin kein bisschen echte Frucht enthalten sein. Aber die ausgelösten Gefühle, ob positiv oder negativ, sind dennoch echt.