Energieversorgung: Die neue Front in der Ukraine

Das Bild zeigt eine Rauchwolke über der ukrainischen Stadt Liw nach dem Angriff auf ein Öllager, 2022.

Folgen eines Raketenangriffs auf eine Ölspeicher in Lwiw, 2022. Bild: Sodel Vladyslav, Shutterstock.com

Russland greift die Energieinfrastruktur der Ukraine massiv an. Geplant ist, das Land lahmzulegen. Wie die Ukrainer reagieren. Ein Bericht aus Kiew.

"Es gibt sicher viele Fronten in diesem Krieg", sagt Ihor Syrota. Der 60-Jährige ist Vorstandsvorsitzender von Ukhydroenergro, einem der größten Wasserkraftkonzerne Europas. Zwar sei die Front direkt vor den Russen die wichtigste, wie gerade die neuen Angriffe vor der Millionenstadt Charkiw in der Ostukraine zeigten.

"Aber wir müssen diesen Krieg auch an der Energiefront gewinnen." Es gehöre zum Wesen eines jeden Krieges, dass pathetische Worte verwendet würden. Einerseits sollen sie die eigene Moral stärken. Andererseits verleihen sie der besonderen Situation, in der es tatsächlich um Überleben oder Tod geht, den nötigen Rahmen. Aber sind Syrotas Worte wirklich wahr?

Angriffe auf Kraftwerke schon im ersten Kriegsjahr

"Natürlich haben die Russen schon im ersten Kriegsjahr Kraftwerke angegriffen", sagt Maxim Timtschenko, Vorstandsvorsitzender von DTEK, einem Energiekonzern, der vor dem Krieg gut ein Viertel des ukrainischen Stromverbrauchs deckte.

"Doch was wir seit diesem März erleben, hat eine neue Qualität: Die Russen greifen gezielt unsere gesamte Energieinfrastruktur an." Vor dem Krieg betrieb DTEK fossile Kraftwerke mit einer Leistung von 5.000 Megawatt, "fast 90 Prozent davon sind derzeit zerstört", sagt Maxim Timtschenko.

Zwar gebe es einen Plan, die Anlagen zu reparieren und wieder ans Netz zu bringen. "Aber die Russen hören einfach nicht auf, die Kraftwerke anzugreifen." Zuletzt schlugen am 8. Mai Raketen in DTEK-Kraftwerke ein ein.

Umspannwerke im Visier

"In der gesamten Ukraine gibt es mehr als hundert Umspannwerke", sagt Mariia Tsaturian, Unternehmenssprecherin von Ukrenergo, dem staatlichen Unternehmen, das das Stromnetz der Ukraine betreibt. IUmspannwerke transformieren die elektrische Spannung auf verschiedene Ebenen.

Dies ist notwendig, weil elektrische Energie über weite Entfernungen bei hohen Spannungen effizienter übertragen werden kann, während Verbraucher niedrigere Spannungen benötigen. Zum Beispiel wird elektrische Energie in Hochspannungsnetzen transportiert und dann vor dem Endverbrauch in Niederspannungsnetze umgewandelt.

"Aber es gibt kein einziges Umspannwerk, das nicht mindestens einmal von den Russen zerstört wurde." Auch Mariia Tsaturian stellt fest, dass die Russen seit März ihre Angriffe auf die Energieinfrastruktur intensiviert haben, Ziel seien die Transformatoren: "Ohne Transformator kann man kein Radio betreiben, kein Handy aufladen, keine Lampe zum Leuchten bringen, geschweige denn etwas produzieren. Die Russen versuchen, unser Leben abzuschalten."

Angriff auf Wasserkraftwerk Dnipro

Konzernchef Ihor Syrota zeigt Bilder vom Wasserkraftwerk Dnipro, vor dem Angriff Ende März mit fast 1.580 Megawatt Leistung das größte seiner Art in Europa. "Fünf Raketen trafen das Maschinenhaus, eine Rakete den Transformator, eine weitere zerstörte Infrastruktur wie die Zufahrtsbrücke oder den Überlauf."

Tatsächlich erinnern die Fotos an das zerstörte Atomkraftwerk Tschernobyl, das nach der Reaktorexplosion 1986 einem Trümmerfeld glich. "Es wird mindestens zweieinhalb bis drei Jahre dauern, bis das Kraftwerk wieder in dem Zustand ist, wie es vor dem Raketenangriff war", sagt Ihor Syrota. Zunächst müssen die Trümmer beseitigt werden, um überhaupt an die Turbinen heranzukommen.

"Russen wollen unsere Wirtschaft schwächen"

"Es geht nicht nur darum, die Bevölkerung zu treffen, die Russen wollen unsere Wirtschaft schwächen", sagt Ihor Syrota. Zwar arbeitet Ukrhydroenergo fieberhaft daran, die zerstörten Wasserkraftkapazitäten wieder aufzubauen. Partner dabei ist der deutsch-österreichische Konzern Andritz.

"Dieser Wiederaufbau wird aber nur gelingen, wenn wir unseren Himmel besser schützen können", so der Konzernchef. Wasserkraftwerke ließen sich leider nicht verstecken, "sie liegen am Fluss hinter einem großen Damm. Deshalb brauchen wir mehr Luftverteidigung, mehr Unterstützung aus dem Westen.

Experte will Kapazitäten erhöhen

Das sieht auch Maxim Timtschenko, Vorstandskollege bei DTEK, so: "Zerstören, wieder aufbauen, wieder angreifen und zerstören – diesen Kreislauf müssen wir durchbrechen!" Bis zum kommenden Winter sollen 3.200 Megawatt der zerstörten Kraftwerksturbinen wieder ans Netz gehen, "wir haben die Ressourcen dazu", sagt der DTEK-Chef.

Mitte Mai war es gelungen, die produzierende Kraftwerksleistung von 450 auf 600 Megawatt zu erhöhen. Doch dieser Wiederaufbau ergibt nur Sinn, wenn den Russen nicht gleich wieder eine Zerstörung folgt.

"Transformatoren kann man nicht mal eben neu kaufen, die müssen gezielt angefertigt werden", sagt Mariia Tsaturian, Unternehmenssprecherin von Ukrenergo – und das dauere bis zu zehn Monate. Deshalb versucht man es bei Ukrenergo jetzt mit gigantischen Stahlträgern, massiven Betonwänden und Hochbunkern. Zehn Monate Bauzeit und einige Millionen Euro sind nötig, bis ein Bunker fertig ist – um dann einen zehn Millionen Euro teuren Transformator zu schützen.

Transformatoren in Bunkern

"Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis wir die Russen besiegt haben. Aber wir wissen, dass sie unsere Energieinfrastruktur immer wieder angreifen werden. Deshalb müssen wir vorbereitet sein! Denn wenn wenigstens einer der Transformatoren in einem Umspannwerk den Angriff überlebt, kann nach der Reparatur der Netze weiter Strom transportiert werden. Aber nur dann.

Bei DTEK setzt man jetzt verstärkt auf erneuerbare Energien. "In Kooperation mit dem dänischen Vestas-Konzern entsteht derzeit in Tyligulska ein Windpark mit knapp 400 Megawatt Leistung", sagt Konzernchef Timchenko. Zwar könnten Raketen auch Windräder zerstören. Doch die Strategie der Investition liegt auf der Hand: Fossile Kraftwerke sind kleine Einheiten mit großer Leistung, in Windparks arbeiten kleine Einheiten auf großer Fläche. Timtschenko: "Das ist viel aufwendiger zu zerstören."

Strom aus der EU

Und dann ist da noch der Strom aus der EU. Um Schwankungen auszugleichen, war die Ukraine bis zum Krieg an das russische Stromnetz angeschlossen. Mit dem Einmarsch der Russen wurden die Leitungen nach Osten gekappt, dafür die in die EU geöffnet.

"Seit dem 16. März 2022 sind wir, was das Stromnetz betrifft, bereits Teil der EU", sagt Mariia Tsaturian, Unternehmenssprecherin von Ukrenergo. Noch läuft der Testbetrieb, aber die Perspektive ist klar: "Wenn wir genug Strom produzieren, können wir 100 Megawatt pro Stunde in die EU exportieren."

In diesem Sommer ist aber zunächst die andere Richtung der Zusammenarbeit wichtig: Stromimporte aus der EU helfen der Ukraine, sich gegen den Aggressor Russland zu verteidigen. Um den aktuellen Strombedarf decken zu können, hat die DTEK-Tochter D.Trading ihren Einkauf in europäischen Ländern deutlich erhöht: 46 Prozent des Stroms, mit dem der Konzern seine Kunden beliefert, sind derzeit "Made in EU".

Verschärfung der Lage im Sommer

Im Sommer wird sich die Situation dramatisch verschärfen. Denn derzeit decken die ukrainischen Atomkraftwerke gut 50 Prozent der Stromproduktion des Landes, erneuerbare Energien, vor allem Wind- und Wasserkraft, steuern 35 Prozent bei. "Doch für viele Atomreaktoren steht in diesem Sommer die Periodische Sicherheitsüberprüfung an", sagt Ukhydroenergro-Chef Ihor Syrota.

Das bedeutet: Notwendige Wartungsarbeiten, die Atomkraftwerke werden abgeschaltet. "Im Sommer gibt es weniger Wasser und noch mehr zerstörte Kapazitäten, wenn wir uns nicht schützen können." Ukrhydroenergo verhandelt derzeit mit großen Stromverbrauchern, ihre Produktion in die Nacht zu verlegen.

Man könnte also meinen, die angegriffene Ukraine befinde sich auch an der Energiefront im Krieg. Und tatsächlich haben Unternehmen wie DTEK tote Mitarbeiter zu beklagen: Ein 300-köpfiges Spezialistenteam, ausgerüstet mit Helmen und kugelsicheren Westen, versucht täglich, bis zu zehn Kilometer hinter der Frontlinie die zerschossenen Leitungen zu flicken, um wenigstens eine Notversorgung zu gewährleisten. 16 Mitarbeiter allein von DTEK haben dies nach Angaben des Unternehmens mit dem Leben bezahlt.