Energiewende – eine Systemfrage
In den kommenden acht Jahren soll in Deutschland so viel Wind- und Sonnenkraft ans Netz wie in den letzten 20 Jahren. Das wird nur gelingen, wenn die neue Regierung grundsätzlich am System etwas ändert. Eine Analyse
Im vergangenen Jahr wurden 463 Windräder in Deutschland neu ans Netz geschlossen. Wie aus dem Marktstammdatenregister hervor geht, sind das 25 Windkraftwerke mehr als im Jahr 2020. Wenn es allerdings nach den Plänen der Ampelkoalition geht, ist das viel zu wenig: Die neue Regierung plant, den deutschen Stromverbrauch im Jahr 2030 zu mindestens 80 Prozent aus erneuerbaren Energien zu decken. Dafür müssten laut Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) jährlich im Durchschnitt 1.000 bis 1.500 neue Windräder ans Netz gehen.
"Das wird eine große Kraftanstrengung", erklärt der neue Klima- und Wirtschaftsminister, notwendig sei "eine Verdrei- bis Vervierfachung der Ausbaugeschwindigkeit". 2021 war ein windarmes Jahr, die erneuerbaren Stromproduktion ging deshalb leicht zurück, auf knapp 41 Prozent der Bruttostromerzeugung, drei Prozent weniger als 2020.
"Machbar, aber auch sehr ambitioniert"
Weil der Stromverbrauch durch zunehmende Elektromobilität genauso wie durch die Wasserstofftechnik oder klimafreundliche Heizungen steigen wird, stellt sich die Frage: Eine Verdopplung der aktuellen Kapazitäten in nur acht Jahren - wie soll das gelingen? Beispielsweise gab es 2021 einen Zubau von 5,5 Gigawatt Photovoltaik.
"Jetzt müssen es 15 Gigawatt Solar-Zubau pro Jahr werden", sagt Kerstin Andreae, Chefin des Energie-Lobbyverbandes BDEW. Andreae, früher selbst Bündnisgrüne mit Spitzenfunktion, hält das Ziel der Ampel für "machbar, aber auch sehr ambitioniert. Bildlich gesprochen: Es reicht nicht mehr, im Regional-Express zu sitzen und dort das Tempo zu erhöhen. Wir müssen in den ICE wechseln, um die nötige Geschwindigkeit zu erreichen", erklärte Andreae.
Dabei sitzt der Bremser selbst mit am Kabinettstisch. "Mut zu erneuerbaren Energien" ist der jüngste Fraktionsbeschluss der FDP überschrieben, darin heißt es: "Wir wollen das Energiesystem stärker durch marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen steuern." Das liest sich wie eine Drohung. Früher nämlich, also bevor die FDP 2011 mit Philipp Rösler den Wirtschaftsminister stellte, wurden Biomasse-, Wind- oder Solarkraftwerke durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ausgebaut.
Wer ein unternehmerisches Risiko eingehen wollte, konnte dies Dank des "Einspeisevorrangs" für Erneuerbare ins Stromnetz tun. Denn erst dieser "Vorrang" stellt sicher, dass der Anlagenbetreiber sein Produkt – Strom – auch tatsächlich 20 Jahre lang verkaufen, also ins Stromnetz einspeisen kann. Und dank einer festgesetzten Einspeisevergütung lässt sich errechnen, wann ein Kredit refinanziert, eine Anlage profitabel arbeiten wird: Zuletzt lag diese EEG-Umlage bei knapp sieben Cent pro Kilowattstunde für kleine Solaranlagen. Zum Vergleich: Strom aus der Steckdose kostet vielerorts 30 Cent.
Der Bremsklotz "Solardeckel" und Planwirtschaft im Namen des Marktes
Aber diese Praxis war der FDP zu wenig "Marktwirtschaft". Sie erfand erstens den "Solardeckel" – künftig sollte der Staat bestimmen, dass nie mehr als 2.500 Megawatt solare Leistung pro Jahr aufgestellt werden. Zweitens führte der damalige Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler "die Ausschreibung" und damit "die Marktprämie" ein: Wer beispielsweise einen Windpark bauen will, der muss vorher kalkulieren, zu welchem Preis dies möglich ist, und dafür "bieten". Der günstigste Anbieter erhält dann den Zuschlag und darf bauen.
Was jetzt folgte, hätte Gerhard Schürer mit seiner Staatlichen Planungskommission in der DDR nicht besser hinbekommen: Im Auftrag der Regierung legt die Bundesnetzagentur einen Plan über den Ausbau der Erneuerbaren vor und schreibt Kapazitäten für Wind- oder größere Solarparks aus, die ans Netz gebracht werden sollen - im Februar 2020 beispielsweise Windräder mit 900 Megawatt Leistung, im März mit 300 Megawatt Windleistung, danach im Juni mit 825.
Allerdings gibt es praktisch nie genügend Angebote, im Februar kamen lediglich 527 Megawatt zusammen, im März 193, im Juni 467 Megawatt.
Bürger-Energiegenossenschaften als wichtigste Akteure verdrängt
Die Bundesnetzagentur muss wie weiland einst die Staatliche Plankommission der DDR eingestehen, dass das Plansoll nicht zu erreichen ist. Unter anderem, weil die FDP mit dieser Ausschreibungspraxis die wichtigsten Akteure der Energiewende aus dem Markt gedrängt hat: Bürger-Energiegenossenschaften, die bis zur Einführung der neuen Planwirtschaft gut 1,2 Milliarden Euro in die Erneuerbaren investiert hatten.
Einen Windpark zu planen, kann schnell einen sechsstelligen Betrag verschlingen, den eine Bürger-Energiegenossenschaft nur aufbringen kann, wenn der Park dann auch wirklich gebaut wird und sich so refinanziert. Bei den Ausschreibungsrunden ist aber im Voraus nicht klar, ob die Genossenschaft den Zuschlag erhält. Falls nicht, bleibt sie auf den Planungskosten sitzen, weshalb sich viele kleinere Genossenschaften an den Ausschreibungen nicht beteiligen können.
Die "Mehr-Marktwirtschaft-Partei" hat ein System geschaffen, in dem es weniger Wettbewerb gibt - weshalb weniger Anbieter den Markt bedienen. Früher waren die Bürger Treiber der Energiewende, vor zehn Jahren entfiel mehr als die Hälfte der installierten Leistung auf Privatpersonen und Landwirte. Heute gibt viel zu wenige Bauherren für das Erreichen des Regierungsziels.
"Für den Ausbau der Windenergie brauchen wir die Bereitstellung von Flächen, das Ende unsinniger Abstandsregeln, Digitalisierung von Genehmigungsverfahren, bessere Ausstattung der Behörden", erklärt Sven Giegold, neuer bündnisgrüner Staatssekretär im Wirtschafts- und Klimaministerium. Das mag helfen, denn zuletzt waren die bürokratischen Hürden so hoch, das selbst hart gesottene Projektierer stöhnten.
Allerdings ändert Giegold Prioritätenliste nichts an den Grundproblemen: Einerseits lässt sich das 80-Prozent-Ziel nur erreichen, wenn es vor Ort mehr Akzeptanz für Solarfelder und Windparks gibt. Andererseits sind wieder wesentlich mehr Investoren in die Erneuerbaren notwendig.
Das bedeutet, dass es für "Otto-Normalbürger" wieder möglich werden muss, sich an der Energiewende zu beteiligen. So wie beim ersten großen Schub in den 2000er-Jahren muss Robert Habeck und sein Team einen Weg finden, privates Kapital zu mobilisieren. Mag sein, dass sich auch Stromkonzerne wie RWE oder Eon am 80-Prozent-Ziel beteiligen. Aber längst nicht im nötigen Umfang: Denn jedes neu aufgestellte Windrad tragt dazu bei, deren eigene Kohlekraftwerke überflüssig zu machen.
Wir brauchen deshalb frische Investitionen jenseits der Energiewirtschaft. Vielen Energiegenossenschaften kann man bereits ab 200 Euro beitreten. Mehr als zwei Millionen Deutsche haben bislang in die Energiewende investiert. Ganz nebenbei steigert das die Akzeptanz! Wo Anwohner beteiligt sind, sucht man oft vergebens eine Anwohnerinitiative gegen den neuen Windpark.
Mit Blick auf die Reduktion von klimaschädlichen Treibhausgasen erklärt Vizekanzler Robert Habeck: "Wir fangen mit einem drastischen Rückstand an." Deutschland werde seine Klimaschutzziele auch in den kommenden zwei Jahren verfehlen. Aber der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnisgrünen und FDP biete "viele Möglichkeiten", um künftig nachzubessern.
Allerdings sieht der Vertrag auch vor, die EEG-Umlage, über die der Ausbau der Erneuerbaren bislang refinanziert und über den Strompreis erhoben wird, 2023 abzuschaffen. Stattdessen sollen Biomasse, Sonne, Wind und Co. aus den Einnahmen des Emissionshandels finanziert werden. Ob das ausreicht, um auch drei bis viermal so viele Investitionen zu mobilisieren?
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