"Er hat!"
Auch Schily unterschreibt; Bundesregierung für liberale Kryptopolitik.
Die letzten Wochen waren für die deutsche Netzgemeinde eine aufregende Zeit. Bereits vor drei Wochen hatte Bundeswirtschaftsminister Müller seine Unterschrift unter die Kabinettsvorlage zur deutschen Kryptopolitik gesetzt. Allein die Unterschrift von Otto Schily ließ auf sich warten. Es gäbe noch "Klärungsbedarf" hieß es mysteriös aus dem Innenministerium - ein Tag nach dem immer noch nicht geklärten Fenstersturz von Ulrich Sandl - dem Referatsleiter im Bundeswirtschaftsministerium, der die Kabinettsvorlage erstellt hatte. Angeblich sei Geheimdienstkoordinator Uhlau nicht zureichend in die Verhandlungen eingebunden worden. Auch habe es Protestfaxe seitens der Strafverfolger gegen die Vorlage gegeben. Anlaß genug zur Verwunderung, die bei manchen Beobachtern gar in wüsten Verschwörungstheorien mündete. Immerhin hatte es monatelang Diskussionen und Treffen diverser Arbeitsgruppen gegeben - und nicht zuletzt einen drastischen Regierungswechsel. Doch auch der neue Bundesinnenminister galt bis zuletzt als unsicherer Kandidat. "Hat er nun, oder hat er nicht?" war die letzte Schlüsselfrage in der deutschen Kryptodiskussion. Schließlich vorgestern die erlösende Nachricht: "Er hat!"
Heute ist es offiziell: Das Bundeskabinett hat klare Stellung in Sachen Kryptopolitik bezogen. Die zwischen Bundeswirtschaftsministerium und Bundesinnenministerium ausgehandelte Vereinbarung legt ihr Hauptgewicht auf die wirtschaftlichen Interessen. Kernpunkt und Motiv der deutschen Politik liegen im "verbesserten Schutz deutscher Nutzer in den weltweiten Informationsnetzen durch Einsatz sicherer kryptographischer Verfahren". In der Abwägung zwischen den Interessen der Strafverfolger, Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst, die sich durch den Einsatz von Verschlüsselung in ihrer Aufklärungsarbeit behindert glauben sowie der Gefährdung durch "illegales Ausspähen, Manipulieren oder Zerstören von Daten" - mit Folgeschäden in Milliardenhöhe - entschied sich das Kabinett für verstärkten Nutzerschutz gegen ausländische Spione, Hacker und andere Eindringlinge.
In fünf "Eckpunkten der deutschen Kryptopolitik" werden die Entwicklungskoordinaten für die nächsten zwei Jahre festgesteckt: Auch künftig dürfen in Deutschland Verschlüsselungsverfahren und -produkte ohne Restriktion entwickelt, hergestellt, vermarktet und genutzt werden. Deutsche Kryptohersteller sollen in ihrer Leistungsfähigkeit sowie in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden. Obwohl das Wassenaar-Exportregime gewisse Beschränkungen auferlegt, wurde innerhalb der Europäischen Union mit einer ersten Revision der EG-Dual-Use-Verordnung die innergemeinschaftlichen Exportkontrolle für kryptographische Massengüter abgeschafft. Das Bundesausfuhramt überprüft derzeit, ob die bestehenden Exportkontrollverfahren vereinfacht werden können.
Wichtiger Schritt in die Informationsgesellschaft
Thomas Rössler, Sprecher des "Fördervereins Informationstechnik und Gesellschaft" (FITUG) begrüßte die Entscheidung. Das Kabinett habe damit "einen wichtigen Schritt in die Informationsgesellschaft getan". Er hofft, daß die Bundesregierung sich nun "auch im internationalen Rahmen - zum Beispiel bei den Wassenaar-Verhandlungen - für eine freie weltweite Exportierbarkeit von kryptographischen Produkten zumindest für den Massenmarkt einsetzt. Die Bundesregierung will künftig auch die "bisher nur geringe Sensibilisierung der Nutzer" fördern. Ein erster Schritt wurde hierzu durch die Initiative für "Sicherheit im Internet" bereits gemacht.
Die Kryptodebatte, die in den vergangenen Jahren bisweilen ideologische Züge annahm, ist jedoch mit den Unterschriften unter die Kabinettsvorlage noch nicht beendet. Das Bundesinnenministerium räumte sich einen zeitlichen Vorbehalt ein: Nach zwei Jahren soll ein Bericht vorgelegt werden, in dem evaluiert werden soll, in welchem Umfang der Mißbrauch von Kryptoverfahren für illegale Zwecke stattfindet. Gleichzeitig soll jedoch auch die technische Ausstattung der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden verbessert werden. Thomas Rössler sieht darin ein Umdenken:
"Die Entscheidung der Bundesregierung zu einer Evaluierung des tatsächlichen Einflusses von Verfahren zur Vertraulichkeitssicherung auf die Strafverfolgung läßt erkennen, daß die Bundesregierung Abstand genommen hat von der teilweise lähmenden Kryptodebatte der vergangenen Jahre."
Deutschland geht mit seiner Kryptopolitik keinen nationalen Sonderweg. Erst vor zwei Wochen beschloß die G8-Arbeitsgruppe "High-Tech Kriminalität" in Paris, in jedem Staat eine Evaluierungsstudie durchzuführen. Dabei sollen unter anderem folgende Fragen beantwortet werden: In wieviel Fällen stoßen Strafverfolger bei Durchsuchungen und Beschlagnahmungen auf verschlüsseltes Material? Inwieweit wird die Aufklärung von Straftaten durch den Einsatz von Verschlüsselungsverfahren verhindert? In einem Jahr sollen bereits Ergebnisse vorliegen. Wenn dann erneut die Debatte um eine Regulierung von Verschlüsselungsverfahren beginnt, wird sie sich auf handfeste Erfahrungen und nicht mehr nur auf Befürchtungen berufen können.
Die Eckpunkte im Einzelnen:
1. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die freie Verfügbarkeit von Verschlüsselungsprodukten in Deutschland einzuschränken. Sie sieht in der Anwendung sicherer Verschlüsselung eine entscheidende Voraussetzung für den Datenschutz der Bürger, für die Entwicklung des elektronischen Geschäftsverkehrs sowie für den Schutz von Unternehmensgeheimnissen. Die Bundesregierung wird deshalb die Verbreitung sicherer Verschlüsselung in Deutschland aktiv unterstützten. Dazu zählt insbesondere die Förderung des Sicherheitsbewußtseins bei den Bürgern, der Wirtschaft und der Verwaltung.
2. Die Bundesregierung strebt an, das Vertrauen der Nutzer in die Sicherheit der Verschlüsselung zu stärken. Sie wird deshalb Maßnahmen ergreifen, um einen Vertrauensrahmen für sichere Verschlüsselung zu schaffen, insbesondere indem sie die Überprüfbarkeit von Verschlüsselungsprodukten auf ihre Sicherheitsfunktionen verbessert und die Nutzung geprüfter Produkte empfiehlt.
3. Die Bundesregierung hält aus Gründen der Sicherheit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft die Fähigkeit deutscher Hersteller zur Entwicklung und Herstellung von sicheren und leistungsfähigen Verschlüsselungsprodukten für unverzichtbar. Sie wird Maßnahmen ergreifen, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit dieses Sektors zu stärken.
4. Durch die Verbreitung starker Verschlüsselungsverfahren dürfen die gesetzlichen Befugnisse der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden zur Telekommunikationsüberwachung nicht ausgehöhlt werden. Die zuständigen Bundesministerien werden deshalb die Entwicklung weiterhin aufmerksam beobachten und nach Ablauf von zwei Jahren hierzu berichten. Unabhängig hiervon setzt sich die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Verbesserung der technischen Kompetenzen der Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden ein.
5. Die Bundesregierung legt großen Wert auf die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Verschlüsselungspolitik. Sie tritt ein für am Markt entwickelte offene Standards und interoperable Systeme und wird sich für die Stärkung der multilateralen und bilateralen Zusammenarbeit einsetzen.