Erdbebenkatastrophe mit mehr als 2000 Toten: Schwere Vorwürfe gegen Regierung in Ankara

Während immer höhere Zahlen von Toten und Verletzten genannt werden, ist die Zahl der Obdachlosen noch völlig unklar. Foto: ANF

Vor allem kurdische Gebiete in der Türkei und Syrien betroffen. Das Vertrauen in den türkischen Staat ist hier gering: Statt Vorkehrungen zu treffen, habe er Gelder für den Krieg veruntreut, heißt es.

Nach der Erdbebenkatastrophe im Südosten der Türkei und Nordsyrien sind bis zum frühen Nachmittag mindestens 1.400 Tote und mehr als 7.000 Verletzte gezählt worden. Dann mussten die Zahlen ständig nach oben korrigiert werden. Von mehr als 2.000 Todesopfern war gegen 16 Uhr die Rede.

Am frühen Montagmorgen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das überwiegend von Kurdinnen und Kurden bewohnte Gebiet erschüttert. "Ein langes, heftiges Beben", so die deutsche Oppositionspolitikerin Janine Wissler, die sich gerade in türkisch-kurdischen Metropole Diyarbakir aufhält. "Gebäude stürzten ein, auf den Straßen herrschte Angst", schrieb die Vorsitzende der Partei Die Linke am Morgen auf Twitter. Ihre Gedanken seien bei den Angehörigen der Toten und den tausenden Verletzten.

Um die Mittagszeit folgte ein weiteres, fast ebenso schweres Beben. Bis zum späten Vormittag waren nach Regierungsangaben in der Türkei mindestens 912 Todesopfer und mehr als 5.300 Verletzte gezählt worden, in Syrien stieg die Zahl der Toten auf mehr als 460, hinzu kamen mehr als 1.600 Verletzte. In den Folgestunden erhöhten sich die Zahlen.

Nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde Afad lag das Epizentrum des ersten schweren Bebens lag in der Provinz Kahramanmaras nahe der syrischen Grenze. Nachbeben, Regen und Schnee erschwerten bei frostigen Temperaturen die Rettungseinsätze.

Unter den eingestürzten Gebäuden in der Türkei war neben Wohnhäusern auch ein Krankenhaus in der Stadt Iskenderun. In Gaziantep wurde nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu auch die zum Unesco-Weltkulturerbe zählende Burg stark beschädigt.

Auch Syrien sind laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana in zahlreichen Städten Gebäude eingestürzt. Rettungsteams versuchten in der Nacht und im Morgengrauen, Überlebende aus den Trümmern zu bergen. Der Leiter des Nationalen Erdbebenzentrums sprach laut Sana, vom stärksten Beben in Syrien seit 1995. Präsident Baschar al-Assad rief sein Kabinett zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen.

"Ohne auf den Staat zu warten"

Während der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine besten Wünsche an die Betroffenen twitterte und versicherte, dass "alle relevanten Einheiten" in Alarmbereitschaft seien, rief der kurdische Dachverband KCK an diesem Montag zu selbstorganisierter Hilfe und Solidarität mit den Obdachlosen auf.

Ohne auf den Staat zu warten, sollte unser Volk alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen und versuchen, seine Wunden selbst zu heilen. Zusätzlich zu den Rettungsmaßnahmen sollten die Menschen vor dem Hintergrund der jahreszeitlichen Bedingungen ihre Häuser für diejenigen öffnen, deren Häuser zerstört wurden, und mit ihnen teilen.


Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)

Zugleich erhob der Dachverband schwere Vorwürfe gegen den türkischen Staat und die AKP-MHP-Regierung: Für den Erdbebenschutz vorgesehene Mittel seien für den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung veruntreut worden, heißt es in der KCK-Erklärung – dadurch seien auch die Schäden durch die Naturkatastrophe größer, als sie sein müssten.

Die AKP/MHP-Regierung trifft keinerlei Vorkehrungen gegen Erdbeben und gibt alle Ressourcen und Mittel des Landes für den Krieg gegen das kurdische Volk aus. Es wäre möglich gewesen, die durch Erdbeben verursachten Schäden einzuschränken, wenn die notwendigen Maßnahmen ergriffen worden wären, aber die AKP, die seit mehr als 20 Jahren an der Macht ist, hat bisher keine Maßnahmen getroffen und damit bei jedem Erdbeben größte Zerstörungen mitzuverantworten.


Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)

Allenfalls ergreife die Regierung "nach Erdbeben einige kosmetische Initiativen", um den Anschein zu wahren, heißt es.

Offiziell bekämpft die türkische Armee im Südosten des Landes nur die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowie die KCK als deren neue Organisationsform und der PKK nahestehende Organisationen. Allerdings wird auch der in vielen Kommunen der Region mehrheitsfähigen Demokratischen Partei der Völker (HDP) und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die jetzt praktische Hilfe leisten wollen, oft PKK-Nähe unterstellt.

Aufrufe zu Blut- und Sachspenden

Hilfsorganisationen und Gemeinden riefen an diesem Montag sowohl zu Blutspenden als auch zu Sachspenden auf – vor allem Decken, Campingartikel, Winterkleidung, Essenspakete und Babynahrung würden benötigt. Auch die in den kurdischen Landesteilen beliebte Oppositionspartei HDP verbreitete einen entsprechenden Aufruf.

Unterdessen haben EU-Staaten Hilfe bei den Rettungsarbeiten zugesagt. Das Zentrum für Katastrophenhilfe der EU koordiniere die Entsendung von europäischen Rettungskräften in die Türkei, berichtet die Deutsche Presseagentur. Erste Teams aus den Niederlanden und Rumänien seien bereits unterwegs, sagte der zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic. In einer Stellungnahme sprachen Lenarcic und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell von einem der stärksten Beben seit mehr als 100 Jahren in der Region.

Auch Griechenland erklärte sich trotz schwerer Spannungen mit der Türkei bereit, Rettungsmannschaften in das Erdbebengebiet zu schicken. Dies taten auch Finnland und Schweden trotz der türkischen Blockadehaltung gegen ihre Nato-Beitrittsanträge.

In Deutschland rufen unter anderem Medico International, die Alevtische Gemeinde und der Kurdische Rote Halbmond zu Geldspenden für die Erdbebenopfer auf.