Erdrutsch- oder Pyrrhussieg?
Hugo Chávez' Regierungspartei MVR konnte bei den Parlamentswahlen am Sonntag die absolute Mehrheit ausbauen
Das Lager von Hugo Chávez hat bei den Parlamentswahlen in Venezuela am Sonntag einen eindeutigen Sieg errungen. Zwar verfügte die regierende Bewegung Fünfte Republik (MVR) schon seit Ende Juli 2000 über eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung. Nun konnte sie ihren Vorsprung jedoch von 89 auf 114 Sitze ausbauen. Zusammen mit den übrigen Parteien des Bündnisses „Block für den Wandel“ – in dem neben der MVR die Parteien Vaterland für Alle (PPT), Podemos (Wir können), die Venezolanische Volkseinheit (UPV) und die Kommunistische Partei (PCV) vertreten sind – wird sich Chávez nach dem vorläufigen Endergebnis in den kommenden fünf Jahren auf 162 der 167 Abgeordneten stützen können.
Auch wenn Vertreter der Regierung das Ergebnis zunächst als Bestätigung der Sozialpolitik der vergangenen Jahre interpretierten, bleibt der politische Wert strittig. Die absolute Mehrheit konnte derart massiv schließlich nur ausgebaut werden, weil mehrere oppositionelle Gruppen die Wahlen boykottiert hatten. Fünf Tage vor dem Urnengang hatten sich die einstigen Regierungsparteien Acción Democrática (Demokratische Aktion, AD) und Copei (christdemokratisch) von den Wahlen zurückgezogen. Der Entscheidung schlossen sich die Gruppen Proyecto Venezuela, Renacer und Primero Justicia an. Ein Ergebnis war ein weiterer Rückgang der ohnehin geringen Wahlbeteiligung. Nachdem bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2000 fast 44 Prozent der Bevölkerung nicht abgestimmt hatte, blieben am Sonntag 75 Prozent den Wahlurnen fern.
Streit um Boykott
Die Oppositionsgruppen begründeten ihren Schritt vor allem mit dem geplanten Einsatz digitaler Wahlmaschinen. Weil die Wähler beim Registrieren einen Fingerabdruck abgeben sollten, sei das Wahlgeheimnis gefährdet. Zum anderen beklagten besonders AD und Copei die Zusammensetzung des Nationalen Wahlrates, weil vier der fünf Mitglieder dem Regierungslager zugerechnet werden.
Vertreter der Regierung konterten, diese Kritik sei nur vorgeschoben. Tatsächlich ginge es den Chávez-Gegnern darum, den demokratischen Prozess zu unterlaufen, um das Land zu destabilisieren. Parlamentspräsident Nicolas Maduro (MVR) beschuldigte die US-Regierung, hinter dem Boykott zu stehen. Tatsächlich hatte der Sprecher des Weißen Hauses wenige Tage vor der Wahl in der üblichen Rhetorik Stellung bezogen.
Wie jedes andere Volk haben auch die Venezolaner das Recht auf freie und faire Wahlen. Die Regierung der Vereinigten Staaten ist besorgt, dass dieses Recht (in Venezuela, d. Red.) zunehmend gefährdet wird.
Sean McCormack, Sprecher des US-Außenministeriums
Der venezolanische Vizepräsident José Vicente Rangel hatte eine Verschiebung des Wahltermins trotz des Boykotts kategorisch ausgeschlossen. Dies war von Oppositionsgruppen gefordert worden. Das Volk sei aufgefordert, Wahlen und Demokratie zu verteidigen, erklärte Rangel noch Ende vergangener Woche. Den Regierungsgegnern warf er vor, einen Putsch wie im April 2002 vorzubereiten. Auch der Vorsitzende des Wahlrates, Jorge Rodríguez, widersprach der Kritik der Opposition. Sein Gremium garantiere einen transparenten Wahlprozess.
Vermittlungen der OAS gescheitert
Bis zuletzt hatte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) versucht, zwischen dem Regierungslager und der Opposition zu vermitteln. Eine Woche vor den Parlamentswahlen organisierte die Beobachterdelegation ein Treffen zwischen den fünf Oppositionsgruppen des Bündnisses Unidad (Einheit) und dem Wahlrat. Dabei erklärte sich der Wahlrat bereit, die digitalen Maschinen weitgehend zu deaktivieren. Die Oppositionsgruppen sicherten ihrerseits zu, an den Wahlen teilzunehmen. Die Garantien des Wahlrates seien nunmehr ausreichend, erklärten die Oppositionsvertreter.
Die Mission (der OAS, d. Red.) sieht mit Befriedigung, dass die Parteien der Unidad und der Wahlrat gute Fortschritte dabei gemacht haben, Vertrauen in den Wahlprozess zu schaffen.
Erklärung der OAS von 28. November
Zwei Tage später erklärten AD und Copei überraschend ihren Boykott, ohne dies weiter zu begründen. Die Stimmung im Land spitzte sich massiv zu, Regierungsvertreter warnten vor einem neuen Putschversuch. Auch Wahlbeobachter kommentierten das Verhalten der Chávez-Gegner später kritisch. Joan Rigol, Abgeordneter der katalanischen Regionalpartei CiU, etwa erklärte, seine Delegation habe mehrfach um Gespräche mit Gruppen gebeten, die sich dem Boykott angeschlossen hatten. Bis auf eine Ausnahme seien diese Gesuche ohne Antwort geblieben.
Spekulation über Verhalten der Opposition
Während sich die OAS und Vertreter der EU in ihrem Urteil bislang zurückhalten, übt die Regierung scharfe Kritik an der Opposition. Für den Rückzug von den Parlamentswahlen habe es letztlich keinen Grund mehr gegeben, heißt es in Caracas. Tatsächlich ist bislang ungeklärt, weshalb sich AD und Copei als Initiatoren des Boykotts für den Schritt entschieden. Ein Grund mag in den schlechten Umfragewerten liegen. Der AD etwa wurden gerade einmal vier Prozent der Stimmen vorhergesagt. Dass die schlechten Aussichten der Opposition zu deren Rückzug beitrugen, scheint schlüssig. Immerhin wehrte sich die rechtspopulistische Gruppe Primero Justicia am längsten gegen einen Wahlboykott. Ihr wurden allerdings auch 15 Prozent der Stimmen prognostiziert.
Während Regierungsvertreter das Wahlergebnis am Tag nach den Wahlen verteidigten, steht das Land nun vor einer schwierigen Situation. Durch die unsichere Situation vor den Wahlen und Angst vor gewaltsamen Zusammenstößen ist die Wahlbeteiligung auf 25 Prozent zurückgegangen. Obgleich die Opposition dieses Ergebnis selbst herbeigeführt hat, wird es ihr helfen, die Legitimität der Regierung in den kommenden fünf Jahren in Frage zu stellen. Schon jetzt ist in der konservativen lateinamerikanischen Presse von dem „Ein-Farben-Parlament“ von Hugo Chávez die Rede.
In Anbetracht der immensen Übermacht der Chavisten im neu gewählten Parlament wäre es nicht verwunderlich, wenn dies künftig als „Beleg“ für den autoritären Charakter der Regierung angeführt wird. Dabei ist das Argument der geringen Wahlbeteiligung nur bedingt gültig. Bei den letzten Lokalwahlen im Dezember 2000 enthielten sich schließlich sogar 76,2 Prozent der Stimme. Gestört hat das damals keine der Oppositionsgruppen. Sie hatten schließlich auch teilgenommen.