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Erosion der bürgerlichen Freiheiten

Bild: Janneke

Inwieweit die für smart cities nötige KI und Standards wie 5G grundsätzlich zu einer umfassenden Militarisierung des Alltags führen

Im ersten Teil des Textes - Totale Telematik [1] - ging es um die Frage, inwieweit das von Eric Schmidt verkündete "tele-everything" zu einer "Unwirtlichkeit" der im Dienst der Seuchenbekämpfung durchdigitalisierten Städte führt. Solche Städte werden zwar smart cities genannt, erzeugen aber ganz uncharmant "Budenangst": Fluchtreflexe vor einem home-office, das Kasernenzwang ausübt.

Der zweite Teil widmet sich daher der näheren Untersuchung, inwieweit die für smart cities nötige KI und Standards wie 5G grundsätzlich zu einer umfassenden Militarisierung des Zivilen führen.

Vieles von dem, was Anders Riel Müller beobachtet hat, findet sich in aktuellen Dokumenten von Arbeitsgruppen bestätigt, die unter dem Vorsitz von Eric Schmidt an denselben Fragestellungen arbeiten. Im "Interim Report" der National Security Commission on Artificial Intelligence (NSCAI) vom November 2019 [2] heißt es auf Seite 12 unter der Überschrift "Erosion der Privatsphäre und der bürgerlichen Freiheiten":

Neue KI-Instrumente bieten Staaten größere Möglichkeiten, ihre Bürger oder die anderer Staaten zu überwachen und zu verfolgen. Während die Daten der Bürger für rechtmäßige und legitime Zwecke verwendet werden sollten, könnte die die Verbreitung neuer Datenquellen - wie z.B. solche Daten, die durch intelligente Städte generiert werden oder durch intelligente Polizeiarbeit - das Risiko von Menschenrechtsverletzungen oder Verstößen gegen die Privatsphäre erhöhen. Während Chinas Einsatz von KI-Überwachungsinstrumenten zwar hinreichend gut dokumentiert ist, darf nicht vergessen werden, dass mindestens 74 weitere Länder ebenfalls in KI-getriebene Überwachung investieren, darunter viele liberale Demokratien.

NSCAI-Report, November 2019

Wenn es gegen China geht und den geplanten Export des Sozialpunktesystems, ist man aus gutem Grund hellwach und kritisch (siehe auch "Überwacht: Sieben Milliarden im Visier" [3]). Doch der kritische Impuls am Anfang des mehr als 100seitigen Papiers schwindet bald ins Marginale angesichts epischer Darstellungen verlockender technischer Möglichkeiten.

Durch die Verbesserung von Durchsatz-Geschwindigkeit, Volumen und Latenz werden 5G-Netzwerke eine Verbesserung der Fähigkeiten zum Informationsaustausch sowohl im Verteidigungs- als auch im kommerziellen Kontext bewirken. 5G-Infrastruktur wird die Verbreitung von KI-gestützter Technologie vorantreiben, den Betrieb von remote-devices, autonomen Fahrzeuge, intelligenten Städten und Haushalten, die mit dem Internet of Things verknüpft sind. Mit zunehmender Fähigkeit, Algorithmen des maschinellen Lernens lokal (on device) zu verarbeiten, ist 5G dazu in der Lage, als die Netzwerk-Layer zu dienen, die AI-fähige Systeme miteinander verknüpft. Die in 5G-Netzen erzeugten Daten können wiederum zur Verbesserung von KI-Systemen genutzt werden, die den Datenbesitzern einen signifikanten Vorteil verschaffen.

NSCAI-Report, November 2019

Und im zweiten Bericht des NSCAI vom März 2020 [4] ist dann auch keine Rede mehr von den Gefahren der Erosion der bürgerlichen Freiheiten. Es geht gleich steil los auf Seite 2:

Die außerordentlichen, anhaltenden globalen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bestätigen nur, dass die Kommission flexibel bleiben und schnell handeln muss. Die Bemühungen, das Virus zu verfolgen und zu verstehen - und entsprechend einen Impfstoff zu entwickeln - legt nahe, sich an das Versprechen der KI zu halten, dass sie die Nation schützen kann am Knotenpunkt zwischen Technologie, Gesundheit und nationaler Sicherheit.

NSCAI-Bericht, März 2020

Das ist bereits jenseits des Zivilen, die unredigierte Sprache des Militärs.

Es braucht nur eine anständige Krise und schon schnappt die KI-Falle zu - diesen gleitenden Übergang vom zivilen Nutzen einer Technologie in seine militärische Anwendung und sein im Ernstfall hohes Tempo habe ich lange vor COVID in dem Telepolis-Beitrag Auto-Nomie [5] beschrieben.

Mit 5G in die Schlacht ziehen

Warum fällt insbesondere den US-Amerikanern so leicht, diese Grenze zwischen Zivilem und Militär zu überschreiten? In einer Kultur, die ihren Ursprung einem Genozid verdankt, ist es natürlich nicht verwunderlich, dass alle staatstragenden Aktivitäten, auch die Arbeit der Konzerne, auf Verteidigung ausgerichtet sind.

Insofern erklärt sich die enge Zusammenarbeit zwischen plattformkapitalistischen Unternehmen und dem Pentagon von selbst. Staatstragend zu sein, ist unter den Bedingungen einer potentiell allgegenwärtigen Bedrohung durch die Opfer des Genozids (Angst vor deren Rache) ein Überlebenssystem, keine Frage der Ideologie. Es ist vielmehr eine aus der Geschichte hervorgegangene, eingebildete, aber dauerhaft gefühlte Notwehrsituation.

Doch die Ansteckungsgefahr ist bei solchem Gedankengut hoch - auch in Gesellschaften wie den europäischen, von denen wir eigentlich erwarten sollten, dass ihre mehrere Jahrhunderte zurückreichende Tradition der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit durch ein liberales Bürgertum ausreichend befestigt ist. So haben der Telekommunikationsausrüster Huawei und das Beratungsunternehmen Deloitte gemeinsam im März 2020 das Whitepaper "Combating COVID-19 With 5G" [6] publiziert. Nicht "eindämmen" will man die Ausbreitung des Virus, sondern gleich gegen ihn "in die Schlacht ziehen". Der neue Mobiltelefonie-Standard als Waffe.

In Europa ist das Papier - trotz, oder, man möchte sagen, vielleicht sogar wegen seines martialischen Titels - bei bestimmten Leuten gleich auf fruchtbaren Boden gefallen. Sätze wie "Das ermöglicht eine Rund-um-die-Uhr Überwachung von Körpertemperatur sowie die Bild-, Bewegungs- und Kontakt-Verfolgung, sobald dies erforderlich ist" gemahnen nicht von ungefähr an die "find, fix and finish"-Strategie der gezielten Tötungen mit Drohnen.

Nicht ganz überraschend kommentiert der amtierende EU-Industrie-Kommissar [7], vormals Vorsitzender und CEO des Militärdienstleisters ATOS und Science-Fiction Autor, Thierry Breton ("Computerkrieg - ein Spionagethriller aus der Welt der Informatik", siehe Militärischer BUMMER [8]), zum Huawei-Deloitte Whitepaper:

Die Kommission schließt Maßnahmen wie das Nachverfolgen der Bewegungen von Einzelpersonen, den Einsatz von Technologie zur Bewertung des Gesundheitsrisikos einer Einzelperson und das zentralisierte Speichern sensibler Daten nicht grundsätzlich aus.

Thierry Breton

Die Rede vom "Verteidigungs- oder gar Angriffsvorteil" durch KI läuft schon länger um [9]. Mit dem finanziellen Einstieg des IARPA [10] ins Cyber Valley Tübingen, den Telepolis-Autor Christoph Marischka am 15. Mai 2020 öffentlich machte, hat die schon bestehende Verkettung von deutscher Spitzenforschung mit der US-amerikanischer Verteidigungs- und Geheimdienstarbeit, sowie Daimler, Amazon und der deutschen Rüstungsfirma ZF einen weiteren Höhepunkt erreicht.

Selbstlosigkeit

Es bleibt eine Frage offen: Warum reißen sich all die Unternehmen so sehr darum, uns armen, oft mittellosen Bürgern zu helfen, die unter einer Krankheit leiden, die uns ans Haus bindet. Wir sind doch gar kein gutes Geschäft! Oder?

Woher kommt der Antrieb für die Sorge um andere, für diejenigen, die schwerer betroffen sind als wir selbst? Die Gesellschaft, insbesondere aber ihre Eliten geben vermehrt vor, sie kümmerten sich um ihre schwächeren Mitglieder, die von der "Krise" stärker betroffen seien als "wir selbst". Die geballte Kraft der Vorsorge ist auf die höher Gefährdeten gerichtet. So verkauft uns die Regierung derzeit jede Maßnahme zur Einschränkung der Freiheit: Wir verzichten zugunsten des Schutzes der Risikogruppen. Die Abwendung der Bedrohung von denen, die nicht die Kraft besitzen, sich selbst zu schützen, ist unser wichtigster Auftrag in der Schlacht gegen den unbekannten Feind.

Gleichzeitig hören wir, die Herstellung eines Impfstoffes sei wenig rentabel. Aus reiner Fürsorge für die Weltgesundheit stemmen die Wohltäter der Menschheit das Verlustgeschäft? Hätten nicht all die großen Stiftungen jeweils ein zweites Rückgrat in der Finanzwelt und würden sie nicht dort auf den Erfolg ihren eigenen karitativen Aktivitäten wetten, wäre der "Giving Pledge" [11] in Zeiten von Null- und Minus-Zins ein ruinöses Unterfangen. So aber lässt sich zumindest noch ein wenig Vermögen "kaskadieren" [12], um das Gemeinwohl zu fördern.

Das Prinzip "Selbstlosigkeit" nennt die Verhaltensforschung "Altruismus" [13]. Man kümmert sich um jemanden, der hilfsbedürftig ist und tritt freiwillig davon zurück, selbst zuerst bedient zu werden. Es gibt aber Anreize. Der Altruist profitiert in der Regel selbst.

Wie gelangt an so zentraler Stelle die Idee der Uneigennützigkeit in unseren krisengeschüttelten Alltag? Altruismus nimmt heutzutage verschiedene Formen an. Philanthropie, die sich in Stiftungen manifestiert, mit denen Milliardäre gigantische Summen Steuern sparen, gehört ebenso dazu wie das global verordnete Krisen-Schutzprogramm für eben gerade jene Bevölkerungsgruppen, die zuvor durch Sozialabbau in die Schutzlosigkeit getrieben wurden.

In der bestimmenden Ordnung unserer Kultur, der Wirtschaftsordnung selbst, findet sich hingegen kein blasser Abglanz der Idee von Selbstlosigkeit oder Rücksicht. Im Einklang mit der herrschenden brutalen Pokermentalität des Casinokapitalismus, die allein der unberechtigten Bereicherung frönt, findet sich die karitative Form des Pokerns, die Menschenliebe der Superreichen, gleich neben dem Lippenbekenntnis der Herrschenden zur "christlich-liberalen" Verpflichtung. Die (pekuniären) Vorteile des Altruismus liegen auf der Hand.

Teure Signale

Vor 20 Jahren erschien in der Telepolis eine Rezension [14] des von mir herausgegebenen Buches "Hyperorganismen" [15]. Darin befand sich ein Artikel von Amotz Zahavi [16], in dem der Zoologe die Vorteile des Altruismus beim Brutverhalten beobachtete und, in schlagender, doch bis heute umstrittener Weise, auf den Menschen anwendete. Das von ihm entdeckte "Handicap-Prinzip" [17] besagt, dass "teure Signale" und scheinbare Vergeudung von Energie eine besondere "Stärke" demonstrieren.

Wer nun in Zeiten der Pandemie die Sorge um die so genannten Risikogruppen kritisch betrachtet, kommt nicht umhin, die Recherchen von Zahavi als Vorläufer zu einer Theorie des neoliberalen Katastrophismus zu werten: der Schock-Strategie, die darauf zielt, Konkurrenz auszuschalten.

Katastrophismus bedeutet, dass durch Abbau und Zerstörung regiert wird. Neoliberal meint, dass die soziale Rolle des Staates zurücktritt gegenüber der Bedeutung der Wirtschaft. Der Staat tritt nurmehr als strenger Vater, in der Rolle der autoritären Exekutive auf. Schock meint, mit Verweis auf Walter Benjamins Lesart des Begriffes ohne "S" und ohne hinten eingefügtes "c", Chok meint die überraschende Begegnung mit dem Unbekannten, nicht Erwarteten, Überraschenden.

Chockhaftigkeit ist zunächst einmal eine Großstadterfahrung. Sie hat mit Beschleunigung, Reizüberflutung, mit nervösen (Lebens-)Rhythmen zu tun.

Das Bedürfnis, sich Choc-Wirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren ... Veränderungen, ... wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.

Walter Benjamin [18]

Gezielte Überforderung

Das Konzept der Schockstrategie, wie es von Alvin Toffler bis hin zu Naomi Klein fortgeschrieben wurde, steht stets für den Effekt der Überforderung - durch innovative Hochtechnologie, innovative Finanztechnologie, innovative Medizintechnik - deren Versprechen jeweils die Adaptionsfähigkeit der Bevölkerung überfordern. Insofern steckt nicht nur hohe Erwartung und schier grenzenloser Erneuerungswille in jeder Innovation.

Es ist auch eine Methode, Fortschritts-Blockaden gering zu halten. Die Schockstarre macht den Weg frei für neoliberale Operationen, die nun keinen Widerstand mehr in ihr Durchsetzungskonzept einplanen müssen. Eine Pandemie ist ein perfekter Auslöser für diese Art Schockstarre. Sie ist ein Durchsetzungs-Beschleuniger. Eine alle betreffende Angst lähmt uns und macht uns Paralysierte empfänglich für neue Konzepte.

Altruismus ist der zentrale Begriff, mit dem die bedingungslose Mitwirkung der Bevölkerung am Programm des Neoliberalismus erreicht werden kann. Mitleid ist der Kleister, der den von katastrophalen Auswirkungen eines Wirtschafts-Systems Betroffenen die Gesellschaft ersetzt, von der Margaret Thatcher schon vor 50 Jahren sagte, dass sie nicht existiert: "There is no such thing as society."

Die Rede von der Bedeutung und Notwendigkeit des Altruismus für das Überleben der Spezies, mithin vom hohen Wert des einzelnen Lebens als einem uns allen gemeinsamen Wert ist insofern Propaganda der Regierungen, als mit ihr die Nichtexistenz von Gegenseitigkeit kaschiert wird.

Gegenseitigkeit stellt kein relevantes Kalkül in der herrschenden Ökonomie dar und kann auf keinem "vernünftigen" Weg in sie hinein gerechnet werden. Wo Gegenseitigkeit fehlt, fehlt der Humanismus. Humanismus ist ein ethisches Konzept, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Altruismus hingegen ist eine Überlebensstrategie. Insofern ist derjenige, der den Altruismus ins Zentrum seiner Aktivitäten stellt, zugleich derjenige, der davon profitiert. Altruismus ist eine moderne Herrschaftstechnik.

In Stromschnellen

Altruismus hilft uns, die Risiken anders zu bewerten, die Nebeneffekt des aktuellen Wirtschaftens sind. Dass neoliberale Wirtschaftsunternehmen die Größe und Reichweite unserer kollektiven Systeme der Risikoabsicherung stets verkleinern möchten, ist keine Überraschung.

Frappierend jedoch ist der Zynismus, mit dem ein Vordenker des Neoliberalismus, Newt Gingrich [19], diesen Umstand mit einem Bild aus dem Risikosport erläutert:1 [20]

Der Rhythmus der Dritten Welle im Informationszeitalter ist ein wenig wie das Befahren von Stromschnellen mit einem Schlauchboot, nachdem wir nur gelernt haben, mit dem Kanu auf einem ruhigen See zu paddeln. Obwohl die Fahrt durch die Stromschnellen schwieriger und gefährlicher sein mag, sind Fertigkeiten, die man benötigt, und Regeln, die man beachten muss, im Wesentlichen dieselben. Wenn wir uns einmal daran gewöhnt haben, kann es sogar sehr aufregend sein und Spaß machen. Es gibt viel größere Herausforderungen, es ist viel spannender und aufregender, und unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten erhalten einen viel feineren Schliff. Es wird eine Menge mehr Herausforderungen in unserer neuen Welt geben als in der, in der wir aufgewachsen sind. Während der Übergangszeit freilich sind die Menschen wahrscheinlich unsicher und eingeschüchtert.

Newt Gingrich

Das Auftreten von Pandemien destabilisiert das Vertrauen in den modernen Wohlfahrtsstaat, der bislang als Garant der Sicherheit galt. Der Ruf nach privaten Akteuren, die in dieses Machtvakuum eintreten, birgt jedoch eine gewisse Schizophrenie, da wir genau die Unternehmen mit der Lösung eines Problems betrauen wollen, deren Geschäftsgebaren das Problem erzeugt hat. Diese Fehlleistung ist nur durch die außerordentliche Bedeutung des Sicherheitsbedürfnisses zu erklären.

Je größer nun die Verunsicherung, desto leichter fällt es den Betroffenen, einer Rückabwicklung der zivilisatorischen Errungenschaften zuzustimmen, die den Kern des sozialen Wohlfahrtsstaates ausgemacht haben.

Stammt die Wohlfahrt aus privater Tasche, so muss man sich wohl oder übel den Bedingungen unterwerfen, die aus ökonomischer Sicht an die Leistungen geknüpft sind. Insofern ist dieser Text als Kritik am staatlichen Versagen zu verstehen. Denn die Politik lässt sich ändern. Rahmenbedingungen für das Wirtschaften lassen sich neu formulieren.

Wer seine Kritik ausschließlich an die Unternehmer richtet, vergisst, dass die Vorgaben für das "freie Drehen" der Wirtschaft von den Personen stammen, die wir beauftragt haben, uns politisch zu vertreten. Ihnen gegenüber müssen wir unsere Forderungen selbstbewusster formulieren. Dafür ist jetzt ein guter Zeitpunkt.

Denn die Pandemie beschleunigt nicht nur die Fahrt durch die Abwärtsspirale, auf der unser Wirtschaftssystem seit Jahren unterwegs ist - "abwärts" im Sinne einer nachhaltigen Zerstörung aller Formen lebensnotwendiger Gerechtigkeit. Sie motiviert die Menschen auch, endlich gegen unerträgliche Zumutungen aktiv zu werden.

Die schier endlose Kette sozialschädlicher Ereignisse, an die uns die Herrschenden über die letzten drei Jahrzehnte scheinbar fest angeschmiedet hatten - die Betrugsskandale, Rechtsbeugungen, Ressourcenvernichtungen und Aushöhlungen unserer Kultur - diese Kette wollen immer mehr Menschen sprengen. Sie glauben nicht länger den Versprechen philanthropischer Milliardäre, weil sie sichtbar leer sind.

Aus der ökonomischen Logik, die das Problem der zurückliegenden "Normalität" schuf, lässt sich dessen Lösung nicht zentrifugieren. Die Menschen erkennen klar, dass die steuersparenden Modelle dieser Almosenkultur bloß die angeblich menschenfreundliche Seite einer Bereicherungsökonomie sind, in der unsere zivilisatorischen Errungenschaften plötzlich nur noch auf der Basis der Freiwilligkeit gespendet werden.

Die Menschen aber wollen nicht vom guten Willen einiger weniger Reicher und den Unwägbarkeiten von deren Risikokapitalinvestments abhängig sein. Sie verlangen die von ihnen seit Jahrhunderten erkämpften Lebensbedingungen als unverbrüchliche Rechte - nicht als Abfallprodukte der Anlagegesellschaften.

Der Mann mit den Engelsflügeln

Die hochfliegenden Pläne für ein Post-COVID New York sind tollkühne Utopie. Die Phantasmen einer voll entfalteten Hochtechnologie als naturähnliche nächste Entwicklungsstufe der menschlichen Evolution sind weder neu noch wünschenswert.

Aber eine "historische Chance" ist nie realistisch, bis zu dem Augenblick, in dem sich ein Spalt öffnet, durch den sie ins Herz des gesellschaftlichen Wollens quillt. Diesen schmalen Spalt versuchen Andrew Cuomo und Eric Schmidt gerade aufzuweiten. Ihre Vision unserer Zukunft würde unter anderen als den augenblicklichen pandemischen Voraussetzungen ihr pathologisches Potential unmittelbar preisgeben.

Es ist ein wenig, wie Karl Schlögel es einmal klug bemerkte:2 [21] was tollkühn erscheinen mag, "ist pures Notstandsdenken, ohne das eine Macht mit denkbar schwacher Legitimation nicht einen Tag überleben könnte".

Als die Botschaft um die Welt geht, dass "@NYGovCuomo has tapped @Google CEO @ericschmidt to head a new Blue Ribbon Commission reimagining New York State’s current systems of health and education", präsentiert sich Eric Schmidt per Videoleitung von zu Haus [22].

Eric Schmidt - Screenshot aus dem Video

Das theatralisch inszenierte Video-Bild, in dessen Mitte sich Schmidt platziert, steckt voller Hinweise darauf, dass er sich bald über uns alle hoch in die Lüfte erheben wird. Ein Mann in seiner Position überlässt nichts dem Zufall. Jedes Element in dem Video-Raum hat eine zugewiesene Rolle in dem anstehenden Spiel. Die goldenen Flügel und das Foto der Propellermaschine stammen aus dem kalifornischen Ausstattungshaus ZGallerie [23] - sie sind preiswert, aber sie erfüllen ihren Zweck.

In dem Spiel, dass er ankündigt, geht es um nichts Geringeres, als diejenige Stadt, in der am 11. September 2001 die Epochenwende zuerst sichtbar wurde, vollständig umzubauen. "Ground Zero" war bloß der Anfang. Wenn Schmidt fertig ist, werden wir New York nicht mehr wiedererkennen.

Wie dereinst der Magier Woland ("volant" = fliegen) in Bulgakows "Meister und Magarita" erhebt sich Schmidt symbolisch in die Lüfte. Nur von ganz oben kann er Überblick über sein geplantes Teufelswerk erlangen.

Doch Schmidt hat eine Kleinigkeit nicht einkalkuliert. Es hat sich links unten eine verräterische Pflanze in die Szene geschummelt. Es ist eine halb abgestorbene Anthurie. Mit ihren braunen Blättern überbringt sie die Kunde, dass unter der glänzenden Oberfläche der KI, unter der schillernden Schale des "new screen deal" eine faule Nuss schlummert.

Die unvorstellbare Ressourcen-Verschwendung der geplanten Operation und der als Fürsorge getarnte unstillbare Hang zu mehr Macht und Reichtum entdecken sich uns allein durch die kleine vernachlässigte Flamingoblume [24].

Wo die großen Symbole für Sicherheit (Schutzengel in Gold) und die ewigen Träume der Allmacht (der fliegende Mensch) sorgsam platziert sind, hat Schmidt die Ecke mit der vernachlässigten Topfblume übersehen.

Noch einmal Karl Schlögel: der "verheißene Morgen", der uns zunächst als wohl bedachter "Plan erscheint, stellt sich bei nähren Hinsehen als Nothandeln, Improvisation" heraus. "Das 'System' erweist sich in Wahrheit als ein notdürftig beherrschtes … zur Herrschaftssicherung erneut entfesseltes Chaos."

Olaf Arndt, ist Herausgeber der Zeitschrift "Die Aktion 4.0 - Organ für radikale Intelligenz" [25] und Autor zahlreicher Sachbücher und Sammelbände [26] zu Themen wie KI, Finanzkapitalismus, weniger-tödliche Waffen. Er führt die auf Telepolis begonnene Reihe mit Beiträgen zu den sozialen Folgen von Corona auf seinem Blog [27] weiter. Dort sind auch Informationen zu erhalten über seinen neuen Roman "Unterdeutschland" [28], der sich mit dem gleichen Thema befasst.


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[3] https://www.youtube.com/watch?v=ubePmAtsBsQ
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[6] https://www.tahawultech.com/industry/technology/huawei-deloitte-publish-whitepaper-on-combating-covid-19-with-5g/
[7] https://www.derstandard.at/story/2000116670035/coronavirus-eu-spricht-sich-fuer-nutzung-von-handy-apps-aus
[8] https://www.heise.de/tp/features/Militaerischer-BUMMER-4608187.html
[9] http://www.imi-online.de/2020/05/15/cyber-valley-mpi-und-us-geheimdienste/#_edn2
[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Intelligence_Advanced_Research_Projects_Activity
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/The_Giving_Pledge
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Cascade_Investment
[13] https://de.wikipedia.org/wiki/Altruismus
[14] https://www.heise.de/tp/features/EXPO-Themenpark-als-kultureller-Hyperorganismus-3442295.html
[15] https://bbm.de/buecher_videos_cds
[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Amotz_Zahavi
[17] https://de.wikipedia.org/wiki/Handicap-Prinzip
[18] https://de.wikisource.org/wiki/Seite:Das_Kunstwerk_im_Zeitalter_seiner_technischen_Reproduzierbarkeit_(Dritte_Fassung).pdf/33
[19] https://de.wikipedia.org/wiki/Newt_Gingrich
[20] https://www.heise.de/tp/features/Erosion-der-buergerlichen-Freiheiten-4790106.html?view=fussnoten#f_1
[21] https://www.heise.de/tp/features/Erosion-der-buergerlichen-Freiheiten-4790106.html?view=fussnoten#f_2
[22] https://www.youtube.com/watch?v=p57mMlcM-6I
[23] https://www.zgallerie.com/t-about.aspx
[24] https://de.wikipedia.org/wiki/Flamingoblumen
[25] https://olaf.bbm.de/die-aktion-2
[26] https://bbm.de/buecher_videos_cds
[27] https://olaf.bbm.de
[28] https://olaf.bbm.de/leseproben-romane-download