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Wüste Phantasien über eine seuchensichere Stadt der Zukunft - ein Gespräch mit dem "Smart Cities"-Experten Anders Riel Müller
Den allermeisten Menschen rund um die Welt, die nicht über das Privileg eines eigenen Gartens oder über eine ländliche Zufluchtsstätte verfügen, hat der Lockdown die "Unwirtlichkeit unserer Städte" deutlich gemacht.
Budenangst
Alexander Mitscherlich spricht in seinem gleichnamigen Pamphlet von 1965 in diesem Zusammenhang von "Budenangst". Wir sollen dieser Tage gern aus Gründen der Gesundheit möglichst in der Wohnung bleiben. Wir halten es dort aber auf Dauer nicht aus.
Die "Kunst zu Hause zu sein" stellte Mitscherlich vor mehr als 50 Jahren der "suchthaften Hingabe an das Fernsehprogramm" gegenüber, die er als das Unvermögen deutet, zu Hause zu sein.
Ersetzt man das Wort "Fernsehprogramm" durch Internet oder Videostreaming, lässt sich auch gegenwärtig fühlen, was er mit Unwirtlichkeit meinte. Statt sich im Zuhause wohl zu fühlen, eins zu sein mit den "eigenen vier Wänden", spürt man bei zu langem Aufenthalt "auf der Etage" die Enge der auf Zeit überlassenen "Bude". Der Mieter dreht den medialen Hahn auf, durch den die Bilder einer anderen, freieren Welt ins Heim gespült werden. Die künstlichen Filmwelten helfen den Bewohnern der Mietshäuser, die Beengtheit der Verhältnisse leichter zu ertragen.
Es kursieren heute schon Pläne für eine kombinierte Wohn- und Arbeits-Umwelt zur Verhinderung künftiger Seuchen, die ganz auf das Problem der grundsätzlichen Unzulänglichkeit unserer Wohnunterkünfte abgestellt sind. Vielfältiger Service soll die fehlende Abwechslung durch gewachsene Beziehungen zum Umfeld ersetzen. Mitscherlich sprach damals mit Bezug auf solche Techniken von "Komfortgreuel".
In seinem Buch "Thesen zur Stadt der Zukunft" (1971) stellt Alexander Mitscherlich die Behauptung auf, utopische Pläne für Städte wie New York (er spricht konkret von Brooklyn, wo Menschen "unter extremen deformierenden Anpassungszwang" leben) seien "Ersatzbefriedigungen" ihrer Erfinder, "Ausdrucksmittel jener Spannungen, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern aufzwingt".
Mit Verweis auf Lewis Mumford nennt er sie "Fluchtutopien", geprägt von einem "Abwehrcharakter gegen gesellschaftliche Konflikte, die der Utopist nicht zu lösen vermag". Er kommt zu dem messerscharfen Schluss: "Fluchtsysteme, zu denen auch die Fluchtutopien gehören, vermeiden die politische Veränderung zu Gunsten eines autoritären Wunschdenkens, dass sich im Falle der Stadtutopie zunächst das Air ästhetischer Perfektion zu geben weiß."1
Im aktuellen Fall der post-COVID Pläne für New York wird das "Air ästhetischer Perfektion" ganz im Stil einer wild gewordenen "Werkzeugintelligenz" (Mitscherlich über den technischen Erfindungsgeist) durch die geschliffenen Oberflächen der Bildschirme garantiert, die nun das Zentrum jeder Wohnung bilden sollen, und mehr noch als schon zuvor Außenwelt abschneiden und Sozialleben durch die optische Einspielung einer Fake-Utopie ersetzen.
Schauen wir uns genauer an, wer diese Dienstleistungs-Environments des 21. Jahrhunderts gestalten will, so ahnen wir, was Mitscherlich meinte, als er sagte, unsere Städte seien Produkte der Phantasie, aber aus harter Materie. Sie würden daher auf uns wirken "wie Prägestöcke". Der massive Einsatz von Software wird diese Stempelwirkung nicht gerade weicher machen.
Schutzunterbringung zu Haus
Dass solche Gedanken keine abgehobene sozialpsychologische Spekulation aus der längst vergangenen Zeit des bundesdeutschen Wiederaufbaus sind, die heute nicht mehr gültig, sondern im Gegenteil erschreckend aktuell sind, zeigt ein Artikel über die Zukunftspläne für New York, der jüngst in der auch sonst überaus empfehlenswerten Internetzeitung The Intercept erschien.
Die "Schutzunterbringung zu Haus" (im US-wording: "shelter-at-home") hat uns die "Unwirtlichkeit unserer Städte" erneut schmerzhaft bewusst gemacht. Das hat neben einer dramatisch zunehmenden häuslichen Gewalt (Buden-Koller) derzeit zwei konkrete Folgen: Flucht aufs Land und wüste Phantasien einer seuchensicheren Stadt der Zukunft.
Seit Pfingsten pilgern Heerscharen von Städtern durch die Dörfer und betrachten jedes noch so verwaiste Haus mit begehrlichen Blicken, solange es über einen Garten verfügt, in dem man sich grillend den nächsten Lockdown überstehen sieht. Da absehbar nicht für jedermann eine Kate im Dornröschenschlaf zur Verfügung steht, arbeiten Visionäre unter Hochdruck am Umbau der Städte. Dem bekannten Ruf "Bleibt zu Hause" lassen sie die Botschaft folgen "Wir schenken euch alle notwendigen Geräte, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen."
Die zentralen Schlagworte bei der Umwandlung unserer nicht pandemiegerechten Städte in "Smart Cities" sind geläufig: G5, Tracing-App, Telehealth, Homeschooling. Das alles getragen von einer Geste der karitativen Wohltat. Wir begreifen schlagartig, warum das Google-Empire seinen Namen geändert hat: Eine radikale "Alphabetisierung" unserer Umwelt steht ins Haus.
Zero
New York City war schon länger ein Zentrum der symbolischen "Null". "zero tolerance" wurde mit Rudy Guiliani ab 1993 zum Synonym für die Stadt. Der Anschlag von 9/11 planierte ein "ground zero". Ausgehend von diesem Loch, das zwei Flugzeuge in den Stadtplan von NYC stanzten, bauten die USA die gesamte Welt um. Die Stadt gilt seither als spezialisiert auf "tabula rasa"-Pläne. Wenn man richtig abräumen will, muss man dort anfangen.
So verwundert es kaum, was Naomi Klein am nicht weniger symbolischen 8. Mai 2020 der Welt enthüllte: ein weiteres "zero" sei in Arbeit, ein Nullpunkt, diesmal gleich für die ganze Gesellschaft.
Eric Schmidt und seine wunderbare Familienstiftung "Schmidt Futures" sollen den "Governor" Andrew Cuomo dabei unterstützen, New York in eine smarte Modellstadt zu verwandeln. Kein Sim in dieser City bleibt am Ende an seinem angestammten Platz.
Wozu der ganze Aufwand?
Nur zu unserem Besten, versteht sich: sichere Gesundheit, bessere Bildung, höherer Datendurchsatz, was in jedem Fall gut ist. Die neue Null ist scheint's ein Reingewinn.
Doch das Geschenk der Totaldigitalisierung ist ein trojanisches Pferd: Wir müssen uns ändern, radikal ändern. Sonst kommen Seuchen, Schulausfall und überlastetes Netz im jährlichen Dreierpack. Was müssen wir tun, um in den Genuss der Segnungen von Sicherheit und solider Erziehung zu gelangen und um ständig genug Filme ruckelfrei streamen zu können?
Die Lösung klingt einfach, wenn auch etwas beklemmend: Wenn wir auf immer in der Bude bleiben, schenken uns die Dienstleistungsimperien die Endgeräte, mit denen wir am Leben, oder dem, was davon übrig ist oder neu kommt, teilnehmen können.
Und immerhin, eins steht fest: Wir haben uns in den letzten dreißig Jahren schon an so manches gewöhnt, das wir uns nicht im Traum hätten vorstellen wollen, und wir haben so manches eingetauscht - für ein wenig weniger Risiko.
Nullrisiko
Naomi Klein versteht die geplante "zero risk society", die Nullrisikogesellschaft, in Anlehnung an ihr Buch von 2007 als eine "pandemische Schock-Doktrin". Das Loch im Cover der Originalausgabe macht zweierlei klar: der Erfolg des "Katastrophenkapitalismus" wird durchschlagend sein! Und: Du bist sein Ziel!
Eine "Blue Ribbon Commission" unter dem Vorsitz von Eric Schmidt soll den Umbau von New York planen. Das kündigte Cuomo zwei Tage zuvor, am 6. Mai 2020, bei seinem wöchentlichen Corona-Briefing an.
Mit im Boot sind andere, einschlägig bekannte "Visionäre" und ihre milliardenschweren Stiftungen. Bill und Melinda Gates - man möchte diese Namen schon gar nicht mehr aufschreiben, weil einem ganz elend dabei zumute wird - also BMG sind auch dabei, mit einer bahnbrechenden Idee, die Cuomo bald viel Geld in die Kasse spülen soll: der Verkauf von Schulgebäuden. Denn "wozu brauchen wir physische Klassenräume, wenn wir all die Technologie besitzen?"
Doch nicht nur die Schulen sind "dran". Schmidt geht weiter als Gates. Der Google-Mann kennt kein Stückwerk. Es geht ums Ganze. Mit den richtigen Algorithmen ist die Welt in sieben Tagen neu erbaut. Im Wall Street Journal verkündet Schmidt sein Manifest der neuen Stadt am Draht.
Wie wird es sich anfühlen, in der "smart city NYC" zu leben? Wie können wir uns den künftigen Alltag ausmalen? Ich habe dazu den Urbanisten Anders Riel Müller vom Forschungsnetzwerk der Universität Stavanger als Experten befragt.
Die gefühlvollen Unternehmer
Seine Antworten stelle ich in den Kontext der institutionalisierten "Selbstlosigkeit" von Milliardären und beziehe mich dabei auf ein anderes aktuelles Gespräch vom April 2020: Noam Chomskys Rede über die "gefühlvollen Unternehmer".
Als Beispiel für einen solchen "gefühlvollen Unternehmer", der sich aus dem operativen Geschäft ganz zurück gezogen hat und sich nunmehr "philanthropischen" Fragen und der Forschung widmet, unterziehe ich besagten Eric Schmidt einer näheren Untersuchung. Es geht mir dabei vor allem um seine Rolle als Kopf der Kommission für Nationale Sicherheit und Künstliche Intelligenz und seine Funktion als Chairman im Defense Innovation Board.
Hier sitzt der "Google Überfürst" gleich neben "dem reichsten Mann der Welt" Jeff Bezos und einer Anzahl Risikokapital-Magnaten wie Reid Hoffmann, insgesamt eine strahlende Korona von Multi- und Centi-Millardären, die über die "Sicherheit" unserer Zukunft bestimmen.
Die leitende Frage dabei ist: Welche Art von "Zivilgesellschaft" gedeiht auf dem fruchtbaren Boden der Serverfarmen von Plattformkonzernen, neben jenen ungeheuren Mengen sensibler Militärdaten, die in dem digitalem Gewächshaus ohnehin schon gehegt werden? Oder ist die viel besungene "zivile Nutzung" der KI ein Widerspruch in sich? Steht uns eine restlos nischenfreie Militarisierung des Alltags bevor, wenn wir KI in der beschriebenen Weise flächendeckend anwenden?
Wird jetzt ernst gemacht? Sitzen wir morgen bei dauerhaftem Spazierverbot in der Hausarbeitskaserne, dem Drill tausender Einpeitscher an der Neuen Medienfront unterworfen? Ist New York der erste große Anwendungsfall für KI auf allen Ebenen der Gesellschaft?
Doch zunächst zum "Screen New Deal", wie die Wortspiel-Meisterin Klein in Verkehrung des "green new deal" in sein Gegenteil die endgültige Ver-Zoomung unserer sozialen Kontakte nennt. Was genau verbirgt sich hinter dem schillernden Zauberwort von der "smarten Stadt"?
Es folgen die Antworten von Anders Riel Müller.
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