Totale Telematik

Seite 2: Der smarte Planet

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Naomi Klein sagt in ihrem Text in "The Intercept" bezüglich der Pläne für NYC: "Das ist der Entwurf einer Zukunft, in der unsere Wohnungen nie wieder ausschließlich private Räume sind". Hat sie Recht? Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff "smart city"?

Anders Riel Müller: Lass mich zunächst festhalten, dass ich hier nur über "smarte" Stadtentwicklung in westlichen demokratischen Marktwirtschaften spreche. Der Antrieb für Smart Cities in anderen Teilen der Welt könnte völlig anders sein. In chinesischen Smart Cities erkennt man beispielsweise eher Versuche der Regierung, eine effiziente politische Kontrolle zu installieren ... aber insgesamt denke ich, dass die Auswirkungen auf die Marginalisierten in allen Gesellschaftsformen die gleichen sind.

Orit Halpern behauptet in seinem Buch aus dem Jahr 2017, "Auftrag zur Smartheit", dass das "intelligente" Konzept in Bezug auf smarte Städte auf eine Rede des damaligen Vorstandsvorsitzenden von IBM, Sam Palmisano, vor dem Rat für Außenbeziehungen am 6. November 2008 zurückgeht. Palmisano stellte damals seinen Vorschlag für einen "Smarten Planeten" vor, in dem er sich eine allgegenwärtige digitale Netzwerkinfrastruktur ausmalte, die wirtschaftliches Wachstum und eine saubere Umwelt ermöglichen würde.

Wenn wir dies in einem größeren Kontext betrachten, so gab es damals hochfliegende Hoffnungen auf ein neues globales Klimaabkommen bei der UN-Klimakonferenz, COP 15, 2009 in Kopenhagen - die dann als eine der am wenigsten erfolgreichen Klimakonferenzen der Geschichte endete - denn die Wirtschaft torkelte noch nach der Finanzkrise. Daher schlug Palmisano vor, dass "smart" zwei der größten globalen Probleme der damaligen Zeit angehen könnte. Somit war "Smartheit" als eine Lösung für Finanz- ebenso wie für Umweltkrisen etabliert.

Halpern und seine Co-Autoren schreiben: das Konzept "smart" basiert auf einer imaginären "Krise", die durch einen massiven Zuwachs an Geräten mit Sensoren bewältigt werden soll, eine Technologie, die wiederum angeblich Selbstorganisation und konstante selbstmodulierende und sich selbst aktualisierende Systeme ermöglicht.

Welches soziale Problem löst eine intelligente Stadt?

Anders Riel Müller: Das Ziel der Smart Cities ist es, die Stadt bis zu einem gewissen Grad von ihren widerspenstigen und chaotischen Elementen zu befreien, was James Scott als ein "Kernelement der Staatskunst" bezeichnen würde. Gemeint ist eine Technologie der Macht, die bestimmten Gruppen erlaubt, die Stadt zu kontrollieren und zu manipulieren, vorzugsweise ohne die widerspenstigen Elemente der partizipativen Demokratie einbeziehen zu müssen. In ihrer extremsten Form stellt sich die intelligente Stadt zukünftige Gesellschaften vor, die eher von Algorithmen als von demokratischen Institutionen geleitet werden.

Natürlich ist dies im wirklichen Leben nicht der Fall, weil dort die intelligente Stadt auf komplexe Gesellschaften trifft und sich an diese anpassen muss. In Norwegen betont die Nationale Smart City-Roadmap die Bürgerbeteiligung und wünscht sich ein breites Verständnis von Nachhaltigkeit als zentrales Element. Was jedoch bislang kein einziges Smart-City-Konzept, das ich untersucht habe, in Frage stellt, ist das Narrativ vom endlos möglichen Wirtschaftswachstum.

Die Umwandlung

Eric Schmidt und andere Befürworter der "smarten Stadt" sprechen gern vom "Re-Imaginieren", vom Umdenken und sich Neu-Erfinden. Unter "reimagine" stellen sie sich ganz konkret vor, dass die Bildung komplett neu aufgestellt werden muss (technisch). Aber nicht nur das. Denk beispielsweise an Restaurants, die nach der Ausgangssperre wiedereröffnen. Deren "Architektur" muss nun ganz andere Anforderungen erfüllen. Es geht nicht mehr um Geselligkeit, sondern darum, gesunde Distanz zu garantieren.

Es ist längst von bleibenden "post-COVID"-Lebensumständen die Rede, weswegen Schmidt vorschlägt, einfach "alles" zu telematisieren - er nennt es "tele-everything".

Kann eine bestehende Stadt mit einer heterogenen Bevölkerung wie NYC und insbesondere mit dem für amerikanische Verhältnisse vergleichsweise liberalen Klima überhaupt in eine intelligente Stadt "umgewandelt" werden?

Anders Riel Müller: Das kann ich ohne eine genaue Untersuchung des Einzelfalles nicht so einfach sagen. Viele Aspekte der Smart-City-Vision können in Krisenzeiten, unter dem Ausnahmezustand sicherlich leichter umgesetzt werden. Die Corona-Krise gibt ein gutes Beispiel für eine massive Ausweitung der Smart-City-Technologien, weil so die Ausbreitung des Virus verfolgt und Infektionsketten nachvollzogen werden können. In einer smarten Stadt mit all ihren Sensoren und Kameras lässt sich müheloser sicherzustellen, dass die Menschen die Regeln einhalten.

Es fällt mir immer schwer, die Zukunft vorherzusagen, aber ich denke, die Verwendung des Wortes "re-imaginieren" ist insofern interessant, weil an ihm deutlich wird, was genau die Benutzer des Wortes meinen. Sie stellen sich neue Arten von Bringdienst-Services vor oder eine Neu-Organisation von Produktion und Konsum, sogar von Politik. Aber jede "intelligente Stadt" wird schwer daran zu knabbern haben, sich die Wirtschaft selbst zu "re-imaginieren".

Nachhaltigkeit, Partizipation und Co-Kreation

Kannst du etwas über den Energieverbrauch intelligenter Städte erzählen?

Anders Riel Müller: Smart Cities in Europa konzentrieren sich sehr stark darauf, den Fußabdruck der Städte zu reduzieren, beispielsweise durch dezentrale Energieproduktion, maximierte Energieeffizienz, peer-to-peer-Energiehandel und ebenso durch den Einsatz von Sensoren, Computernetzwerken und Datenzentren. Ist das eine machbare, realistische Idee? Vielleicht. Ich denke, es ist sogar ziemlich wahrscheinlich. Gezieltes Management von Energie-Produktion und -Verbrauch wird ein ganz offensichtlicher Anwendungs-Bereich für smart-city-Projekte sein, da es darum geht, Angebot und Nachfrage zu antizipieren und vorherzusagen. Innerhalb der EU scheinen sich die meisten Projekte für intelligente Städte auf das Thema Energie, Transport, Gebäude usw. zu konzentrieren ... alles Aspekte, die sich für ein kluges Technikmanagement eignen.

In Bezug auf Menschenrechte und Nachhaltigkeit im weitesten Sinne glaube ich allerdings, dass die Befürworter von Smart Cities noch viel expliziter über demokratische Eigenverantwortung und nicht zuletzt über soziale und ökologische Gerechtigkeit nachdenken müssen. Ich habe noch kein smart-city-Projekt mit einem ausgearbeiteten Programm für soziale und ökologische Gerechtigkeit gesehen.

In den letzten Jahren wird in den Diskursen über intelligente Städte verstärkt auf Partizipation gesetzt und auf gemeinsame Autorschaft, also das, was man Co-Kreation nennt. Aber diese Begriffe bleiben sehr vage und fluffig - vielleicht aus gutem Grund. Die Frage, wie das Problem sozialer und ökologischer Ungerechtigkeit in Städten angegangen werden kann, scheint ein Bereich zu sein, in dem intelligente Stadtprojekte noch viel zu lernen und zu arbeiten haben.

Vielleicht ist es auch vergeblich, solche Perspektiven einbeziehen zu wollen. Denn sie scheinen mit den zentralen Elementen der oft stark idealisierten Vorstellung von der intelligenten Stadt in Konflikt zu geraten. Ich meine solche Phantasmagorien wie die, dass Algorithmen ein optimiertes und effizientes Management der Gesellschaft ermöglichen.

In ihrem kürzlich erschienenen Buch "Schiefliegende Innovation" argumentiert Jennifer Clark von der Ohio State University, dass intelligente Städte technokratische Lösungen für "urbane Probleme" bieten, dass sie aber nicht in der Lage sind, die strukturellen Rahmenbedingungen, die zu einer ungleichmäßigen Entwicklung unserer Städte führen, zu schaffen. Vielmehr werden sie wahrscheinlich die bestehenden Ungleichheiten verschärfen, da smart-city-Projekte sowohl bestehende neoliberale Räume in der Stadt ausnutzen, als auch neue neoliberale Räume kultivieren.

Künstliche Intelligenz und Gesundheit

Ich möchte noch einmal auf die Rolle von Eric Schmidt als hochrangiger Berater, ja Koordinator des US-Verteidigungsministeriums zurück kommen. Bereits im Mai 2019 vor Erscheinen des Interim Report der National Security Commission on Artficial Intelligence im November 2019 hatte Schmidt unter dem Titel "Chinese Tech Landscape Overview" ziemlich zugespitzt die Erkenntnisse der KI-Verteidigungskommission, der er vorsteht, präsentiert. Das Papier ist nun unter dem Freedom of Information Act freigegeben.

Dort heißt es zum Thema "State Datasets: Surveillance = Smart Cities": "Massenüberwachung ist eine Killeranwendung für deep learning. So bezieht eine ganze Generation von Kl-Einhörnern den Großteil ihrer ersten Einnahmen aus staatlichen Sicherheitsverträgen."

Das ist natürlich als Warnung vor China gemeint - als Warnung an die Adresse des Pentagon, seine Chance nicht zu verschlafen. Was liegt hier für ein Verständnis von KI vor - als Waffe? Wie tief wird diese Idee von KI das zivile Leben "militärisch infizieren"?

Anders Riel Müller: Ich halte die KI-Frage für absolut zentral. Wie können wir eine KI unsere Gesellschaft steuern lassen, solange die Algorithmen im Eigentum von Privatunternehmen sind, die der demokratischen Kontrolle nicht komplett unterstellt sind? Wie können wir sicherstellen, dass die KI bestehende Vorurteile in Bezug auf Rasse, Geschlecht, Klasse, Fähigkeiten und so weiter nicht verstärkt?

Wenn ich hier von "Fähigkeit" spreche, meine ich, dass unsere Gesellschaft normalerweise so gestaltet ist, dass sie die Bedürfnisse der körperlich und geistig Gesunden in den Fokus ihrer Interessen setzt und alle anderen ausblendet. Wir müssen stets genau schauen, welche Kodierung hinter der Benutzung solcher Begriffe wie Gesundheit steht und wie dies bestimmte Menschen ausschließt. Sollten wir nicht grundsätzlich strikte Grenzen dafür setzen, inwieweit KI in den traditionellen Bereichen der Regierung angewendet werden darf?

Algorithmen werden zu einem großen Teil verwendet, um festzustellen, ob Du als Individuum soziale Leistungen überhaupt "verdienst", wie ein Guardian-Artikel im vergangenen Jahr deutlich machte. Man kann sehen, wie diese Art von Algorithmen in den Bereich von Regierung einsickern, indem Dienstleistungen an private Agenturen ausgelagert werden oder indem "Algorithmen" Entscheidungsprozesse übernehmen, die zuvor einmal von der Regierung ihren Sachbearbeitern zugebilligt waren.

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