Erst Corona, dann der Krieg
Eine Studie der TU Braunschweig weist darauf hin, wie die Pandemie bestehende Krisen und bewaffnete Konflikte anheizen könnte
Die globale Corona-Pandemie könnte bestehende Krisen und bewaffnete Konflikte weiter verstärken, wenn die sozialen Folgen der Eindämmungsmaßnahmen nicht erkannt und neutralisiert werden. Dabei spielen internationale Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit eine wichtige Rolle. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Technischen Universität Braunschweig. Tobias Ide vom dortigen Institut für Internationale Beziehungen hat in der knapp 20-seitigen Analyse die bisherigen Auswirkungen auf neun weltweit bestehende Konflikte untersucht.
Sein Ergebnis: In vier Fällen sei es aufgrund strategischer Entscheidung von Regierungs- und Rebellenkräften zu einem Abflauen der Kämpfe gekommen. In fünf der untersuchten Krisen hätten die Auseinandersetzungen seit Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr dieses Jahres zugenommen.
"Es gibt nur wenige Daten, die erkennen lassen, dass sich die Konflikte während der Pandemie nachhaltig beruhigen. Stattdessen nehmen Unzufriedenheiten und Gelegenheiten für bewaffnete Gruppen zu", so Ide.
Als Beispiel führt der Konfliktforscher den libyschen Bürgerkrieg an, in dessen jüngstem Verlauf die Konfliktparteien die mediale Ablenkung durch die Pandemie für militärische Offensiven genutzt hätten. Auch im Irak habe die islamistische Terrormiliz Islamischer Staat derweil ihre Aktivitäten verstärkt, weil die Regierung in Bagdad ihre Kräfte zur Eindämmung der Pandemie bündeln musste.
In Afghanistan und Kolumbien nutzen Aufständische das Versagen des Staates bei der Pandemiebekämpfung und in der Sozialpolitik, um ihr Ansehen bei der Bevölkerung zu verbessern. In Afghanistan hätten die Taliban eigene humanitäre Maßnahmen ergriffen. In Kolumbien rekrutiere die Guerillaorganisation Nationale Befreiungsarmee (Ejército de Liberación nacional, ELN) zudem gezielt Personen, die ihren bisherigen Lebensunterhalt durch die Pandemie verloren haben.
Rückgang der Kämpfe könnte spätere Eskalation begünstigen
Ide äußert sich in seiner Studie betont zurückhaltend: Ein einheitlicher Trend sei in Bezug auf die Auswirkung der Corona-Pandemie auf Krisen und bewaffnete Konflikte nicht auszumachen. Dass einige Konflikte derzeit nicht eskalieren, "liegt vor allem daran, dass die bewaffneten Gruppen selbst von der Pandemie betroffen sind. Es steht aber zu befürchten, dass sie in Zukunft umso heftiger wieder aufflammen", so der Krisenforscher.
Auch die strategischen Entscheidungen der Konfliktparteien zur Reduktion der Kampfhandlungen ist seiner Meinung nach nicht uneingeschränkt positiv zu bewerten. In den Fällen, in denen ein Rückgang der Kämpfe zu beobachten war, ging dies meist auf strategische Entscheidungen zurück, beeinflusst etwa durch logistische Schwierigkeiten und Versuche, in einem verstärkten Maß die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen.
In diesen Fällen bieten sich allerdings wenig Perspektiven für Gesundheitsdiplomatie und nachhaltige Friedenskonsolidierung: "An Orten wie Afghanistan (…) könnte der anfängliche Rückgang (der Kämpfe) sogar die Voraussetzungen für eine spätere Eskalation des bewaffneten Konflikts schaffen. Ähnliche Bedenken bestehen angesichts der Rekrutierungskampagnen in Kolumbien und Indien.
"Ein Unterschied sei zur Lage in Indonesien zu beobachten, wo ein verheerender Tsunami im Jahr 2004 für ein Ende des internen Konfliktes führte. "Das lag vor allem auch an der internationalen Aufmerksamkeit und den Bedingungen, die Staaten an ihre Soforthilfen knüpften", stellt Ide fest. Derzeit aber sind alle Staaten weltweit von der Pandemie betroffen und vor allem mit sich selbst befasst.