"Es geht um ein verzweifeltes Rückzugsgefecht der klassischen Massenmedien"
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Medienwissenschaftler Norbert Bolz über Echokammern und Betroffenheitsapostel
Schlagen Journalisten die Wirklichkeit platt? Führen sich viele von ihnen wie Oberlehrer auf? Im Interview mit Telepolis findet Norbert Bolz klare Worte. Der Professor für Medienwissenschaft an der Technischen Universität Berlin hat vor kurzem in einer bemerkenswerten "Phönix Runde" zum Thema "alternative Fakten" auch eine zentrale Medienkritik angebracht. Im Interview führt er die Kritik fort und stellt fest, dass Medien, egal wie oft hochrangige Vertreter aus dem journalistischen Feld dies auch wiederholen, gar nicht "zeigen können, was ist." Medien, so Bolz, "konstruieren die Wirklichkeit, die sie darstellen und sind dabei hochselektiv".
Herr Bolz, wer derzeit bei Google news den Begriff "alternative Fakten" eingibt, erhält über 600.000 Ergebnisse. Um nur mal ein Beispiel anzuführen: In einem nachrichtlichen Artikel des Handelsblatt heißt es, der EU-Vizekommissionspräsident Frans Timmermans habe dem polnischen Außenminister Witold Waszczykowski bei der Münchner Sicherheitskonferenz vorgeworfen, "alternative Fakten" zu verbreiten. Warum wird gerade von vielen Seiten so aufgeregt reagiert, wenn ein Akteur "alternative Fakten" erwähnt? Sind "alternative Fakten" denn überhaupt grundsätzlich ein Problem?
Norbert Bolz: Dass jemand alternative Fakten verbreitet, kann gar kein Vorwurf sein. Natürlich gibt es alternative Fakten - aber das war mit dem von der Trump-Regierung lancierten Ausdruck eigentlich nicht gemeint. Man wollte schlicht betrügen.
Also eigentlich müsste man von bewussten Lügen, von bewusst gestreuter Desinformation sprechen und nicht von "alternativen Fakten"?
Norbert Bolz: Genau.
Ist die aufgeregte Diskussion um "alternative Fakten" ein Hinweis dafür, dass wir einen Kampf um die Interpretationshoheit beobachten können?
Norbert Bolz: Ja. Diejenigen, die "alternative Fakten" jetzt als Kampfbegriff gebrauchen, wollen suggerieren, die von ihnen selbst verbreiteten Informationen seien die Wahrheit und alles andere Lüge.
In dieser Diskussion um "alternative Fakten" schwingt ein Wort mit, das mal mehr, mal weniger stark in den Vordergrund rückt. Die Diskussion um "alternative" Fakten" ist in gewisser Weise eigentlich eine Diskussion um Objektivität in den Medien, oder?
Norbert Bolz: "Diskussion" ist hier vielleicht ein zu harmloses Wort. Es geht schon um ein verzweifeltes Rückzugsgefecht der klassischen Massenmedien, die erfahren müssen, dass immer mehr Menschen an ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln. Hinzu kommt, dass sich viele Journalisten als Oberlehrer der Nation missverstehen - und das lassen sich viele Menschen nicht mehr bieten. Die Objektivität der Medien steht also nicht nur "erkenntnistheoretisch" zu Debatte. Man hat als Leser oder Zuschauer immer häufiger den schlechten Geschmack der Manipulation auf der Zunge.
"Medien konstruieren die Wirklichkeit"
Wer die Berichterstattung der Qualitätsmedien verfolgt, bekommt, um es etwas zugespitzt zu formulieren, den Eindruck: Die Berichterstattung beruht auf einer Art exklusivem Zugang zur Wahrheit. Das, was in den großen Medien gesendet wird, ist unumstößlich objektiv "wahr". Medien und Journalisten haben in der jüngsten Zeit immer wieder auch gesagt: "Wir zeigen, was ist." Wie nehmen Sie als Medienwissenschaftler solche Aussagen auf? Können Medien überhaupt "zeigen, was ist"? Wo liegen die Probleme?
Norbert Bolz: Natürlich können die Medien nicht zeigen, was ist. Medien konstruieren die Wirklichkeit, die sie darstellen und sind dabei hochselektiv. Dabei wirkt eine Menge von "Attraktoren" mit, die sich am so genannten Nachrichtenwert orientieren. Zu Deutsch: Sensation, Skandal, einfache Storyline, Schuldige, die man ins Bild setzen kann, usf. Hinzu kommt, dass sich die Massenmedien aneinander orientieren, d.h. sie berichten, was auch die anderen Medien berichten. So wird die dargestellte Wirklichkeit überschaubar und handlich - man könnte auch sagen: plattgeschlagen.
Sie haben darauf verwiesen, dass Medien "Wirklichkeit konstruieren". Könnten Sie den Prozess der Wirklichkeitskonstruktion durch Medien einmal herunterbrechen und auf eine einfach Weise erklären: Wir konstruieren Medien Wirklichkeit? Und: Was bedeutet das für die Mediennutzer? Worauf sollten diese im Hinblick auf mediale Wirklichkeitskonstruktionen achten?
Norbert Bolz: Nun ja. Wirklichkeitskonstruktion ist ja nicht nur ein Problem der Medien. Es gibt keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit. Wir alle gehen konstruktiv und präventiv an die Realität heran. In gewisser Weise sieht und erlebt jeder immer nur das, was er sehen und erleben will. Bei Massenmedien kommt allerdings die fast unentrinnbare Suggestion hinzu, sie würden tatsächlich objektiv zeigen, was ist. Aber im Grunde ist das unproblematisch, denn wir haben ja eine Vielzahl von Informationsquellen. Und ich würde empfehlen, keiner dieser Quellen eine besondere Autorität einzuräumen. Auch den wissenschaftlichen nicht!
Sie haben den Begriff der Selektion angeführt. Medien müssen aus dem Meer an Informationen, bestimmte Informationen herausfiltern. Journalisten wählen aus, sie selektieren. Können Sie unseren Lesern erklären, wo die Schwachstellen beim Prozess der journalistischen Auswahl und Gewichtung von Informationen liegen?
Norbert Bolz: Journalisten geht es nicht um Wahrheit, sondern um Neuigkeit. Überdies gibt es eine Prämie auf schlechte Nachrichten. Die Normalität und Unaufgeregtheit der Welt kommt in den Massenmedien also gar nicht vor. Die Warner und Mahner, die Ankläger und Betroffenheitsapostel beherrschen die Szene. So erzeugt man Weltfremdheit durch Information.
Nochmal zum Thema Medien und Wirklichkeit. Von Niklas Luhmann stammt die vielzitierte Aussage: "Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien." Sie verweist darauf, dass unsere Wirklichkeitsvorstellung sehr stark mit dem zusammenhängen, was die Medien berichten. Der Soziologe Charles Wright Mills schrieb bereits 1956: "... Unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit werden mehr und mehr von diesen Masseninformationsmitteln statt von unserer eigenen bruchstückhaften Erfahrung bestimmt."
Diese Aussagen stammen allerdings aus einer Zeit, in der es das Internet noch nicht gab bzw. noch nicht so präsent war, wie es heute der Fall ist. Kann es sein, dass "etablierte Medien" vielleicht auch deshalb so aufgeregt reagieren, weil Mediennutzer durch das Internet die Möglichkeit haben, über die Informationen, die von den Medien bereit gestellt werden, hinauszublicken.
Norbert Bolz: Auch diese Frage ist so gut gestellt, dass ich einfach nur "Ja" sagen möchte. Aber man darf nicht vergessen, dass die internetbasierten Medien eben auch Medien sind, d.h. filtern, selektieren und plattschlagen. Zwei Dinge kann man festhalten: Erstens ist heute rätselhafter denn je, was eine medienunabhängige "Erfahrung" sein könnte. Und zweitens ist es m.E. Richtig, so, wie Sie es in Ihrer Frage angedeutet haben, zwischen sozialen Medien und Massenmedien strikt zu unterscheiden. Medien, die echte Interaktion ermöglichen, können keine Massenmedien sein.
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