"Es gibt keinen sicheren Platz in Kabul"
Zivilisten werden zunehmend zu Opfern, auch von Angriffen des afghanischen Militärs
Anfang vergangenen Monats bombardierte das afghanische Militär mehrere Ziele im Distrikt Dasht-e Archi in der nördlichen Provinz Kunduz. Zum Ziel wurde dabei auch eine Schule, was zu einem Massaker führte. Die genaue Anzahl der Todesopfer war anfangs nicht klar. Menschen aus dem betroffenen Distrikt, der weitgehend unter Taliban-Kontrolle steht, berichteten von Dutzenden zivilen Todesopfern, darunter hauptsächlich Kinder, die an einer Abschlusszeremonie der Koranschule teilnahmen. Teils war auch die Rede von über einhundert Todesopfern. Berichten zufolge kam es zuerst zu Artillerieschüssen, dann zu Luftangriffen. Entsprechende Bilder - nicht alle davon stammten vom Tatort - machten in sozialen Netzwerken schnell die Runde.
Währenddessen verbreitete die Kabuler Regierung ihre eigene Version der Dinge. Ihr zufolge fand der Angriff auf "hochrangige Taliban-Ziele" statt. Demnach seien die meisten Opfer militante Kämpfer und keine Zivilisten gewesen. Diese hätten die Schule als "Treffpunkt" missbraucht. Unter anderem war die Rede von fünfzehn getöteten Taliban-Mitgliedern, darunter pakistanische und tadschikische Staatsbürger.
Des Weiteren veröffentlichte das afghanische Verteidigungsministerium das geschnittene Videomaterial einer Überwachungsdrohne - wahrscheinlich des US-Types Scaneagle - und behauptete, dass auf dem Video hochrangige Taliban-Führer zu sehen seien. Eine dazu gehörige Namensliste wurde von Unterstützern und Mitarbeitern der Kabuler Regierung in soziale Medien verbreitet. Gleichzeitig wollte man von zivilen Opfern nichts wissen.
Während die meisten afghanischen Medien, darunter etwa der Privatsender Tolo, wie gewohnt die Narrative der Regierung übernahmen, wurden kritische Journalisten zum Teil geschmäht, diffamiert und als "Taliban-Propagandisten" abgestempelt.
Augenzeugen aus Dasht-e Archi wurden ebenfalls als "unglaubwürdig" betrachtet. Stattdessen meinten Vertreter von Regierung und Armee, dass diese ihre Aussagen unter Druck seitens der Taliban getätigt hätten. Die Verschwörungstheorien nahmen kein Ende. Tote Kinder wurden entmenschlicht und als "Fake News" betrachtet, während den Taliban gleichzeitig vorgeworfen wurde, sie als "menschliche Schutzschilder" missbraucht zu haben.
UN-Mission widerlegt Behauptung der afghanischen Regierung
Ein neuer Bericht der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat nun allerdings einen großen Beitrag zu geleistet, die Narrative der Kabuler Regierung zu dekonstruieren.
Laut einer Recherche vor Ort, bestehend aus mehr als neunzig Interviews mit Opfern, Augenzeugen, Regierungsvertretern und medizinischem Personal, wurden durch die Angriffe mindestens 36 Menschen getötet sowie 71 weitere verletzt. Die Mehrheit der Opfer, mindestens 81 Personen, sind Kinder gewesen. Die Präsenz von Taliban-Mitgliedern während des Angriffs konnte UNAMA nicht feststellen. Dennoch entsprachen die anfänglichen Beschreibungen des Geschehens, die aus dem Distrikt kamen, den Fakten.
Währenddessen ist das Verhalten der afghanischen Regierung in diesem Kontext nichts Neues. Auch in der Vergangenheit wurde nach Bombenangriffen auf zivile Ziele ähnlich vorgegangen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Luftangriff auf das Krankenhaus von "Ärzte ohne Grenzen" in Kunduz, bei dem ausschließlich Zivilisten getötet wurden. Doch während "Ärzte ohne Grenzen", die UN und andere Organisationen von einem "Kriegsverbrechen" sprachen und detaillierte Berichte vorlegten, behauptete die Kabuler Regierung weiterhin, dass bewaffnete Kämpfer sich im Krankenhaus aufhielten.
Der damalige Angriff wurde von der amerikanischen Luftwaffe ausgeführt, nachdem afghanische Streitkräfte ihn beorderten. Das US-Militär selbst änderte seine Version der Dinge mehrfach und sprach unter anderem von einem "Fehler" (Versehentlich das falsche Gebäude vernichtet).
Man kann praktisch überall sterben
Stattdessen macht auch das jüngste Massaker in Kunduz deutlich, dass Zivilisten immer mehr zu direkten Zielen des Konflikts geworden sind - und zwar von allen Seiten. Ende April wurden allein an einem einzigen Tag in der Hauptstadt Kabul neun Journalisten durch einen gezielten IS-Doppelanschlag getötet. Insgesamt starben durch den Angriff mindestens 29 Zivilisten, 49 weitere wurden verletzt.
Zeitgleich wurde in der östlichen Provinz Khost ein weiterer Journalist getötet. In diesem Fall führen alle Spuren allerdings nicht zu militanten Gruppierungen, sondern zu der Khost Protection Force (KPF), einer lokalen Miliz, die von der CIA gegründet wurde. Bereits in der Vergangenheit wurden Journalisten und andere Zivilisten von der KPF gefangen gehalten, gefoltert oder getötet.
Wenige Tage später fand in Khost ein Anschlag in einer Moschee statt, bei dem mindestens 17 Menschen getötet wurden. In der Moschee registrierten sich Wähler für die anstehenden Parlamentswahlen. Weder der IS noch die Taliban haben sich bis jetzt zu dem Anschlag bekannt.
Die gegenwärtige Sicherheitslage am Hindukusch zeigt auf, dass kein Fleck im Land sicher ist. Man kann praktisch überall sterben. In großen Städten sind Anschläge omnipräsent geworden, während in ländlichen Gebieten weiterhin brutale Militäroperationen stattfinden.
Ein aktueller Bericht vom Human Rights Watch fokussiert sich hierbei auf die steigende Anzahl von Angriffen durch aufständischen Gruppierungen in urbanen Gebieten. Interviews mit Opfern aus den Städten Kabul, Herat und Jalalabad machten deutlich, wie gefährdet das Leben der Menschen ist und wie sehr ihr Alltag von der Gewalt beeinflusst wird. "Es gibt keinen sicheren Platz in Kabul. Du weißt nicht, wo der nächste Angriff stattfindet", meint etwa Mohamamd A., ein Ladenbesitzer aus Kabul gegenüber der Menschenrechtsorganisation. Tatsächlich ist diese Meinung dominierend und wird von vielen Menschen in der Hauptstadt geteilt.
Laut dem UNAMA-Bericht 2017 gab es im vergangenen Jahr eine Höchstzahl von zivilen Opfern durch Selbstmordattentate und sogenannten komplexen Attacken ("complex attacks") seit Beginn der Zählung im Jahr 2009. Insgesamt wurden 2017 über 10.000 Zivilisten durch den Krieg in Afghanistan getötet oder verletzt.
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