Es war keine Granate
Der Untersuchungsbericht der israelischen Armee hat ergeben, dass die sieben Menschen am Strand von Gaza durch keines ihrer Geschosse starben
Die Beweise, die die auf Anordnung von Verteidigungsminister Amir eingesetzte Ermittlungskommission in den vergangenen Tagen zusammen getragen hat, unterstützen die Version des Militärs, dass die Explosion am Strand von Gaza am späten Freitag Nachmittag (vgl. Israelisches Militär bombardiert palästinensische Familie beim Picknick) nicht von einem israelischen Geschoss verursacht wurde. Die Zeit der Detonation, der Krater und einige Überreste des Sprengkörpers sprechen dagegen. Israelische Politiker holen nun zum Gegenschlag aus und werfen den Medien vor, sie hätten bewusst voreilige Schlüsse gezogen. Doch der Kritik am Vorgehen der Armee hat das keinen Abbruch getan.
Am Dienstag Morgen packte die Presseabteilung der israelischen Armee rund 40 internationale Journalisten in einen Bus und fuhr sie nach Sderot, einer armen, von jeder Schönheit verschont gebliebenen Stadt an der Grenze zum Gazastreifen. Die Korrespondenten sahen eine Schule, in die schon seit Wochen kein Kind mehr geht, weil die Eltern in dem Bau aus den 60er Jahren um das Leben ihres Nachwuchses fürchten.
Die Reporter besuchten ein Haus, in das am vergangenen Wochenende eine Kassam-Rakete einschlug, die von jenseits des hohen Grenzzauns abgefeuert worden war, der Israel vor Attentätern schützen soll. Sie sprachen mit dem Mann, der bei dem Einschlag ziemlich schwer verletzt worden war: "Hier haben alle Angst. Wir wollen weg ziehen, aber wir haben dafür kein Geld."
Neben dran standen die Sprecher des Militärs, um bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit, wie so oft während dieser Tour, zu erklären, wie absolut notwendig es sei, alles, aber auch alles zu unternehmen, um den Beschuss zu unterbinden:
Es ist die Aufgabe des Militärs, die Bürger des Staates Israel mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen, und wir nehmen diese Aufgabe mit der größtmöglichen Verantwortung auch gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung wahr.
Erleichterung über erste Ermittlungsergebnisse
In dem Statement, das an diesem Tag so oder anders mehrmals zu hören war, klang die gleiche Erleichterung mit, die auch in den Korridoren der Politik zu hören war: "Glücklicherweise werden wir wohl nicht mehr erklären müssen, warum trotz aller unser technischen Möglichkeiten sieben Unbeteiligte fast einen halben Kilometer vom Schussfeld unserer Artillerie entfernt ums Leben kommen konnten", sagte ein Mitarbeiter des Generalstabs, der die dortige Atmosphäre in den vergangenen Tagen als "einigermaßen panisch" beschrieb.
Nur wenige Stunden nach der Explosion, bei der am Strand von Gaza am späten Freitag Nachmittag sieben Menschen, darunter fünf Mitglieder einer Familie, getötet und 36 zum Teil schwer verletzt worden waren, hatte Verteidigungsminister Amir Peretz eine Sonderkommission eingesetzt: Der Zeitpunkt des letzten Granatenbeschusses um 16.55 Uhr und der Zeitpunkt der Detonation hatten sich nicht gedeckt.
Die Ermittlungsergebnisse, von denen die ersten schon am Montag bekannt wurden, deuten darauf hin, dass es keine israelische Granate war, die am Freitag am Strand einschlug: Zwischen 16.36 Uhr und 16.55 Uhr feuerte nördlich des Gazastreifens eine Artillerie-Einheit insgesamt sechs Geschosse des Kalibers 120 mm bei leichter Windgeschwindigkeit in das Zielgebiet.
Der Verbleib von fünf der Geschosse wurde später belegt; ein Sechstes wird noch gesucht: "Es ist allerdings relativ unwahrscheinlich, dass diese Granate, die ja ein ziemliches Gewicht besitzt und damit recht träge ist, bei einer solch' niedrigen Windgeschwindigkeit dermaßen weit vom Weg abkommen konnte," sagt der Kriminologe Dr. Roger Harris, der unter anderem für die britische Polizei arbeitet: "Allerdings setzt dies voraus, dass die Schussrichtung nicht verändert worden ist."
Ein weiteres Indiz ist allerdings der Einschlagskrater, der eher auf eine Explosion von unten, also zum Beispiel die Detonation einer Mine, als von oben hindeutet: "Ohne Ortsbesichtigung fällt es allerdings schwer, daraus eindeutige Schlüsse zu ziehen," sagt Harris: "Ich befürchte, dass sich auch die israelischen Ermittler dabei nur auf die Analyse der Fernsehbilder stützen konnten."
"Mine, Bombe, eine fehlgeleitete Kassam-Rakete.."
Der wohl wichtigste Beweis sind allerdings Metallteile, die drei Verletzten aus dem Körper gezogen wurden, die in israelischen Krankenhäusern behandelt werden: Sie sind nach Angaben des Militärs von anderer Beschaffenheit als jenes Material, das für die Herstellung der von der Armee verwendeten Granaten verwendet wird. "Wir wissen nicht, was diese Katastrophe verursacht hat, aber wir können mit großer Sicherheit sagen, dass es keines unserer Geschosse war," sagt der Mitarbeiter des Generalstabs: "Mine, Bombe, eine fehlgeleitete Kassam-Rakete - wir können darüber im Moment noch spekulieren."
So nutzten mehrere Politiker in Jerusalem die Nachricht, um zum Gegenschlag gegen die Medien auszuholen: Sie hätten ohne Nachzudenken voreilige Schlussfolgerungen gezogen, beschwerte sich zum Beispiel Zachi HaNegbi von der Regierungspartei Kadima: "Das israelische Militär handelt in schwerem Terrain mit einem Höchstmaß an Respekt für das Leben von Zivilisten - von welcher anderen Armee der Welt kann man das schon sagen?" Und Silwan Schalom vom rechtskonservativen Likud-Block beklagte, den Medien sei es nur darum gegangen, Israel schlecht aussehen zu lassen: "Ihr sucht doch nur nach einer Gelegenheit, uns wie Monster darzustellen," warf er den Journalisten vor.
Entrüstete Reaktionen der israelischen Medien
Aussagen, die von vielen israelischen Medien als "völlig fehl am Platz" (Fernsehsender Kanal 10) und "unangebracht" (Armeeradio) gewertet wurden: "Die Tatsachen sind, dass es einen sehr schwerwiegenden Zwischenfall gegeben hat und dass es purer Zufall war, dass es nicht das israelische Militär war, das an ihm Schuld ist," kommentiert Aluf Benn in der hebräischen Ausgabe der Zeitung HaAretz:
Der Gazastreifen ist eines der dichtbevölkertsten Gebiete der Welt und die Armee feuert Tag für Tag immer dichter an menschliche Behausungen heran - und von Zeit zu Zeit auch mittenrein. Man darf sich nicht wundern, wenn dabei Unbeteiligte ums Leben kommen. Die Schlussfolgerung lag nah, dass die Armee dahinter steckt.
Joel Marciano von der Zeitung Jedioth Ahronoth teilt seine Meinung:
Das Militär verweist immer auf die modernen Technologien, die Waffen unglaublich zielsicher machen sollen. Aber es gibt keine Technik, die verhindern kann, dass Unbeteiligte als menschliche Schutzschilde benutzt werden, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind, dass die immer kompliziertere Technik verrückt spielt, ohne dass es jemandem auffällt, bis es zu spät ist.
Avigail Ben Dror mahnt derweil in der Zeitung MaAriv ein Umdenken in der Verteidigungspolitik an:
Mit Amir Peretz steht zum ersten Mal seit Langem ein Mann ohne militärische Erfahrung an der Spitze des Verteidigungsministeriums. Das wäre eine wunderbare Gelegenheit für eine Überholung der Verteidigungspolitik gewesen, die leider verpasst wurde: Peretz hat seine Generäle gefragt: „Könnt Ihr dafür sorgen, dass der Raketenbeschuss aufhört?". Sie haben geantwortet: „Ja, natürlich. Wir schießen einfach näher an die Häuser ran, wir haben ja die Technik dafür." Jeder neue Verteidigungsminister kommt in den ersten Wochen ins Büro wie ein Kind in das Cockpit eines Flugzeuges: Die Versuchung, auf alle Knöpfe zu drücken, ist groß. Wenn das Flugzeug dabei abstürzt, ist das Wehklagen hinterher groß.
Fatale Folgen
Die Folgen der Explosion sind fatal. Vom Nachrichtensender Al-Dschasira mit dramatischen Bildern in Szene gesetzt, beendete die Hamas direkt danach ihren eineinhalbjährigen einseitigen Waffenstillstand. "Ob es Israel war oder nicht, ist dabei zweitrangig", schreibt Jedioth Ahronoth-Autor Marciano: "Was zählt ist, dass wir es hätten gewesen sein können."
Für die Hamas sei der Zwischenfall ein willkommener Anlass gewesen, ihren bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Seit Präsident Machmud Abbas ein Referendum über das "Dokument der Gefangenen" ausgerufen hat, dass unter anderem einen palästinensischen Staat mit den Waffenstillstandslinien von vor 1967 und damit die indirekte Anerkennung, Israels vorsieht, steht die radikalislamische Organisation mit dem Rücken zur Wand: Sie hofft auf neue Legitimität für ihre Ablehnung jeglicher Kompromisse mit Israel.
An Verteidigungsminister Peretz scheinen diese Entwicklungen allerdings bislang vorüber gegangen zu sein: Am Dienstag beendete er nach drei Tagen ein Moratorium für Luftschläge in dicht besiedelten Gebieten und Granatenbeschuss und ordnete einen Militärschlag auf Kämpfer des Islamischen Dschihad an: Mitten in Gaza feuerte ein Kampfhubschrauber mindestens zwei Raketen ab und töteten damit neun Menschen, darunter auch zwei Kinder. "Wir haben wegen des internationalen Aufschreis über das Ereignis am Strand von Gaza Zurückhaltung gezeigt, aber diese ist nun zu Ende", sagte er wenig später.