Es wird eng für Erdogan
Die Opposition zieht Hunderttausende bei Kundgebungen an, mehr als 600.000 Wahlbeobachter sollen sicherstellen, dass es keine Manipulationen gibt
Es war ein beeindruckendes Bild, als Muharrem Ince, Präsidentschaftskandidat der oppositionellen CHP, am vergangenen Donnerstag seine Wahlkampfkundgebung in Izmir hielt. Hunderttausende waren gekommen um ihm zu lauschen, die CHP sprach gar von Millionen Zuhörern. Ein ähnliches Bild bot sich zwei Tage zuvor bei der zentralen Kundgebung der HDP in Diyarbakir. Beeindruckend, weil man es bislang eher von Auftritten Recep Tayyip Erdogans kannte, dass die Massen fahnenschwenkend und euphorisch die Plätze füllen.
Bei Ince standen die Menschen sogar noch auf den Dächern der umliegenden Gebäude. Es herrschte eine Stimmung wie bei einem Rockkonzert. Erdogan bezeichnete Ince als "müden, einsamen Mann, der keine Träume mehr hat". Eine noch größere Veranstaltung soll heute in Istanbul stattfinden. Die AKP kontrolliert die türkischen Medien, aber es ist die Opposition, die trotz aller Einschüchterungsversuche auf den Straßen und Plätzen des Landes präsent ist.
In einem Interview mit dem WDR stellte Ince die Eckpunkte seiner Kandidatur vor. Demnach will er die Unabhängigkeit der Zentralbank wiederherstellen ebenso wie das Vertrauen in die türkische Wirtschaft, indem er der Korruption den Kampf ansagt - ein Seitenhieb auf Erdogans Korruptionsskandal, der ihn Ende 2013 beinahe zu Fall gebracht hätte, und den er nur durch Säuberungen in Polizei, Staatsanwaltschaft und seinem eigenen Kabinett abwenden konnte.
Außerdem müsse die Justiz wieder unabhängig werden, "ohne Richter, die mit Erdogan zur Teeernte gehen". Den seit fast zwei Jahren andauernden Ausnahmezustand will er umgehend aufheben. Auch eine Wiederannäherung an die EU stellt er in Aussicht und hofft auf eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche, die aufgrund Erdogans repressiver und autoritärer Politik zum Erliegen gekommen sind. "Die Türkei besteht nicht nur aus Erdogan und seinen Freunden", sagt er.
Seine Chancen, diese Pläne auch umsetzen zu können, stehen einen Tag vor der Wahl nicht schlecht. Letzte Umfragen deuten darauf hin, dass die AKP ihre Parlamentsmehrheit verlieren dürfte. Das Sonar-Institut sieht Erdogan bei 47 und Ince bei 33 Prozent der Stimmen, was bedeuten würde, dass beide am 8. Juli in einer Stichwahl gegeneinander antreten würden. Es ist im Gegensatz zu den Vorjahren keineswegs mehr sicher, dass Erdogan diese gewinnt. Zumal offenbar viele Oppositionswähler dem Umfrageinstituten gegenüber schweigen.
Die Repressionen gegen die Opposition setzten sich derweil fort. Auch am Samstag wurden wieder dutzende Mitglieder und Wahlkämpfer der linksliberalen HDP festgenommen. Die kleine Partei wird es den Umfragen zufolge deutlich über die Zehn-Prozent-Hürde schaffen. Da die AKP im Parlament eine Schlappe zu erleiden droht, stellte Erdogan kürzlich sogar in Aussicht, sich auf eine Koalition einzulassen - das hatte er bislang energisch ausgeschlossen gehabt. Seinen Wählern hat er über Jahre wiederholt suggeriert, dass er Koalitionen für schädlich hält. Nun ist er aus der Not heraus sogar im Vorfeld der Wahl bereits ein Bündnis mit der rechtsradikalen MHP eingegangen.
Auch an einer weiteren Front entsteht Druck: Dem Linken-Politiker Andrej Hunko wurde am Donnerstag die Einreise in die Türkei verweigert. Er sollte als Wahlbeobachter der OSZE vor Ort sein. Dasselbe geschah dem Wahlbeobachter Stefan Struck aus Karlsruhe, ein weiterer Wahlbeobachter, wurde festgenommen.
Ein Bündnis der türkischen Oppositionsparteien verkündete allerdings, man wolle am Sonntag insgesamt 600.000 Wahlbeobachter im ganzen Land einsetzen, allein die CHP wolle mindestens zwei in jedem der 180.000 Wahllokale stationieren. Hinzu kommen die Beobachter der OSZE, der zivilen Organisation Oy ve Ötesi und weiterer NGOs. So sollen Manipulationsversuche frühzeitig erkannt und kommuniziert werden, um ein Debakel wie beim Verfassungsreferendum 2017 zu verhindern.